Dokumentiert: Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Matthiae-Mahl am 12. Februar 2016

Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber David Cameron,
sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, lieber Olaf Scholz,
sehr geehrte Mitglieder des Senats und der Hamburgischen Bürgerschaft,
meine Damen und Herren,

ich möchte mich für die Einladung zum diesjährigen Matthiae-Mahl herzlich bedanken. Als gebürtige Hamburgerin fühle ich mich besonders geehrt, an diesem traditionsreichen Mahl bereits zum zweiten Mal teilnehmen zu dürfen. Allerdings bleibt der Rekord unangefochten. Er wird mit vier Einladungen als Ehrengast von Helmut Schmidt gehalten, den wir alle schmerzlich vermissen.

Ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Matthiae-Mahl im Jahr 2009. Dem festlichen Rahmen zum Trotz stand dieses Mahl unter dem Eindruck der weltweiten Finanzkrise. Es folgte die europäische Staatsschuldenkrise. Heute können wir feststellen, dass wir in Europa richtige Schlussfolgerungen aus diesen Krisen gezogen haben. Wir haben sie gemeinsam in den Griff bekommen. Unser Ziel war und ist es, aus Krisen stärker herauszukommen, als wir in solche Krisen hineingegangen sind. Es ging und geht jedes Mal um mehr als nur darum, eine Krise irgendwie zu überstehen, sondern letztlich immer auch darum, dass wir uns im harten globalen Wettbewerb auch in Zukunft mit unseren Werten und Interessen, mit unserer Art zu leben, behaupten können. Das ist, wie sich immer wieder zeigt, alles andere als ein leichtes Unterfangen.

Und doch: Gerade das unterstreicht sehr deutlich, wie grundlegend, ja, wie existenziell wichtig die Fähigkeit der Europäischen Union ist, immer wieder Kompromisse einzugehen und gemeinsame Antworten zu finden. Genau diese Fähigkeit hat die Stärke der Europäischen Union immer ausgemacht, mit welcher Herausforderung auch immer unsere Vorgänger oder wir uns konfrontiert sahen.

Diese Fähigkeit zum Kompromiss und zu gemeinsamen Antworten ist selbstverständlich auch heute gefragt – in einer Zeit, in der so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror Schutz in Europa suchen; und zwar zumeist Menschen, die nicht unendlich weit von Europa entfernt, sondern vor der Haustür Europas, wie zum Beispiel die Menschen in Syrien, lebten. Um diesen Menschen zu helfen und gleichzeitig die Zahl der Flüchtlinge im Vergleich zum vergangenen Jahr spürbar zu reduzieren, gilt es – das kann gar nicht oft genug betont werden –, an den Ursachen der Flucht anzusetzen und diese zu bekämpfen.

Lieber David Cameron, ein Beitrag dazu hat die internationale Syrien-Geberkonferenz in London in der vergangenen Woche geleistet. Sie hat uns zu den notwendigen Mitteln verholfen, mit denen wenigstens die größte Not in Syrien und in den Flüchtlingslagern in den syrischen Nachbarländern gelindert werden kann. Wir haben dafür gesorgt, dass es in diesem Jahr wahrscheinlich und hoffentlich nicht wieder passiert, dass Lebensmittelrationen für eine Person von 30 Dollar auf 13 Dollar pro Monat gekürzt werden müssen, sondern dass wir voller Überzeugung sagen können: Für dieses Jahr sind die Lebensmittelrationen garantiert. Wir haben dafür gesorgt, dass die vielen Kinder unter den Flüchtlingen eine Chance auf Schulbildung haben. Wir haben auch dafür gesorgt, dass viele Flüchtlinge eine Chance auf Arbeit und ein eigenes Einkommen haben, was sie wiederum unabhängiger macht. Deshalb möchte ich dir, lieber David Cameron, noch einmal ganz herzlich für das Engagement für diese Konferenz danken. Ich denke, das Resultat war ein gutes.

Ich bin überzeugt, dass sich die Zahl der Flüchtlinge spürbar verringern lässt, wenn wir mit verschiedenen Maßnahmen – humanitär, entwicklungspolitisch, diplomatisch wie auch militärisch – gegen die Fluchtursachen vor Ort vorgehen. Inwieweit wir dieses Ziel erreichen, wird nicht nur für das weitere Schicksal so vieler leidgeprüfter Menschen entscheidend sein, sondern es wird auch ganz wesentlich bestimmen, ob wir die europäische Errungenschaft der offenen Binnengrenzen langfristig erhalten können oder nicht. Die Freiheit des Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs ist das Lebenselixier unseres Binnenmarktes und damit eine tragende Säule der Europäischen Union. In allen europäischen Ländern würde die Wirtschaft darunter leiden, wenn wir damit anfingen, unsere Grenzen immer undurchlässiger zu machen – schlimmer noch, das wäre ein Konjunkturprogramm für Schlepper- und Schleuserbanden.

Viele sagen mir in diesen Tagen: Es gab auch ein Leben vor Schengen. Ich antworte dann: Ich weiß; es gab auch ein Leben vor der Deutschen Einheit – da waren die Grenzen noch besser geschützt. Aber ob uns so etwas heute im weltweiten Wettbewerb stärken würde und ob wir unsere Vorteile einer Europäischen Union und eines Binnenmarktes kräftigen könnten, diese Frage steht im Raum. Ich beantworte sie ganz klar mit Nein.

Eine tragfähige Antwort auf die Flüchtlingsbewegungen zu finden, das ist und bleibt deshalb eine europäische und natürlich auch globale Aufgabe. Denn seit dem Zweiten Weltkrieg gab es nie so viele Flüchtlinge wie jetzt. Ich weiß, dass der Weg zur Bewältigung dieser Aufgabe mühselig ist. Aber es ist eine Frage der Humanität, eine Frage der ökonomischen Vernunft und eine Frage der Zukunft Europas – eines Europas, dessen Werte und Interessen sich im globalen Wettbewerb behaupten müssen. Unsere Antwort kann nur eine gesamteuropäische Antwort sein. Daran arbeiten wir mit ganzer Kraft.

Meine Damen und Herren, die Fähigkeit zum Kompromiss und zum Zusammenhalt in Europa wird auch in einer anderen, nicht minder wichtigen Frage auf die Probe gestellt – und zwar bei den Anliegen, die unser heutiger Ehrengast, David Cameron, im Namen Großbritanniens an die Europäische Union herangetragen hat. Damit werden wir uns in wenigen Tagen als EU-Staats- und -Regierungschefs befassen. Sie alle kennen meine Überzeugung. Ich wünsche mir, dass das Vereinigte Königreich auch in Zukunft aktives Mitglied in einer erfolgreichen Europäischen Union ist und bleibt. Das ist in unserem deutschen Interesse wie auch im britischen – das darf ich nur ganz leise sagen; denn die Briten werden natürlich selber entscheiden – und vor allen Dingen auch im gesamteuropäischen Interesse.

Denken wir an die Wirtschaftskraft der Europäischen Union, zu der Großbritannien Beträchtliches beiträgt und von der es auch selber profitiert. Denken wir auch an die Offenheit britischen Denkens. Denken wir an die Suche nach Wettbewerbsfähigkeit, an den Abbau von Bürokratie, an das Bekenntnis zum freien Handel. Das alles bringt Großbritannien immer und immer wieder in das Gedankengut der Europäischen Union ein. Denken wir auch an den Einfluss Europas in der Welt, der ohne das außen- und sicherheitspolitische Engagement Großbritanniens erheblich an Gewicht verlieren würde. Denken wir gerade in diesem Kreis nicht zuletzt an die Freundschaft und Verbundenheit zwischen unseren beiden Ländern.

Ganz besonders hier in Hamburg ist die deutsch-britische Verbundenheit zu spüren. Deshalb, Herr Erster Oberbürgermeister – Herr Erster Bürgermeister. Um Gottes Willen; auch das noch. Ich hatte schon den ganzen Abend geübt: Regierender Bürgermeister, Oberbürgermeister, Erster Bürgermeister. Aber na ja. (Heiterkeit) Also: Herr Erster Bürgermeister, herzlichen Dank für diese Einladung.

Hamburg als Hafenstadt und Deutschlands Tor zur Welt versteht sich seit jeher und schon allein aus naheliegenden geografischen Gründen als Brücke zu den britischen Inseln. Über diese Brücke findet ein reger wirtschaftlicher, kultureller und persönlicher Austausch statt. Die engen Beziehungen dürften auch der Grund dafür sein, weshalb sich klassische hanseatische Tugenden kaum von dem unterscheiden, was wir in Deutschland als typische britische Eigenschaften wahrnehmen: Weltoffenheit, Pragmatismus, Aufrichtigkeit und Fairness.

Weil diese hanseatischen Eigenschaften so herausragend sind, erlaube ich mir, am heutigen Abend auch im Einvernehmen mit dem Ersten Bürgermeister anzukündigen, dass Hamburg Gastgeberstadt für das 2017 in Deutschland stattfindende G20-Treffen sein wird. Ich denke, das trifft sich gut mit der Weltoffenheit Hamburgs.

Weil Deutschland und Großbritannien so vieles verbindet, gehört es auch dazu, dass viele Anliegen, die David Cameron an die Europäische Union herangetragen hat, nicht nur aus unserer Sicht nachvollziehbar sind, sondern von uns auch unterstützt werden. So sind wir einer Meinung, wenn es darum geht, in der Europäischen Union deutlich mehr für Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und Bürokratieabbau zu tun. Ich halte es auch für selbstverständlich, dass jeder Mitgliedstaat in der Lage sein muss – wir haben einen Binnenmarkt, aber keine Sozialunion –, seine Sozialsysteme, die eben in die nationale Zuständigkeit fallen, gegen Missbrauch zu schützen. Bei den Anliegen von David Cameron geht es also keineswegs nur um britische Einzelanliegen. Ganz im Gegenteil: Wenn es uns gelingt, diese Anliegen in eine – lassen Sie es mich so sagen – europäische Form zu gießen, dann kann das Europa insgesamt zugutekommen.

Der bisherige Verlauf der Gespräche stimmt mich zuversichtlich, ohne dass ich schon voraussagen könnte, wie viele Stunden ich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag schlafen werde. Aber wir haben von Olaf Scholz ja Gutes darüber gehört, wie der Streit belebt und uns alle voranbringt. Wir sind lösungsorientiert. Ich darf im Übrigen auch darauf hinweisen, dass wir schon oft genug erlebt haben, dass sich die Mitglieder der Europäischen Union einigen konnten, auch wenn es wirklich kritisch war. Es wäre deshalb gar nicht voraussehbar, warum wir es dieses Mal nicht schaffen sollten. Deshalb meine ich, es kann gelingen. Europa braucht Großbritannien; und Großbritannien braucht vielleicht auch Europa – aber damit werden sich die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens beschäftigen –, damit wir im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts für das, was uns so viele Jahre stark gemacht hat, für unsere Werte und Interessen, gemeinsam eintreten können.

Lieber Herr Scholz, ich möchte mich für die Einladung zu genau dieser Zeit in genau diese Stadt ganz herzlich bedanken. Meine Damen und Herren, ich denke, die Tatsache, dass wir hier beim historischen Matthiae-Mahl gemeinsam über die europäische Zukunft in einer Stadt sprechen, die ein Tor zur Welt ist, könnte ein gutes Omen für die nächste Woche und vielleicht auch darüber hinaus sein. Herzlichen Dank.

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