Dokumentiert: Philipp Jenningers Rede 1988 zum Jahrestag der Novemberpogrome

Diese Rede hielt am 10. November 1988 der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger anlässlich des 50. Jahrestags der Novemberpogrome  gegen die Juden im Deutschen Reich. Aufgrund missverständlicher Passagen und der dies unterstreichenden Art des Vortags wird Jenninger zurücktreten müssen.

Meine Damen und Herren! Die Juden in Deutschland und in aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor 50 Jahren. Auch wir Deutschen erinnern uns an das, was sich vor einem halben Jahrhundert in unserem Land zutrug, und es ist gut, daß wir dies in beiden Staaten auf deutschem Boden tun; denn unsere Geschichte läßt sich nicht aufspalten in Gutes und Böses, und die Verantwortung für das Vergangene kann nicht verteilt werden nach den geographischen Willkürlichkeiten der Nachkriegsordnung.

Ich begrüße zu dieser Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag den Herrn Bundespräsidenten und den Herrn Botschafter des Staates Israel. Mein besonderer Gruß gilt an diesem Tag allen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland, vor allem denen, die als unsere Ehrengäste an dieser Gedenkstunde teilnehmen, dem Vorsitzenden und den Mitgliedern des Direktoriums des Zentralrates der Juden in Deutschland und den Vertretern der christlichen Kirchen. Mein herzlicher Gruß und mein Dank gelten auch Ihnen, sehr verehrte Frau Professor Ehre.

Viele von uns haben gestern auf Einladung des Zentralrates der Juden in Deutschland an der Gedenkveranstaltung in der Synagoge in Frankfurt am Main teilgenommen, Heute nun haben wir uns im Deutschen Bundestag zusammengefunden, um hier im Parlament der Pogrome vom 9. und 10. November 1938 zu gedenken, weil nicht die Opfer, sondern wir, in deren Mitte die Verbrechen geschahen, erinnern und Rechenschaft ablegen müssen, weil wir Deutsche uns klarwerden wollen über das Verständnis unserer Geschichte und über Lehren für die politische Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft.

Die Opfer – die Juden überall auf der Welt – wissen nur zu genau, was der November 1938 für ihren künftigen Leidensweg zu bedeuten hatte. – Wissen auch wir es?

Was sich heute vor 50 Jahren mitten in Deutschland abspielte, das hätte es seit dem Mittelalter in keinem zivilisierten Land mehr gegeben. Und, schlimmer noch: Bei den Ausschreitungen handelte es sich nicht etwa um die Äußerungen eines wie immer motivierten spontanen Volkszorns, sondern um eine von der damaligen Staatsführung erdachte, angestiftete und geförderte Aktion.

Die herrschende Partei hatte in Gestalt ihrer höchsten Repräsentanten Recht und Gesetz suspendiert; der Staat selbst machte sich zum Organisator des Verbrechen. An die Stelle von gezielten Gesetzen und Verordnungen, mit deren Hilfe über Jahre hinweg die schleichende Entrechtung der Juden betrieben worden war, trat jetzt der offene Terror. Eine noch immer nach Hunderttausenden zählende Minderheit war zum Freiwild erklärt worden, ihr Hab und Gut der Zerstörungswut eines organisierten Mobs anheimgegeben.

Weit über 200 Synagogen wurden niedergebrannt oder demoliert, jüdische Friedhöfe verwüstet, Tausende von Geschäften und Wohnungen zerstört und geplündert. Rund hundert Juden fanden den Tod, etwa 30 000 wurden in Konzentrationslager verschleppt; viele von ihnen kehrten nicht mehr zurück. Nicht in Zahlen zu fassen waren die menschlichen Qualen, die Drangsalierungen, Demütigungen, Mißhandlungen und Erniedrigungen.

Goebbels, der eigentliche Regisseur der ganzen Aktion, hatte sich insofern in seiner Kalkulation geirrt, als niemand im In- oder Ausland an die Fiktion des „spontanen Volkszorns“ glaubte. Dafür sorgten schon die untätig herumstehenden Polizisten und Feuerwehrleute, die die Synagogen niederbrennen ließen und nur eingriffen, wenn „arisches“ Eigentum in Gefahr geriet.

Die späteren Parteigerichtsverfahren bestätigten denn auch mit zynischer Offenheit, daß die uniformierten SA-Trupps und die anderen Brandstifter und Mörder nur den „Willen der Führung“ in die Tat umgesetzt hatten; bestraft wurden am Ende nur diejenigen, die sich der „Rassenschande“ schuldig gemacht hatten.

Kein Zweifel, die in der Bevölkerung alsbald mit dem Begriff “ Reichskristallnacht“ belegten Ereignisse markierten einen entscheidenden Wendepunkt in der Judenpolitik der NS-Herrscher. Die Zeit der scheinlegalen Verbrämungen des Unrechts ging zu Ende; nun begann der Weg in die systematische Vernichtung der Juden in Deutschland und in weiten Teilen Europas.

Die Bevölkerung verhielt sich weitgehend passiv; das entsprach der Haltung gegenüber antijüdischen Aktionen und Maßnahmen in vorangegangenen Jahren. Nur wenige machten bei den Ausschreitungen mit – aber es gab auch keine Auflehnung, keinen nennenswerten Widerstand. Die Berichte sprechen von Betroffenheit und Beschämung, von Mitleid, ja, von Ekel und Entsetzen. Aber nur ganz vereinzelt gab es Teilnahme und praktische Solidarität, Beistand und Hilfeleistung. – Alle sahen, was geschah, aber die allermeisten schauten weg und schwiegen. Auch die Kirchen schwiegen.

Der Begriff „Reichskristallnacht“ wird heute zu Recht als unangemessen betrachtet. Doch gab er die damals herrschende Stimmungs- und Gefühlslage ziemlich zutreffend wieder: eine Mischung aus Verlegenheit, Ironie und Verharmlosung; vor allem war er Ausdruck peinlichen Berührtseins und der Ambivalenz des eigenen Empfindens angesichts der offen zutage liegenden Verantwortung der Partei- und Staatsführung,

Am 30. Januar 1933 hatten die Nationalsozialisten die Macht im Deutschen Reich übernommen. Die fünfeinhalb Jahre bis zum November 1938 reichten aus, um die in anderthalb Jahrhunderten errungene Gleichstellung der Juden auszulöschen. Es begann mit dem Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933, dem alsbald die Zwangspensionierung jüdischer Staatsbediensteter und noch im selben Jahr erste Berufsverbote für jüdische Künstler und Journalisten folgten. Die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 machten die Juden zu Menschen zweiter Klasse ohne staatsbürgerliche Rechte; mit dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ hielt das unsägliche Delikt der „Rassenschande“ seinen Einzug.

Mit der Ausschaltung aus dem staatlichen und kulturellen Leben gingen immer stärkere Einengungen der beruflichen Betätigungsmöglichkeiten einher, die in Berufsverbote für jüdische Ärzte und Rechtsanwälte, Schauspieler, Makler und Heiratsvermittler mündeten. Ab dem Frühjahr 1938 konzentrierten sich die NS-Herrscher verstärkt auf die „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft – sprich: auf die Enteignung und Ausplünderung der Juden.

Göring war als Beauftragter für den Vierjahresplan unzufrieden mit den Resultaten der Novemberpogrome. Im Gespräch mit Goebbels und Heydrich entfuhr ihm der Satz: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.“ – Doch wie um die Juden auch noch zu verhöhnen, wurde ihnen eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt; die Schäden des Pogroms hatten sie auf eigene Kosten unverzüglich zu beseitigen, die Versicherungsansprüche fielen an den Staat. Gleichzeitig wurden Verordnungen zur völligen Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben ab dem 1. Januar 1939 bekanntgegeben.

Was dann nachfolgte, waren Maßnahmen zum vollständigen Ausschluß der Juden aus der Gesellschaft Ziel war ihre totale Isolierung und völlige Verbannung aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Für alle, denen die Möglichkeit versperrt blieb, durch Auswanderung dem Regime zu entkommen, war der Rest des Weges vorgezeichnet: Judenstern, Ghetto, Deportation, Zwangsarbeit – und dann Vernichtung.

Im Rückblick wird deutlich, meine Damen und Herren, daß zwischen 1933 und 1938 tatsächlich eine Revolution In Deutschland stattfand – eine Revolution, in der sich der Rechtsstaat in einen Unrechts- und Verbrechensstaat verwandelte, in ein Instrument zur Zerstörung genau der rechtlichen und ethischen Normen und Fundamente, um deren Erhaltung und Verteidigung es dem Staat – seinem Begriffe nach eigentlich gehen sollte.

Am Ende dieser Revolution war die NS-Herrschaft entscheidend gefestigt und war im Rechtsbewußtsein der Menschen weit mehr vernichtet worden, als es nach außen hin erkennbar sein mochte.

Deutschland hatte Abschied genommen von allen humanitären Ideen, die die geistige Identität Europas ausmachten; der Abstieg in die Barbarei war gewollt und vorsätzlich. Zu denen, die dafür das theoretische Rüstzeug lieferten, zählte Roland Freisler, damals Staatssekretär im Reichsjustizministerium. Grundlage des neuen deutschen Rechtes war laut Freisler „die durch die nationalsozialistische Revolution gewandelte deutsche Lebensanschauung … Das Rechtswollen des Volkes äußert sich autoritativ in den Kundgebungen des Willensträgers des Volkes“, so sagte er, „des Führers. Wenn der Führer außerhalb der Gesetze Grundsätze rechtlichen Inhalts mit dem Willen nach Geltung und der Forderung nach Beachtung äußert, so ist das eine ebenso unmittelbare Rechtserkenntnisquelle wie das Gesetz. Hierher gehört vor allem das Parteiprogramm der NSDAP.“ So weit Freisler.

Das hieß schlicht: Die Rechtsprechung hatte der NS-Ideologie zu folgen, denn das Wort des Führers war Gesetz.

Für das Schicksal der deutschen und europäischen Juden noch verhängnisvoller als die Untaten und Verbrechen Hitlers waren vielleicht seine Erfolge. Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt.

Wiedereingliederung der Saar, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, massive Aufrüstung, Abschluß des deutsch-britischen Flottenabkommens, Besetzung des Rheinlandes, Olympische Sommerspiele in Berlin, „Anschluß“ Österreichs und „Großdeutsches Reich“ und schließlich, nur wenige Wochen vor den Novemberpogromen, Münchener Abkommen, Zerstückelung der Tschechoslowakei – der Versailler Vertrag war wirklich nur noch ein Fetzen Papier und das Deutsche Reich mit einem Mal die Hegemonialmacht des alten Kontinents.

Für die Deutschen, die die Weimarer Republik überwiegend als eine Abfolge außenpolitischer Demütigungen empfunden hatten, mußte dies alles wie ein Wunder erscheinen. Und nicht genug damit: aus Massenarbeitslosigkeit war Vollbeschäftigung, aus Massenelend so etwas wie Wohlstand für breiteste Schichten geworden. Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird?

Sicher, meine Damen und Herren, in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht. Aber wer wollte bezweifeln, daß 1938 eine große Mehrheit der Deutschen hinter ihm stand, sich mit ihm und seiner Politik identifizierte? Gewiß, einige „querulantische Nörgler“ wollten keine Ruhe geben und wurden von Sicherheitsdienst und Gestapo verfolgt, aber die meisten Deutschen und zwar aus allen Schichten: aus dem Bürgertum wie aus der Arbeiterschaft – dürften 1938 überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer Geschichte erblicken zu sollen.

Und noch eines darf nicht übersehen werden: Alle die staunenerregenden Erfolge Hitlers waren insgesamt und jeder für sich eine nachträgliche Ohrfeige für das Weimarer System. Und Weimar war ja nicht nur gleichbedeutend mit außenpolitischer Schwäche, mit Parteiengezänk und Regierungswechseln, mit wirtschaftlichem Elend, mit Chaos, Straßenschlachten und politischer Unordnung im weitesten Sinne, sondern Weimar war ja auch ein Synonym für Demokratie und Parlamentarismus, für Gewaltenteilung und Bürgerrechte, für Presse- und Versammlungsfreiheit und schließlich auch für ein Höchstmaß jüdischer Emanzipation und Assimilation.

Das heißt, Hitlers Erfolge diskreditierten nachträglich vor allem das parlamentarisch verfaßte, freiheitliche System, die Demokratie von Weimar selbst. Da stellte sich für sehr viele Deutsche nicht einmal mehr die Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoß vielleicht in einzelnen Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar wieder groß, ja, größer und mächtiger als je zuvor. – Hatten nicht eben erst die Führer Großbritanniens, Frankreichs und Italiens Hitler in München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht für möglich gehaltenen Erfolge verholfen?

Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals -, die ihnen nicht zukam? Mußten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda – abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden Übertreibungen – nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?

Und wenn es gar zu schlimm wurde, wie im November 1938, so konnte man sich mit den Worten eines Mitgenossen ja immer noch sagen: „Was geht es uns an“! Seht weg, wenn euch graust. Es ist nicht unser Schicksal.“

Meine Damen und Herren, Antisemitismus hatte es in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern auch – lange vor Hitler gegeben. Seit Jahrhunderten waren die Juden Gegenstand kirchlicher und staatlicher Verfolgung gewesen; der von theologischen Vorurteilen geprägte Antijudaismus der Kirchen konnte auf eine lange Tradition zurückblicken.

Um so dankbarer sind wir heute, daß die christlichen Konfessionen und die Juden seit dem Ende des Krieges zum Dialog gefunden haben und ihn offen und freundschaftlich miteinander führen.

Es gab auch andere Beispiele in der Geschichte: Preußen etwa, das nicht nur für französische Hugenotten, salzburgische Protestanten und schottische Katholiken, sondern eben auch für viele verfolgte Juden zur neuen Heimstatt wurde. Praktisch bis zu Hitlers Machtübernahme zeigte sich der deutsche Antisemitismus eher verhalten gegenüber der in Ost- und Südosteuropa herrschenden militanten Judenfeindschaft. Wohl nicht zufällig erschien zehn Jahre vor der französischen Revolution Lessings „Nathan der Weise“, und über Kaiserreich und Republik hinweg hielten die staatlichen Institutionen – getreu den Ideen des aufgeklärten Absolutismus – an der Emanzipation und Assimilation der Juden fest.

Ein anderer Aspekt ist noch. daß sich der deutsche Nationalismus in spezifischer Weise von dem Nationalismus anderer Länder unterschied. Aus Gründen, die hier nicht zu untersuchen sind, war die parlamentarische, liberale und demokratische Komponente eher unterentwickelt, während auf der gemeinsamen Herkunft und Abstammung, auf der gemeinsamen Geschichte, auf dem „Deutsch-Sein“ besondere Betonung lag. Dies zeigte sich nach den napoleonischen Kriegen ebenso wie 1949/49 und erst recht im Kaiserreich.

Die Folge war – nach außen – ein zunehmend aggressives Nationalbewußtsein bei gleichzeitiger Hinnahme obrigkeitsstaatlicher Strukturen im Innern, wo sich die Aggressivität gegen damalige Minderheiten wie Katholiken, Sozialisten und Juden richtete. Manche Historiker haben deshalb auch beklagt, daß es in der deutschen Geschichte an einer Revolution oder wenigstens an einer allgemeinen revolutionären Hinwendung zur Demokratie und zu den individuellen Menschenrechten gefehlt habe. Thomas Mann sprach einmal bissig vom „militanten Knechtssinn“ der Deutschen, in denen sich „Hochmut mit Zerknirschung“ paare.

Andere Dinge traten hinzu. Die rasante Industrialisierung und Verstädterung insbesondere nach 1871 führte zu einem weitverbreiteten, diffusen Unbehagen an der Moderne überhaupt. Gerade in diesem Umwälzungsprozeß, der von vielen Menschen als bedrohlich empfunden wurde, spielten die Juden eine ganz herausgehobene, oftmals glänzende Rolle: in der Industrie, im Bankenwesen und Geschäftsleben, unter Ärzten und Rechtsanwälten, im gesamten kulturellen Bereich wie in den modernen Naturwissenschaften. Das weckte Neid und Inferioritätskomplexe, und die Zuwanderung von Juden aus dem Osten wurde mit äußerstem Mißfallen beobachtet.

Der Kapitalismus und die Großstädte mit ihren unvermeidlichen Begleitumständen – das erschien ebenso „undeutsch“ wie das prominente Engagement von Juden in liberalen und sozialistischen Gruppierungen.

Eine Flut von Schriften und Traktaten befaßte sich mit der angeblich verderblichen Rolle „des“ Juden, und neben unbekannten Autoren und bekannten, wie Gobineau und Chamberlain, waren es eben auch Größen des deutschen Geistes- und Kulturlebens, wie Heinrich von Treitschke und Richard Wagner, die das antijüdische Ressentiment salonfähig machten. Die Juden wurden zu gesellschaftlich erlaubten Haßobjekten.

Als besonders verhängnisvoll erwies sich die Instrumentalisierung der Darwinschen Lehre durch die Propagandisten des Antisemitismus. Hier war endlich das Rüstzeug, um dem Geraune von der jüdischen Weltverschwörung und dem ewigen Kampf der Rassen ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen; hier das Gesunde, Starke, Nützliche, dort das Krankhafte, Minderwertige, Schädliche, die jüdische „Verwesung“, das “ Ungeziefer“, von dem es sich durch „Ausmerzung“ und „Vernichtung“ zu befreien galt.

Hitlers sogenannter „Weltanschauung“ fehlte jeder originäre Gedanke. Alles war schon vor ihm da: der zum biologistischen Rassismus gesteigerte Judenhaß ebenso wie der Affekt gegen die Moderne und die Utopie einer ursprünglichen, agrarischen Gesellschaft, die zu ihrer Verwirklichung des „Lebensraumes“ im Osten bedurfte. Sein eigener Beitrag bestand außer in der weiteren Vergröberung, Vereinfachung und Brutalisierung des von anderen übernommenen Weltbildes im wesentlichen in der fanatischen Besessenheit und massenpsychologischen Begabung, mit der er sich selbst zum wichtigsten Propagandisten und Programmatiker des Nationalsozialismus emporhob.

Waren die Juden in früheren Zeiten für Seuchen und Katastrophen, später für wirtschaftliche Not und „undeutsche“ Umtriebe verantwortlich gemacht worden, so sah Hitler in ihnen die Schuldigen für schlechthin alle Übel: sie standen hinter den „Novemberverbrechern“ des Jahres 1918, den „Blutsaugern“ und „Kapitalisten“, den „Bolschewisten“ und „Freimaurern“, den „Liberalen“ und „Demokraten“, den „Kulturschändern“ und „Sittenverderbern“, kurz sie waren die eigentlichen Drahtzieher und Verursacher allen militärischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Unglücks, das Deutschland heimgesucht hatte.

Die Geschichte reduzierte sich auf einen Kampf der Rassen; zwischen Ariern und Juden, zwischen germanischen „Kulturspendern“ und jüdischen „Untermenschen“. Die Rettung für das deutsche Volk und die endgültige Niederwerfung des Menschheitsverderbers konnten nur in der Erlösung der Welt vom jüdischen Blut als dem bösen Prinzip der Geschichte liegen.

Das Gegenbild war der Krieger und Bauer, der in den Weiten des Ostens im steten Kampf gegen asiatische Horden die Grenzen des germanischen Kulturlandes immer weiter ausdehnte und gleichzeitig mittels Zucht und Veredelung die germanische Rasse in einsame Höhen hinaufmendelte. – Noch als anderswo am Bau der Atombombe gearbeitet wurde, verkündeten Himmler und andere diese an Idiotie grenzenden Vorstellungen mit der ermüdenden Eintönigkeit von Geisteskranken.

Gleiches galt für Hitlers Zwangsvorstellung des schwarzhaarigen, hakennasigen Juden, der die weiße, blondgelockte germanische Frau mit seinem Blut schändet und damit für immer ihrem Volk raubt. Schon in „Mein Kampf“ findet sich wieder und wieder diese Wahnvorstellung, die sich in einer endlosen Litanei über „Unzucht“ und „Bastardisierung“, „Vergewaltigung“ und „Blutschande“ bis in sein Testament hinein fortsetzt.

Das Elend der Kindheit, die Demütigungen der Jugend, die ruinierten Träume des gescheiterten Künstlers, die Deklassierung des stellungs- und obdachlosen Herumtreibers und die Obsessionen des sexuell Gestörten – das alles fand in Hitler ein Ventil: seinen unermeßlichen und niemals endenden Haß auf die Juden. Der Wunsch, zu demütigen, zu schlagen, auszutilgen und zu vernichten, beherrschte ihn bis zum letzten Augenblick.

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion bot sich die Möglichkeit, beides miteinander zu verbinden: die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten und die schon am 30. Januar 1939 öffentlich angedrohte „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. Bereits im Vorfeld des Ostfeldzuges zeichnete sich – Stichworte „Kommissarbefehl“ und „Einsatzgruppen“ – ein gigantisches Morden ab, das selbst das, was zuvor in Polen geschehen war, weit in den Schatten stellen mußte. In den Monaten nach dem 22. Juni 1941 werden unter dem Vorwand der Partisanen- und Bandenbekämpfung Hunderttausende jüdischer Männer, Frauen und Kinder von hinter der Front tätigen Einsatzgruppen erschossen. Die „Endlösung“ hat begonnen – lange bevor sie am 20. Januar 1942 auf der „Wannsee-Konferenz“ aktenkundig wird.

In der Folge entstehen die Fabriken des Todes; aus den „Gaswagen“ werden Gaskammern und Verbrennungsöfen, während die Erschießungen weitergehen. Den unschuldigen Opfern wird selbst der Scharfrichter verweigert; die Täter ersetzen den Henker durch die ins Monströse gesteigerten, industrialisierten Methoden des Kammerjägers – getreu ihrer Sprache, es gelte „Ungeziefer auszutilgen“.

Und auch vor diesem letzten, schrecklichsten wollen wir am heutigen Tag nicht die Augen verschließen.

Von Dostojewski stammt der Satz: „Wenn Gott nicht existierte, wäre alles erlaubt.“ Wenn es keinen Gott gibt, so ist alles relativ und imaginär, da vom Menschen gemacht. Dann gibt es keine Wertordnung, keine verbindlichen Moralgesetze, keine Verbrechen, keine Schuld, keine Gewissensbisse. Und da denjenigen. die um dieses Geheimnis wissen, alles erlaubt ist, hängen ihre Handlungen allein von ihrem Willen ab. Sie sind frei, sich über alle Gesetze und moralischen Werte hinwegzusetzen.

Dostojewski hat diesen Gedanken – der später bei Nietzsche wiederkehrt – in mehreren seiner Werke auf seine Konsequenzen für das Individuum wie für das Zusammenleben der Menschen, für die Gesellschaft untersucht. Was seinen Zeitgenossen als abseitige Spekulation eines religiösen Grüblers erscheinen mochte, erwies sich als prophetische Vorwegnahme der politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts.

Hören wir dazu einen Augenzeugen, der deutschen Wirklichkeit des Jahres 1942:

Die von den Lastwagen abgestiegenen Menschen, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, mußten sich auf Aufforderung eines SS-Mannes, der in der Hand eine Reif- oder Hundepeitsche hielt, ausziehen und ihre Kleider nach Schuhen, Ober- und Unterkleidern getrennt an bestimmten Stellen ablegen … Ohne Geschrei oder Weinen zogen sich diese Menschen aus, standen in Familiengruppen beisammen, küßten und verabschiedeten sich und warteten auf den Wink eines anderen SS-Mannes, der an der Grube stand und ebenfalls eine Peitsche in der Hand hielt. …
Ich beobachtete eine Familie von etwa acht Personen. einen Mann und eine Frau, beide von ungefähr 50 Jahren, mit deren Kindern, so ungefähr 1-, 8- und 10-jährig, sowie zwei erwachsene Töchter von 20 bis 24 Jahren. Eine alte Frau mit schneeweißem Haar hielt das einjährige Kind auf dem Arm und sang ihm etwas vor und kitzelte es. Das Kind quietschte vor Vergnügen. Das Ehepaar schaute mit Tränen in den Augen zu. Der Vater hielt an der Hand einen Jungen von etwa 10 Jahren, sprach leise auf ihn ein. Der Junge kämpfte mit den Tränen. Der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel, streichelte ihn über den Kopf und schien ihm etwas zu erklären. Da rief schon der SS-Mann an der Grube seinem Kameraden etwas zu. Dieser teilte ungefähr 20 Personen ab und wies sie an, hinter den Erdhügel zu gehen …
Ich ging um den Erdhügel herum und stand vor einem riesigen Grab. Dicht aneinandergepreßt lagen die Menschen so aufeinander, daß nur die Köpfe zu sehen waren. Von fast allen Köpfen rann Blut über die Schultern. Ein Teil der Erschossenen bewegte sich noch. Einige hoben ihre Arme und drehten den Kopf, um zu zeigen, daß sie noch lebten. Die Grube war bereits dreiviertel voll. Nach meiner Schätzung lagen darin bereits ungefähr 1 000 Menschen. Ich schaute mich nach dem Schützen um. Dieser, ein SS-Mann, saß am Rand der Schmalseite der Grube auf dem Erdboden, ließ die Beine in die Grube herabhängen, hatte auf seinen Knien eine Maschinenpistole liegen und rauchte eine Zigarette. Die vollständig nackten Menschen gingen an einer Treppe, die in die Lehmwand der Grube gegraben war, hinab, rutschten über die Köpfe der Liegenden hinweg bis zu der Stelle, die der SS-Mann anwies. Sie legten sich vor die toten oder angeschossenen Menschen, einige streichelten die noch Lebenden und sprachen leise auf sie ein. Dann hörte ich eine Reihe Schüsse. Ich schaute in die Grube und sah, wie die Körper zuckten oder Köpfe schon still auf den vor ihnen liegenden Körpern lagen …
Schon kam die nächste Gruppe heran, stieg in die Grube hinab, reihte sich an die vorherigen Opfer an und wurde erschossen.

Dazu sagte der Reichsführer SS in seiner Rede vor SS-Gruppenführern in Posen im Oktober 1943:

Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden …
Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – „Das jüdische Volk wird ausgerottet“, sagt ein jeder Parteigenosse, „ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.“ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1 000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhme sblatt unserer Geschichte …
Insgesamt können wir sagen, daß wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk erfüllt haben. Und wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen.
Wir sind ohnmächtig angesichts dieser Sätze, wie wir ohnmächtig sind angesichts des millionenfachen Untergangs. Zahlen und Worte helfen nicht weiter. Das menschliche Leid ist nicht rückholbar; und jeder einzelne, der zum Opfer wurde, war für die Seinen unersetzlich. So bleibt ein Rest, an dem alle Versuche scheitern, zu erklären und zu begreifen.
Das Kriegsende 1945 bedeutete für die Deutschen in mehrfacher Hinsicht einen tiefen Schock. Die Niederlage war total, die Kapitulation bedingungslos. Alle Anstrengungen und Opfer waren sinnlos gewesen. Zu der entsetzlichen Wahrheit des Holocaust trat die vielleicht bis heute nicht völlig verinnerlichte Erkenntnis, daß die Planung des Krieges im Osten und die Vernichtung der Juden unlösbar miteinander verbunden gewesen waren, daß das eine ohne das andere nicht möglich gewesen wäre.

Die Deutschen waren auf ihre bare Existenz zurückgeworfen; niemand wußte angesichts Millionen Toter und der zerbombten Städte sowie der Millionen, die flüchten mußten, wie es weitergehen sollte. Alle Werte, an die man geglaubt hatte, alle Tugenden und Autoritäten waren kompromittiert. Die Abkehr von Hitler erfolgte beinahe blitzartig; die zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reichs“ erschienen bald wie ein Spuk. Darin äußerte sich gewiß nicht nur die vollständige Desillusionierung hinsichtlich der Methoden und Ziele des Nationalsozialismus, sondern auch die Abwehr von Trauer und Schuld, der Widerwille gegen eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Die rasche Identifizierung mit den westlichen Siegern förderte die Überzeugung, letzten Endes – ebenso wie andere Völker – von den NS-Herrschern nur mißbraucht, „besetzt“ und schließlich befreit worden zu sein. – Auch dies gehörte zu den Grundlagen, auf denen eine ungeheure Wiederaufbauleistung das von der Welt ungläubig bestaunte deutsche Wirtschaftswunder hervorbrachte.

Man kann solche Verdrängungsprozesse, meine Damen und Herren, heute mit einleuchtenden Gründen kritisieren, und wir tun gut daran, diese Kritik ernsthaft und vorbehaltlos zu bedenken. Moralische Überheblichkeit führt dabei allerdings nicht weiter.

Vielleicht konnte das deutsche Volk in der heillosen Lage des Jahres 1945 gar nicht anders angesichts der großen Not, des Hungers, der Trümmer reagieren, und vielleicht überfordern wir uns rückblickend auch selbst in unseren Ansprüchen an die damalige Zeit.

Heute, meine Damen und Herren, stellen sich für uns alle Fragen im vollen Wissen um Auschwitz. 1933 konnte sich kein Mensch ausmalen, was ab 1941 Realität wurde. Aber eine über Jahrhunderte gewachsene Judenfeindschaft hatte den Nährboden bereitet für eine maßlose Propaganda und für die Überzeugung vieler Deutscher, daß die Existenz der Juden tatsächlich ein Problem darstellte, daß es so etwas wie eine „Judenfrage“ wirklich gab. Die zwangsweise Umsiedlung aller Juden – etwa nach Madagaskar, wie von den NS-Herrschern vorübergehend erwogen wäre damals vermutlich auf Zustimmung gestoßen.

Es ist wahr, daß die Nationalsozialisten große Anstrengungen unternahmen, die Wirklichkeit des Massenmordes geheimzuhalten. Wahr ist aber auch, daß jedermann um die Nürnberger Gesetze wußte, daß alle sehen konnten, was heute vor 50 Jahren in Deutschland geschah, und daß die Deportationen in aller Öffentlichkeit vonstatten gingen. Und wahr ist, daß das millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler einzelner bestand, daß das Wirken der Einsatzgruppen nicht nur in der Wehrmacht, sondern auch in der Heimat Gegenstand im Flüsterton geführter Gespräche war. Unser früherer Kollege Adolf Arndt hat 20 Jahre nach Kriegsende in diesem Haus den Satz gesprochen: „Das Wesentliche wurde gewußt.“

Schließlich hatten doch die Machthaber dies geplant. Am Ende standen die Juden allein. Ihr Schicksal stieß auf Blindheit und Herzenskälte.

Viele Deutsche ließen sich vom Nationalsozialismus blenden und verführen. Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern. Die Frage der Schuld und ihrer Verdrängung muß jeder für sich selbst beantworten.

Wogegen wir uns aber gemeinsam wenden müssen, das ist das Infragestellen der historischen Wahrheit. das Verrechnen der Opfer, das Ableugnen der Fakten. Wer Schuld aufrechnen will, wer behauptet, es sei doch alles nicht so – oder nicht ganz so – schlimm gewesen, der macht schon den Versuch, zu verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gibt.

Solche Bemühungen laufen nicht nur tendenziell auf eine Verleugnung der Opfer hinaus – sie sind auch ganz sinnlos. Denn was immer in der Zukunft geschehen oder von dem Geschehenen in Vergessenheit geraten mag: An Auschwitz werden sich die Menschen bis an das Ende der Zeiten als eines Teil unserer deutschen Geschichte erinnern.

Deshalb ist auch die Forderung sinnlos, mit der Vergangenheit endlich Schluß zu machen. Unsere Vergangenheit wird nicht ruhen, sie wird auch nicht vergehen. Und zwar unabhängig davon, daß die jungen Menschen eine Schuld gar nicht treffen kann. Renate Harpprecht, eine Überlebende von Auschwitz, hat dazu gesagt:

Man kann sich sein Volk nicht aussuchen. Ich habe mir damals manchmal gewünscht, nicht Jüdin zu sein, dann bin ich es aber in sehr bewußter Weise geworden. Die jungen Deutschen müssen akzeptieren, daß sie Deutsche sind – aus diesem Schicksal können sie sich nicht davonstehlen.

Sie wollen sich, meine Damen und Herren, auch nicht davonstehlen. Sie wollen vielmehr von uns wissen, wie es dazu kam, wie es dazu kommen konnte. So nimmt die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen trotz des wachsenden zeitlichen Abstandes zu den Ereignissen nicht ab, sondern gewinnt an Intensität. Auch für die Psyche eines Volkes gilt, daß die Verarbeitung des Vergangenen nur in der schmerzlichen Erfahrung der Wahrheit möglich ist. Diese Selbstbefreiung in der Konfrontation mit dem Grauen ist weniger quälend als seine Verdrängung.

„Aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen, ist das Verlangen vieler. Schon zu erkennen, was war, um zu verstehen, was ist, und zu erfassen, was sein wird, das scheint doch die Aufgabe zu sein, die der Geschichtserkenntnis zugeschrieben wird. „Diese Sätze schrieb im Mai 1946 Leo Baeck, der dem Tod im Konzentrationslager Theresienstadt entronnen war.

Meine Damen und Herren, die Erinnerung wachzuhalten und die Vergangenheit als Teil unserer Identität als Deutsche anzunehmen – dies allein verheißt uns Älteren wie den Jüngeren Befreiung von der Last der Geschichte.

„Europa wird vom Gehirn gehalten, vom Denken, aber der Erdteil zittert, das Denken hat seine Sprünge“ – so hat Gottfried Benn am Ende des Krieges geschrieben. Heute liegen diese Sprünge als klaffende Risse bloß.

Vor dem Hintergrund der katastrophalen Irrwege unserer neueren Geschichte erwächst uns fast notwendig eine besondere ethische Verantwortung eine neue Ethik der „Zukunftsverantwortung“, wie sie uns Hans Jonas, der Friedenspreisträger de. Deutschen Buchhandels von 1987 und selbst Jude, lehrt.

Im Zeitalter der Großtechnik, der Massengesellschaft und des Massenkonsums ist nicht nur die Bedrohung des einzelnen, sondern der Menschheit insgesamt gewachsen. Eine Bedrohung, die unseren Lebensbedingungen gelten kann, die aber auch die Wertgrundlagen der irdischen Daseinsordnung überhaupt in Frage zu stellen vermag.

Diese Bedrohung manifestiert sich in doppelter Hinsicht: einerseits in einem Katastrophenpotential – wie in einem möglichen Atomkrieg, aber auch der schleichenden Umweltzerstörung – und zum anderen in einem Manipulationspotential, das etwa durch ein genetisches Umkonditionieren unserer Natur, aber auch durch großbürokratische Herrschaftsformen zur ethischen Entmündigung des Menschen führen kann.

Beides fordert unsere Wachsamkeit heraus, eine Wachsamkeit im Gebrauch menschlicher Macht, die sich der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen ebenso bewußt ist wie dessen, was der Mensch dem Menschen im Geist zügellosen und fanatischen Machtmißbrauches anzutun fähig war.

Auf den Fundamenten unseres Staates und unserer Geschichte gilt es eine neue moralische Tradition zu begründen, die sich in der humanen und moralischen Sensibilität unserer Gesellschaft beweisen muß.

Nach außen bedeutet dies die Pflicht zur kollektiven Friedensverantwortung, zur aktiven Befriedung der Welt. Dazu gehört für uns auch das Existenzrecht des jüdischen Volkes in gesicherten Grenzen. Es bedeutet die systemöffnende Kooperation zwischen West und Ost. Und es bedeutet eine Garantenpflicht für das überleben der Dritten Welt.

Nach innen bedeutet es Offenheit und Toleranz gegenüber dem Mitmenschen ungeachtet seiner Rasse, seiner Herkunft, seiner politischen Überzeugung. Es bedeutet die unbedingte Achtung des Rechts. Es bedeutet Wachsamkeit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit. Und es bedeutet das kompromißlose Eintreten gegen jede Willkür, gegen jeden Angriff auf die Würde des Menschen.

Dies ist das Wichtigste: Lassen wir niemals wieder zu, daß unserem Nächsten die Qualität als Mensch abgesprochen wird. Er verdient Achtung; denn er trägt wie wir ein menschliches Antlitz.

Eine Antwort auf „Dokumentiert: Philipp Jenningers Rede 1988 zum Jahrestag der Novemberpogrome“

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.