Gastbeitrag: Kein Licht am Ende des Tunnels

Ein Gastbeitrag zur #allesdichtmachen Diskussion.

Ein Disclaimer voran: Es ist richtig, dass der Staat sogenannte nicht pharmazeutische Maßnahmen ergreift, um seine Bürger vor der Ansteckung mit einem gefährlichen Virus zu schützen (siehe dazu in meinem Blog „Der Corona-Staat“). Es ist auch tolerabel, dass diese Maßnahmen anfangs mehr oder weniger zweckmäßig sind, weil nun einmal das Wissen fehlt. Das alles dürften auch die Akteure von #allesdichtmachen nicht bestreiten.
Aber: Wir befinden uns nicht mehr am Anfang der Pandemie. Und was uns alle verbindet zurzeit, ist die fehlende Perspektive.

Wo stehen wir heute?

In dieser Woche wurde mit der „Notbremse“ ein Bundesgesetz beschlossen, das für die gesamte Republik einen Rahmen vorgibt, welche Maßnahmen bei welcher Inzidenz getroffen werden müssen. Seit heute gilt daher auch in meinem Landkreis eine nächtliche Ausgangssperre. Für die allermeisten Menschen hier auf dem Land ändert sich dadurch genau nichts, der Einfluss auf das Infektionsgeschehen wird dementsprechend vermutlich gleich Null sein. Eine Studie der Uni Gießen zu den bisherigen Ausgangssperren in Hessen stützt meine Vermutung. Die Regelungen zu den Schulen sind hier in meinem Bundesland strenger, als die „Notbremse“ vorsieht. Wie man hört, ist der Inzidenzwert von 165, ab dem die Schulen zu schließen sind, relativ willkürlich festgelegt worden. Es gibt keinen guten – sagen wir: epidemiologischen – Grund, warum man sich für diesen Wert entschieden hat. Seit Mitte Dezember lernen meine Kinder zu Hause, von der Jüngsten abgesehen, die noch in der Grundschule ist und zweimal in der Woche in die Schule darf, seit Montag nur mit negativem Schnelltest-Ergebnis. Seit Dienstag dieser Woche gibt es endlich auch eine Schnelltestpflicht für Arbeitgeber. Ab Sonntagnacht gilt endlich eine Quarantänepflicht für Reisende aus Indien, wo sich eine neue Corona-Virus-Mutation ausbreitet. Warum hat das so lange gedauert, das zu entscheiden? Die ersten Nachweise dieser Mutation in Deutschland gab es bereits im März. Es ist diese Mischung von harschen Maßnahmen auf der einen Seite und der Eindruck von Ignoranz in anderen Bereichen. Maßgabe scheint zu sein: Was sich durchsetzen lässt, wird gemacht, aber nicht das, was sinnvoll ist. Die Kriterien sind jedenfalls nicht transparent.

Intransparent ist auch die Ursachenforschung: Die Zahlen zu den Ansteckungsorten, die das RKI nennt, geben das wieder, was die Gesundheitsämter erfassen. Die Angaben beruhen aber lediglich auf Selbstauskünften der Betroffenen. Ich kann mich noch erinnern, als ich vor Jahren eine meldepflichtige Durchfallerkrankung hatte, wurde ich auch gefragt, wo ich mich wohl angesteckt habe. Da ich weder rohes Geflügel noch schlechten Nudelsalat gegessen hatte, war meine Vermutung: Schmierinfektion bei einer Bahnfahrt (an die eklige Zugtoilette konnte ich mich noch gut erinnern). Aber wie valide ist so eine Vermutung, die noch dazu durch subjektive Erinnerungen gefärbt ist? Das kann man doch vergessen! Kurzum: Wir haben nach einem Jahr Pandemie immer noch keine gute Datenbasis, um uns vernünftige Maßnahmen zu überlegen. Und das nervt einfach!

Wir erleben jetzt seit Monaten ein unwürdiges Geschacher um R-Werte, Inzidenzen und andere Kennzahlen. Viele Menschen in meinem Umfeld geben sich auch nicht mehr die Mühe, sich zu informieren, was jetzt gerade gilt oder nicht. Auf Twitter ist für diese Stimmung der Begriff „mütend“ geprägt geworden: eine Mischung aus „müde“ und „wütend“. Wir erleben, dass unser politisch-bürokratischer Komplex zu schwerfällig ist, um gut in dieser Krise zu funktionieren. Wir erleben, wie Eigeninteressen das Handeln politischer Akteure dominieren. Und wir erleben, wie andere Länder, darunter auch Demokratien, bereits wieder zur Normalität zurückgekehrt sind. „Das sind ja Inseln“ lautet der Standardeinwand. Doch wo ist die Debatte, ob trotzdem die ein oder andere Maßnahme nicht auch bei uns umzusetzen ist? Taiwan meldet jeden einzelnen eingeschleppten Corona-Fall auf Twitter. Diese Tweets sind für mich der blanke Hohn. Warum keine Quarantänehotels und drakonische Strafen für Quarantänebrecher? Es scheint leichter zu sein, Maßnahmen breit über alle zu verteilen, als einzelne Gruppen gezielt zu kontrollieren. Warum keine wirklich effektive App zur Kontaktverfolgung? Wo ist eine echte ehrliche Debatte zur NoCovid-Strategie, einem kurzen harten Lockdown mit anschließender Öffnungsstrategie? Worauf wartet man da in Berlin? Jetzt noch einmal ein paar Wochen die Ohren anlegen und dann wirken die Impfungen endlich? Modellprojekte mit Testkonzepten wie in Tübingen sind mit der Notbremse vorerst ausgebremst worden. Dieter Hallervorden hat für sein Schlosspark Theater in Berlin ein ausgeklügeltes Hygienekonzept entwickelt und darf trotzdem nicht öffnen. Das hat mit Logik alles nichts mehr zu tun und sorgt für kollektive Frustration.

Und dieser Frust war aus meiner Perspektive die wesentliche Message der #allesdichtmachen-Videos. Manche führten die Maßnahmenpolitik der Regierung ad absurdum, indem sie mehr Maßnahmen, mehr Angst und mehr Schließungen forderten. Eigentlich lernt man spätestens im Deutschunterricht der Oberstufe, wie man solche Übertreibungen zu interpretieren hat. Liefers spricht im Interview mit dem WDR davon, dass man die Debatte zu Corona-Maßnahmen lebendig halten wollte. Dieses Anliegen halte ich für legitim. Vielleicht sind wir alle schon viel zu lange nicht mehr in einem echten Theater gewesen. Dort wird/wurde schließlich ständig provoziert. Liefers zeigt sich völlig perplex, dass man ihn so falsch versteht. Gut, vielleicht waren die Schauspieler*innen naiv, aber warum ist die andere Seite so dünnhäutig? Mir gefallen auch manche Videos überhaupt nicht, andere haben mich sehr nachdenklich gemacht. Interessant auch, dass einige Beiträge den Shitstorm sowie die Einsortierung in die „rechte Ecke“ bereits aufgreifen und sich quasi vorsorglich distanzieren. Damit beweist die Empörung sogar, dass die Akteure recht haben mit ihrer Kritik daran, dass der Korridor von im öffentlichen Raum tolerierten Meinungen schmaler geworden ist. Wenn niemand mehr etwas sagt, was von der falschen Seite Applaus bekommen könnte, bestimmt die falsche Seite, was noch gesagt werden darf. Diese Macht sollten wir denen doch nicht geben! Vielleicht sollten sich Liefers und Co mit den Vertreterinnen und Vertretern der NoCovid-Strategie zusammentun: Die einen haben die Reichweite, die anderen eine Idee. Denn die Debatte muss weitergehen, wir sehen noch kein Licht am Ende des Tunnels.

Susanne Günther
Bloggerin, schillipaeppa.net

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