Dokumentiert: Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz-Komitees zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau am 26. Januar 2015

Sehr geehrte Frau Fahidi,
sehr geehrter Herr Turski,
sehr geehrter Herr Heubner,
sehr geehrte Botschafter,
Herr Ministerpräsident Woidke,
meine Damen und Herren,
liebe junge Gäste,

es ist für mich eine große Ehre und erfüllt mich mit Dankbarkeit, heute hier bei Ihnen zu sein und zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Der Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz-Birkenau durch sowjetische Soldaten jährt sich morgen zum 70. Mal. Auschwitz – dieses eine Wort steht für Millionen Einzelschicksale. Jedes Schicksal steht für sich. Jedes Schicksal erzählt auf seine Weise von unfassbarem Leid, von unsäglicher Quälerei bis hin zur systematischen Ermordung. Wie grausam all die vielen Lebenswege durchkreuzt und beendet wurden – das übersteigt letztlich unsere Vorstellungskraft. Eines aber wissen wir: Das Unvorstellbare ist geschehen; es war möglich.

Der Auschwitzüberlebende und langjährige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Heinz Galinski hat einmal gesagt: „Auschwitz – dieser Name steht für Untaten einer bis dahin unbekannten Dimension, für Verbrechen nicht allein gegen die Menschlichkeit, sondern für Verbrechen an der Menschheit.“

Was dort geschehen ist, war ein fundamentaler Angriff auf den Kern dessen, was unser Menschsein ausmacht: auf die Würde des Menschen. Eine wahnhafte Ideologie sprach Menschen das Menschsein ab.

An Auschwitz manifestiert sich das grausame Vorhaben, jüdisches Leben in ganz Europa auszulöschen. Denken wir an Auschwitz, dann denken wir auch an die vielen anderen Konzentrations- und Vernichtungslager. Der Name Auschwitz ist seit jeher ein Synonym für die gesamte nationalsozialistische Verfolgungs- und Ermordungsmaschinerie.

Auschwitz ist eine Mahnung, was Menschen anderen Menschen antun können. Auschwitz ist eine grausame Zäsur in der Geschichte der Menschheit. Auschwitz steht für den von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Shoa.

Dies verleiht dem Tag, an dem sich die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau jährt, seine ganz besondere Bedeutung. Am morgigen 70. Jahrestag erinnern wir an die sechs Millionen ermordeten Juden. Wir erinnern an das grausame Schicksal der Sinti und Roma. Wir erinnern an das erbarmungslose Vorgehen gegen Gegner des Nationalsozialismus. Wir erinnern an die Menschen mit Behinderung, an Homosexuelle, an Zwangsarbeiter, an die leidgeprüften Menschen in den von Deutschland überfallenen Ländern. Wir erinnern an alle, die von Deutschland im Nationalsozialismus verfolgt, misshandelt, gequält, vertrieben und ermordet wurden.

Verbrechen an der Menschheit verjähren nicht. Wir haben die immerwährende Verantwortung, das Wissen über die Gräueltaten von damals weiterzugeben und das Erinnern wachzuhalten.

Liebe Frau Fahidi, lieber Herr Turski, Sie haben die Hölle des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau als Jugendliche von 18, 19 Jahren erlitten und überlebt. Ihre Familien wurden dort ermordet. Die Bilder von einst und die Trauer tragen Sie tief in sich. Ich trauere mit Ihnen. Ich trauere mit all denjenigen, die gelitten und Angehörige verloren haben.

Was geschehen ist, erfüllt uns Deutsche mit großer Scham. Denn es waren Deutsche, die das Leid und den Tod von Millionen Menschen verschuldet oder in Kauf genommen haben – als Täter, als Mitläufer, als wegschauende und stillschweigende Mitwisser.

Liebe Frau Fahidi, von Ihnen stammt der Satz: „In uns, die wir aus Auschwitz zurückgekommen sind, ist die Lebenskraft sehr tief. Wir wissen, wie kostbar das Leben ist.“ Sie haben ebenso wie Herr Turski diese Lebenskraft eingesetzt, um Zeugnis abzulegen. Sie haben Ihre Geschichte wieder und wieder erzählt. Es ist kaum zu ermessen, wie viel Kraft es kostet, sich schmerzhafte Erfahrungen immer wieder vor Augen zu führen.

Gleichwohl haben Sie mit dafür gesorgt, dass Erinnerung über Generationen hinweg wachbleibt – dass aus ihr auch künftig Lehren gezogen werden können. Sie haben uns damit ein großes, ein wichtiges Geschenk gemacht, für das ich Ihnen von ganzem Herzen danken möchte. Denn wir dürfen nicht vergessen. Das sind wir Ihnen schuldig. Das sind wir den vielen Millionen Opfern schuldig. Und das sind wir uns selbst schuldig, die wir heute leben und eine gute Zukunft gestalten wollen.

Wir müssen immer wieder aufs Neue der Frage nachgehen, die der Auschwitzüberlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel in die Worte gefasst hat: „Wie konnten intelligente und gebildete Menschen tagsüber mit Maschinengewehren auf hunderte Kinder schießen und sich am Abend an den Versen Schillers oder einer Partitur von Bach erfreuen?“

Unter uns leben Menschen, die die Folgen der Shoa in ihren Familien nach wie vor ganz persönlich spüren. Für sie stellt sich ganz unmittelbar die Frage, wie es dazu kommen konnte. Umso wunderbarer ist es, dass heute wieder weit mehr als 100.000 Juden in Deutschland ihre Heimat haben, hier ihre Zukunft sehen und aufbauen – dass wir gemeinsam unser Land gestalten.

Und doch befürchten nicht wenige Juden heute in unserem Land Beleidigungen oder gar Übergriffe – und das leider nicht ohne Grund. Es ist eine Schande, dass Menschen in Deutschland angepöbelt, bedroht oder angegriffen werden, wenn sie sich irgendwie als Juden zu erkennen geben oder auch wenn sie für den Staat Israel Partei ergreifen. Dass Synagogen und jüdische Institutionen vielerorts unter Polizeischutz stehen müssen, lastet wie ein Makel auf unserem Land.

Das Denken, das sich in Angriffen auf Juden offenbart, hat mit einem freiheitlichen und demokratischen Staatsverständnis nichts zu tun. Deshalb müssen wir Antisemitismus und jeder anderen Form von Menschenfeindlichkeit von Anfang an die Stirn bieten.

Jeder, dem eine gute Zukunft Deutschlands am Herzen liegt, ist sich der immerwährenden Verantwortung nach dem Zivilisationsbruch der Shoa bewusst. Die Erinnerung an die grausamen Kapitel unserer Geschichte prägt unser Selbstverständnis als Nation. Bei uns muss jeder – unabhängig von Religion oder Herkunft – frei und sicher leben können.

„Nie wieder!“ – Diese Botschaft ist für unser demokratisches Land, das in Frieden mit seinen Nachbarn lebt, geradezu konstitutiv. Unser Bekenntnis zu einem geeinten Europa ist ebenso wie das Bewusstsein der unermesslich hohen Bedeutung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, Pluralität und Toleranz fest verankert. Doch so kostbar diese Werte auch sind, so zerbrechlich sind sie zugleich. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verlangen stets unsere Aufmerksamkeit und unseren Einsatz. Das beginnt schon damit, alte und neue Vorurteile und Feindbilder als solche zu entlarven.

Welche furchtbaren Taten letzten Endes aus irregeleiteter Gesinnung erwachsen können, haben uns die Attentate in Paris einmal mehr vor Augen geführt. Dort richteten sich Hass und Gewalt gezielt gegen Menschen, die als Journalisten und Karikaturisten Gebrauch von ihrer Meinungsfreiheit gemacht haben. Dort richteten sich Hass und Gewalt gezielt gegen jüdische Kunden eines koscheren Supermarkts bzw. weil die Mörder annahmen, dort Juden anzutreffen. Dort zeigten sich zwei der großen Übel unserer Zeit: islamistischer Terrorismus und Antisemitismus.

Wenige Tage nach den Attentaten fanden sich in Paris Millionen Menschen zusammen, um eine beeindruckende Botschaft zu senden: Wir wollen frei und friedlich miteinander leben. Gemeinsam wenden wir uns gegen menschverachtende Barbarei. Ob muslimisch, jüdisch, christlich, ob mit oder ohne Religion – wir gehören zusammen. Wir lassen uns nicht spalten. Jeder von uns ist ein Mensch mit einer unantastbaren und unteilbaren Würde.

Das Lebensprinzip der Demokratie ist unser Gegenentwurf zur Welt des Terrorismus. Und er ist stärker als der Terrorismus. Diese Überzeugung gilt es auch im Alltag immer und immer wieder zu bekunden, um jegliche Stimmungsmache auf Kosten bestimmter Gruppen zu bekämpfen – ganz gleich, von welcher Seite sie kommt; ganz gleich, gegen wen sie sich richtet.

Wir wollen keine hasserfüllten Parolen gegen angeblich Ungläubige oder Andersgläubige. Wir wollen keine hasserfüllten Parolen gegen Juden. Wir wollen keine hasserfüllten Parolen gegen Menschen, die in Deutschland ein neues Zuhause gefunden haben oder bei uns Zuflucht vor Krieg und Verfolgung suchen. Uns gegen jedes Aufkeimen von Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit zu wehren, ist unsere bürgerschaftliche, gesellschaftliche und staatliche Pflicht.

Ich freue mich besonders über die jungen Menschen, die heute hier unter uns sind. Sie haben sich auf die dunkelsten Kapitel der Geschichte unseres Landes eingelassen. Sie wissen um die eindringliche Mahnung, die aus Vergangenem zu uns heute spricht. Daher wissen sie auch, wie wichtig es ist, Erinnerung wachzuhalten.

Denn gerade wer sich mit Auschwitz, wer sich mit der Shoa und den Verbrechen Deutschlands im Nationalsozialismus auseinandersetzt, der kann ein feines Gespür und Warnsystem dafür entwickeln, wenn grundlegende Werte unseres Zusammenlebens infrage gestellt werden.

Was geschehen ist, können wir nicht ungeschehen machen. Doch nur im Bewusstsein unserer immerwährenden Verantwortung können wir eine gute Zukunft gestalten. Dieses Wissen lässt uns nicht ruhen und uns einfach darauf verlassen, dass sich schon andere finden werden, die sich um eine gute Zukunft kümmern.

Aus Erinnerung erwächst also ein Auftrag. Und so lautet die Botschaft des Gedenktags an die Opfer des Nationalsozialismus: Vergangenes wird nicht vergessen. Auschwitz fordert uns täglich heraus, unser Miteinander nach Maßstäben der Menschlichkeit zu gestalten. Auschwitz geht uns alle an – heute und morgen, nicht nur an Gedenktagen.

Ich danke Ihnen.

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