Wieviele Geschlechter gibt es jetzt eigentlich, warum es biologisch gesehen nur zwei sind und die Realität doch komplexer ist

Immer wieder wird über die Frage diskutiert, wie viele Geschlechter es jetzt eigentlich gibt. Eigentlich ist die Antwort sehr einfach: Es gibt nur zwei Typen Gameten: die weiblichen Eizellen und die männlichen Samenzellen. Einen dritten Typ. Insbesondere gibt es beim Menschen auch keine echten Zwitter, die sowohl funktionierende Eizellen als auch Samenzellen bilden – und selbst wenn es diese gäbe, wären diese nur ein eine Mischung aus Mann und Frau (Zwitter!).

Man könnte jetzt also sagen, alles klar, zwei Gameten, zwei Geschlechter. Fall gelöst.

Allerdings wird das Thema Geschlecht unter mehr und mehr Gesichtspunkten diskutiert. Und so möchte ich einen Text aufgreifen, der die weiteren Fragen und Einwände gut behandelt:

Der Pinsel der Liebe – Leben und Werk des Penis“ ist ein Buch des niederländischen Mediziners Bob Coolsaet, das bereits 1999 in Deutschland erschien und nicht mehr neu aufgelegt wurde, das aber noch in Antiquariaten, sehr gut sortierten Buchhandlungen Ihres Vertrauens oder auch bei Amazon verfügbar ist.  In einem Kapitel – Das Geschlecht – antwortet Coolsaet einem Briefschreiber, der eine Sportsendung gesehen hat, in der der 200m Lauf von einer Frau gewonnen wurde. Der Briefschreiber tut sich schwer, sie als Frau zu identifizieren. Er fragt sich und Coolsaet:

War dieses faktisch busenlose, untersetzte Muskelpaket eine Frau? Oder ein Zwitter, halb Frau und halb Mann? Treten auch Hermaphroditen auf der Zweihundertmeterdistanz an?

Coolsaet antwortet dem Mann in dem Kapitel ausführlich. Und seine Antwort möchte ich hier als Faden nehmen, um auf die Frage, wie viele biologische Geschlechter es gibt, was das soziale Geschlecht ist und wie sich diese zueinander verhalten, in Ansätzen zu beantworten.

Ich fasse hier seinen Text – stark verkürzt – zusammen, behandle einige Aspekte ausführlicher und beziehe neuere Literatur, Erkenntnisse und Fragestellungen ein.

Dieser Blogartikel ist inzwischen – nach seiner Erstveröffentlichung im Dezember – in einem weiter entwickelten Stadium und es wurden vielfältige Rückmeldungen eingearbeitet. Wenn Sie einen Hinweis haben, kontaktieren Sie mich einfach.

Das Geschlecht – die Macht der Chromosomen und Hormone beim Embryo

Spricht man über Geschlecht, muss man zunächst über die Gameten sprechen, das habe ich oben schon getan. Viele, die finden, dass das zu einfach ist, kommen jetzt auf die Chromosomen zu sprechen, die – wie wir gleich sehen werden – unter diesem Aspekt zwar auch noch nicht alles, aber doch sehr wichtig sind

Beim Embryo, der sich normalerweise zur Frau entwickelt, ist es die Geschlechtschromosomenpaarung XX, beim Mann XY. In der ersten Entwicklungsphase des Embryo sieht man bei den Anlagen der Geschlechtsorgane übrigens keinen Unterschied. Recht schnell entwickeln sich dann aber beim Embryo mit XY Chromosomensatz die Hoden, die ab der ca. fünften Schwangerschaftswoche männliche Geschlechtshormone ausschütten. Bei den XX Embryos wachsen die Eierstöcke, die ab der achten Woche weibliche Geschlechtshormone ausschütten, die dann wiederum die weibliche Geschlechtsentwicklung weiter steuern.

Geschlecht beim Menschen, so Coolsaet, wird also grundsätzlich von genetischen und hormonellen Faktoren bestimmt.

Nun ist der Vorgang sehr komplex und läuft von Individuum zu Individuum unterschiedlich ab: Nicht jeder Mann entwickelt sich gleichermaßen – was auch immer das bedeuten soll – „männlich“ , nicht jede Frau gleichermaßen „weiblich“, was immer auch das wiederum bedeuten soll. Bei den einen kommen eben die z.B. die Geschlechtshormone während der Embryonalentwicklung schon früh in großer Anzahl, bei anderen später und dann vielleicht nicht so viele.

Geschlecht ist nicht immer eindeutig

Aber es kommen auch gravierendere Abweichungen vor: Es gibt bei XY-Embryonen z.B. solche, bei denen auf dem Y-Chromosom das SRY Gen, das die Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane steuert, fehlt oder nicht aktiviert wird. Es entsteht dann ein Mensch, der zwar einen männlichen Chromosomensatz hat, aber über weibliche Geschlechtsorgane verfügt und wie eine Frau aussieht. Im Gegenzug gibt es auch extrem seltene Fälle, in denen das SRY-Gen durch Translokation auf das X-Chromosom gelangt, wodurch auch bei einem XX-Satz männliche Individuen entstehen, XX-Mann genannt. Diese sind zwar steril, sehen aber wie Männer aus.

Solche genetischen und hormonelle Abweichungen gibt es in allen möglichen Kombinationen. Und wir können uns jetzt streiten: ist das jeweils konkret z.B. ein Mann mit weiblichen Eigenschaften oder eine Frau mit männlichen Eigenschaften? Je nach Blickwinkel und Kriterien, die man ansetzt, kann man hier zu unterschiedlichen Ergebnissen und Einschätzungen kommen – und je nach Ausgangspunkt kann es auch sinnvoll sein, die Frage mal mit Mann, mal mit Frau und mal gar nicht zu beantworten. Dazu unten mehr.

Die meisten dieser Kombinationen werden jedenfalls unter dem Begriff der Intersexualität zusammengefasst. In Deutschland können sich solche Menschen seit 2018 übrigens als Divers registrieren und z.B. im Pass eintragen lassen, aber auch diese juristische Begrifflichkeit begründet natürlich kein neues biologisches Geschlecht.

Coolsaet weist dann dementsprechend darauf hin, dass es typischen Mann und die typische Frau – auch bei eindeutigem genetischer und hormoneller Lage – nicht gibt. Klar: es gibt sehr „männlich“ wirkende Muskelpakete mit kantigen Gesichtern, Durchschnittstypen mit Bäuchlein und den schmächtigen fast schon weiblichen wirkenden Mann. Auf der anderen Seite die kurvige direkt mütterlich wirkende Frau, muskulöse sog. „Mannweiber“ oder schmächtige Frauen, die die Zwillingsschwester des androgyn wirkenden Mannes sein könnten.

Wie definiert man jetzt in Zweifelsfällen Geschlecht

Aber zurück zur Ausgangsfrage: Ist also die oben angesprochene männlich erscheinende Gewinnerin des 200m Laufs ein Mann oder eine Frau?

Bei einer Sache können wir uns ganz sicher sein: Es ist kein Hermaphrodit, denn das würde voraussetzen, dass sie/er/es gleichzeitig eine Eizelle befruchten und wachsen lassen könnte. Hermaphroditen gibt es zwar bei Pflanzen und einigen niederen Tierarten wie z.B. Muscheln, aber nicht beim Menschen. Gäbe es diesen übrigens, könnte man darüber streiten, ob dies ein eigenes Geschlecht oder eben die Mischung aus Mann und Frau ist, aber diese Frage stellt sich nicht. Jedenfalls noch nicht, denn vielleicht wird es ja mal operative oder genetisch-manipulierte Hermaphroditen geben…. Aber das ist ein anderes Thema, das seinerseits wieder medizinische und besonders ethische Fragen aufwirft und uns hier nicht wirklich weiterbringt.

Coolsaet spricht als nächstes die Gebärfähigkeit an. Menschen, die über die Voraussetzungen verfügen, eine Eizelle zu einem Fötus wachsen zu lassen und diesen gebären zu können, nennen wir gemeinhin Frauen. Die Reduzierung auf die Gebärfähigkeit kann aber bei der Beantwortung der Frage, ob ein Mensch eine Frau ist, nicht entscheidend sein. Denn es gibt Frauen, die aus einer Vielzahl von möglichen Gründen keine Kinder bekommen können – genau so, wie es Männer gibt, die unfruchtbar sind. Sind das dann keine Frauen oder keine Männer? OK, darauf kann es bei der Beantwortung der Frage also wirklich nicht ankommen.

Daher werden bei der Bestimmung des physiologischen Geschlechtstypus als erstes die äußeren Geschlechtsorgane betrachtet. Gibt es Penis, Hodensack und Hoden, ist es ein Mann, beim Vorliegen von Schamlippen und Klitoris eine Frau.  Deren Aussehen kann übrigens stark variieren, wie man entweder aus eigener Anschauung weiß oder wie es einem Events wie das Vulvenmalen auf evangelischen Kirchentagen einerseits oder detaillierte Videos auf Pornhub andererseits zeigen. Was es aber eben nie gibt: Penis, Hodensack, Hoden, große Schamlippen, Vagina und Klitoris zusammen. Stichwort: Kein Hermaphrodismus beim Menschen! Dennoch gibt es seltene Mischformen bei den Geschlechtsorganen, die eine eindeutige Zuordnung nicht zulassen.

Als weiterer Faktor ist der Hormonspiegel zu sehen, den wir ja auch schon angesprochen haben. Dieser beeinflusst z.B. Knochenstruktur, Muskelzusammensetzung, Fettverteilung und Brustwachstum. Aber auch hier gibt es ein breites Spektrum: Männer mit wenigen männlichen Hormonen wirken oft wenig männlich und unsere Sportlerin aus der Ausgangsfrage hat vielleicht mehr männliche Hormone als ihre Konkurrentinnen. Aber das allein macht sie ja auch nicht zum Mann.

Bis in die frühen 1990er hat man übrigens bei Sportlerinnen zur Geschlechtsbestimmung den Barr-Test gemacht, da dieser aber in bestimmten Zweifelsfällen nicht zielführend ist, gehe ich hier weiter nicht darauf ein. Für interessierte Leser verweise ich auf diesen Artikel bei Spektrum der Wissenschaft.

Ein recht zuverlässiges Ergebnis liefert der Text auf das SRY-Gen (siehe dazu oben), denn bei dessen Vorliegen kann man mit sehr hoher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um einen Mann handelt – aber wie wir oben schon gesehen haben, können auch hier in sehr seltenen Fällen Unklarheiten verbleiben.

Sind diese Sonderfälle aber ein neues oder je nach Kombination ganz viele oder neue Geschlechter? Nein, biologisch bleibt es dabei immer – je nachdem, nach welchem Kriterium in Zweifelsfällen das Geschlecht bestimmt wird – bei Mann oder Frau, ein drittes Geschlecht gibt es nicht.

Zu keinem anderen Ergebnis kommt übrigens Claire Ainsworth in ihrem oft zitierten Artikel „Sex Redifined„, auf den ich unten noch zurückkommen werden, der aber von manchen fälschlicherweise als Beleg für mehr als zwei biologische Geschlechter gelesen wird. Ainsworth selbst stellt auf die Frage hin, ob es mehr als zwei Geschlechter gibt, via twitter klar:

Two Sexes, with a continuum of variation in anatomy/physiology.

Sozial sind wir alle Hermaphroditen

Die soziale Frage des Geschlechts ist hingegen eine völlig andere. Im Deutschen tun wir uns mit diesem Ansatz vielleicht etwas schwerer, da wir sprachlich keine so starke Trennung zwischen Sex (biologisches Geschlecht) und Gender (soziales Geschlecht) haben.

Coolsaet schreibt dazu:

Denn die soziale Konditionierung eines Individuums, die Frage, ob es die eigene Geschlechtlichkeit akzeptiert oder ablehnt, die effektive Beziehung zum eigenen oder dem anderen Geschlecht, das alles wird von der geschlechtlichen Befindlichkeit des Menschen mitbestimmt. Aufgrund der Fortpflanzung ist beim Menschen kein Hermaphroditismus möglich. Aber was unsere sexuelle Identität angeht, sind wir alle Hermaphroditen.

Dies gilt – hier erst recht – wieder in unterschiedlichen Ausprägungen: Modetrends, bei denen Frauen Schulterpolster oder Hosenanzüge tragen, um angedeutet in eine andere Geschlechterrolle zu schlüpfen und vielleicht in einer männlich geprägten Welt männlicher zu wirken. Männer, die sich als Feministen bezeichnen und sich bewusst unmännlich geben, der CEO, der abends in Frauenkleider schlüpft, die Frau, die kurze Haare und weite Pullover anzieht, um möglichst wenig weiblich zu wirken.

Und dann gibt es eben Fälle, in denen der körperliche Geschlechtstypus von jemanden als so unerträglich empfunden wird, dass das entsprechende sich Kleiden oder Verhalten für ihn nicht mehr ausreichend ist. Er wünscht sich eine medizinische Anpassung; wir sprechen von Transsexualität. Aber auch transsexuelle Personen bewegen sich eben im Spektrum von ausgeprägter Weiblichkeit zur ausgeprägter Männlichkeit und bilden kein anderes Geschlecht.

Es mag also unendlich viele gefühlte Geschlechter geben, was ja auch kein neues Phänomen ist, sondern wahrscheinlich schon immer in allen Kulturen vorkam, so ist der Mensch eben.  Aber das ist vom biologischen Geschlechtsbegriff zu trennen.

Ein Fazit und Konsequenzen

Festhalten kann man also, wir haben zwei biologische Geschlechter, die in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen und in seltenen Fällen nicht eindeutig sind, wie wahrscheinlich bei der Sportlerin. In dem schon zitierten Artikel von Claire Ainsworth wird dazu die Frage aufgeworfen

So if the law requires that a person is male or female, should that sex be assigned by anatomy, hormones, cells or chromosomes, and what should be done if they clash?

Wenn also das Gesetz vorschreibt, dass eine Person männlich oder weiblich ist, sollte dieses Geschlecht dann anhand der Anatomie, der Hormone, der Zellen oder der Chromosomen zugewiesen werden, und was ist zu tun, wenn sie nicht übereinstimmen?

Die Antwort die in ihrem Beitrag darauf gegeben wird, ist, dass dies einfach die Person bestimmen solle, die betroffen ist. Diese Antwort ist bestechend einfach, wirft bei näherer Betrachtung aber wieder weitere Fragen auf, auf die eine Gesellschaft Antworten finden muss – unter praktischen, juristischen und ethisch-moralische Aspekten:

  • Gerade unter medizinischen Gesichtspunkten sind der männliche und der weibliche Körper unterschiedlich – Stichworte Wirkung von Medikamenten, Herzinfarkte oder bestimmte Tumore.
  • Wie gehen wir mit Fällen wie der eingangs beschriebenen Sportlerin bei Sportwettbewerben um, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig sind.
  • Wie gehen wir mit transsexuellen Individuen bei nach Geschlechtern getrennten Sportwettbewerben um?
  • Wie behandeln wir genderfluide Personen bei Quoten?
  • Wer entscheidet, wer in welche Schutzräume – Stichwort Frauenhäuser, Frauensana, Umkleidekabinen – darf?
  • Ab wann und unter welchen Voraussetzungen soll jemand einen den Körper irreversibel geschlechtsändernden medizinischen Eingriff vornehmen lassen können?

Auf diese Fragen kann und will ich hier an dieser Stelle keine Antworten geben. Bei einigen, weil ich es nicht beurteilen kann, bei anderen weil ich es nicht will, bei anderen, weil ich als alter weißer Mann vielleicht der Falsche dazu bin und generell mehr die Betroffenen selbst sprechen sollten, als dass wir über die Betroffenen sprechen sollten. Zu einigen Themen werde ich noch etwas schreiben, zu anderen möchten Sie vielleicht hier einen Kommentar abgeben oder einen Gastbeitrag veröffentlichen.

Bei allem sollten wir aber bedenken, dass es hier nicht um Ideologie, sondern um biologische Fakten einerseits und das Empfinden von Menschen andererseits geht. Und es sollten weder wissenschaftliche Fakten geleugnet, noch menschliche Gefühle verletzt werden. Wenn man davon ausgeht, dass es zwei biologische Geschlechter in einem breiten Spektrum einerseits und daneben das soziale Geschlecht andererseits gibt, sollte eine entsprechende Grundlage für eine sachliche Diskussion beider Seiten gegeben sein.

tl;dr – und ein Schlusswort von Bo

Es gibt also nur zwei biologische Geschlechter beim Menschen.

Doch es kommt darauf an, welche Schlüsse wir aus dieser simplen biologischen Erkenntnis ziehen. Und da möchte ich Bo Coolsaet mit seiner Antwort auf die der Ausgangsfrage zitieren:

Tja, und nachdem wir das nun alles wissen, können wir dann noch so genau sagen, was es eigentlich bedeutet, wenn wir unsere Zweihundertmeterläuferin dem weiblichen Geschlecht zuordnen?

Eigentlich nicht. Denn es gibt so viele andere – hormonelle wie psychische – Faktoren, die die sexuelle Identität eines Individuums mitbestimmen, dass es so gut wie unmöglich ist, einen sauberen Trennungsstrich zu ziehen. Selbst wenn wir Menschen aus praktischen und anderen Gründen als Mann und Frau bezeichnen, auf der Mann-Frau-Kurve zeigt sich, dass unsere sexuelle Identität weitaus komplexer angelegt und im Körper lokalisiert ist. Eine eindeutige Zuordnung wird dem nicht gerecht.

Doch unsere Gesellschaft wird noch immer von einer ausgeprägten Polarität zwischen Mann und Frau bestimmt. Daher ist es überaus wichtig zu akzeptieren und zu erkennen, dass jeder von uns im Grunde zweigeschlechtlich ist und die oft so expliziten und allein aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit zugewiesenen Rollenmuster prinzipiell fehl am Platze sind und der sehr viel differenzierteren Wirklichkeit Gewalt antun.

Die Illustration oben wurde mit der Midjourney AI erstellt.

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