Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung der Veranstaltung „Europe 14/14 – HistoryCampus Berlin“ am 7. Mai 2014

Lieber Herr Krüger,
liebe Frau Langhoff,
meine Damen und Herren,
aber vor allen Dingen Sie, die vielen Festivalgäste vom Campus 14/14,

ich freue mich, dass ich hier bin und Sie ganz herzlich in Berlin, in dieser spannenden Stadt, begrüßen darf. Ich freue mich natürlich, dass so viele junge Menschen aus ganz Europa gekommen sind, um an das Jahr 1914 zu erinnern. Ich halte die Idee einer gemeinsamen Spurensuche für eine sehr, sehr gute Idee. Jeder von Ihnen wird mit ganz unterschiedlichen Augen auf das blicken, was einst war, oder zu ergründen versuchen, was einst war.

Wenn wir einmal versuchen, uns in das Berlin von vor 100 Jahren zu versetzen, dann wissen wir, dass Berlin damals eine pulsierende, eine moderne Stadt war. Sie war nach der Gründung des deutschen Nationalstaats innerhalb ganz weniger Jahrzehnte von knapp 700 000 Einwohnern auf zwei Millionen Einwohner angewachsen. Und diese Stadt bot enorme Chancen. Sie stand am Beginn des 20. Jahrhunderts für Technik und Tempo, für moderne Industrie, elektrische Hochbahnen, aber auch moderne Kunst. Berlin galt als lebenslustig und als total aufregend.

Man könnte sagen, wie unter einem Brennglas war hier eine erste Globalisierungswelle zu erleben. Die Entfernungen ließen sich leichter als bislang durch Eisenbahnen, durch Automobile, das Telefon und das Flugzeug überbrücken. Was vor kurzem noch in ewig weiter Ferne lag, schien plötzlich viel näher. Es gab neue Wirtschaftskontakte, es gab neue Handelsbeziehungen. Kunst und Kultur tauschten sich aus. Die große Zeit des Lichtspieltheaters, also des Kinos, begann. Damit hat sich auch der gesamte Horizont geweitet.

Auch im alltäglichen Miteinander geriet vieles in Bewegung: Arbeiter forderten damals mehr Rechte ein, das Verhältnis der Geschlechter wandelte sich. Dazu gehörte zum Beispiel die immer stärker werdende Diskussion um ein Wahlrecht der Frauen – wenn auch erst einmal nur um das passive Wahlrecht. Es stand noch ein bisschen in den Sternen, dass es eines Tages auch Regierungschefinnen geben wird – Theaterintendantinnen wahrscheinlich auch, aber da kenne ich mich nicht so gut aus.

Diese Seite des beginnenden 20. Jahrhunderts war und ist faszinierend. Wer sie betrachtet, der entwickelt recht schnell das Gefühl: Das, was damals war, hat irgendetwas auch mit uns heute zu tun. In diesem Punkt scheinen uns die Menschen, die vor einhundert Jahren lebten, in vielem recht nahe.

Dann gibt es aber auch die ganz andere Seite. Die Menschen von damals rücken plötzlich ganz weit weg, sobald unser Blick auf den Ausbruch des Krieges am 28. Juli 1914 fällt. Die Menschen, die in den Städten Europas darüber gejubelt haben, gerade auch hier in Berlin, die sind uns fremd. Diese Seite des beginnenden 20. Jahrhunderts hat etwas Verstörendes.

Wir alle wissen heute, was dann kam: Der Erste Weltkrieg hat sich ausgebreitet wie ein Flächenbrand. Er riss ein Land nach dem anderen in die Katastrophe. Tiefe Feindschaften, jahrelang gesät, keimten auf und trugen abscheuliche Blüten. Deutschland hatte daran seinen entscheidenden und traurigen Anteil. Europa stürzte in einen fürchterlichen Strudel der Gewalt. Ein rücksichtsloses und menschenverachtendes Ausspielen technischer und militärischer Möglichkeiten begann.

Von Flugzeugen, die Bomben warfen, bis zu Giftgaseinsätzen – eine ganze Palette neuer Waffen brachte bis dahin unvorstellbares Leiden mit sich. Der erste historisch gesicherte Einsatz mit Giftgas – Chlorgas – ging 1915 in der zweiten Flandern-schlacht bei Ypern von Deutschland aus. Über unseren ganzen Kontinent zog sich eine grausame Spur des Todes. Insgesamt wurden fast zehn Millionen junge Männer als Soldaten getötet, und rund sechs Millionen Zivilisten verloren ihr Leben.

Der Erste Weltkrieg ist die so oft zitierte sogenannte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Er zeigte, welches Zerstörungspotenzial das industrielle Zeitalter in sich barg. Die Welt erlebte eine bis dahin nie dagewesene Mobilisierung von Menschen, Ökonomien und Medien. Bald sollten noch größere Schrecken als in den Jahren 1914 bis 1918 folgen, so furchtbar damals schon alles war.

Wie konnte es dazu kommen? Diese Frage steht auch 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer wieder aufs Neue im Raum. Wie konnte es passieren, dass Nationen einander den Krieg erklärten, deren Volkswirtschaften schon damals eng miteinander verflochten waren? Wie konnte es passieren, dass die verantwortlichen Politiker und Militärs ein aufblühendes Europa geradewegs in den Abgrund der Gewalt führten? Wie konnte es sein, dass dies so viel Rückhalt in der Bevölkerung fand?

Das Motto Ihres Geschichtsfestivals ist angesichts dieser wichtigen Fragen ausgesprochen treffend: „Blick zurück nach vorn“ heißt es. Damit weist es darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit immer auch eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart zur Gestaltung der Zukunft ist.

Wenn wir unser Handeln, unsere Probleme, unsere Hoffnungen im Spiegel der Ereignisse von vor 100 Jahren betrachten, dann werden auch die Prioritäten unseres Lebens und unseres Handelns ganz klar. Da zeigt sich erst einmal, in welch guter Ausgangslage wir heute sind. Dann zeigt sich, welche Perspektiven wir haben – bei allen Problemen. Dann treten sehr deutlich die Argumente zutage, warum die Idee der europäischen Einigung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine so großartige Erfolgsgeschichte ist. Dann wird noch offensichtlicher als ohnehin schon, welch ein Geschenk es ist, dass Europa schließlich seine Teilung überwinden konnte.

Zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge hatte Deutschland gerade die Präsidentschaft in der Europäischen Union. Und da konnten wir uns als Staats- und Regierungschefs hier in Berlin versammeln. Ich habe damals im Deutschen Historischen Museum eine Rede gehalten, und wir haben eine Berliner Erklärung verabschiedet, in der es heißt: Wir sind zur unserem Glück vereint. Dieses Glück kann man gar nicht hoch genug schätzen.

Wenn wir in diesem Jahr in Deutschland den Fall der Berliner Mauer und das Ende der Block-Konfrontation von Ost und West vor 25. Jahren begehen, dann erinnern wir uns natürlich auch noch einmal daran, wie sich plötzlich Tür und Tor öffneten, um Europa wieder zusammenzuführen – in Frieden und Freiheit und zum Wohle aller.

Für Sie als junge Menschen liegt das alles schon sehr lange zurück. 25 Jahre – das ist für die meisten von Ihnen Ihre bisherige Lebenszeit. Ich war damals 35 Jahre alt und hatte damit gerechnet, dass ich meine erste USA-Reise erst mit 60 machen kann. Ich hätte also bis zu diesem Jahr warten müssen. Frauen hatten in der DDR das Privileg, schon mit 60 in Rente gehen zu können, während die Männer noch fünf Jahre länger warten mussten. Dann bekam man einen westdeutschen Pass bzw. konnte sich ihn besorgen und in die freie Welt reisen.

Das alles hat sich anders entwickelt, und das zeigt: Geschichte kann auch positive Entwicklungen mit sich bringen. Aus einem durch Stacheldraht und Schießbefehl in zwei Lager gespaltenes Europa wurde ein vereinigtes Europa. Für Sie ist ein solches Europa, das durch Stacheldraht und Schießbefehl gespalten ist, heute unglaublich unwahrscheinlich. Sie können es sich wahrscheinlich schwer vorstellen, wenn Sie durchs Brandenburger Tor gehen, dass man da jahrzehntelang nicht durchkam.

Man muss aufpassen. Man sieht, dass es noch nicht so unwahrscheinlich er-scheint, wie uns die Hurra-Rufe der deutschen Bevölkerung aus dem Jahre 1914 vorkommen. Wir müssen sehen: Zwischen 1914 und 1989 liegen 75 Jahre. Das ist ein Menschenleben. So lange hat es gedauert, bis das Europa des 20. Jahrhunderts die Zeit der zwei Weltkriege und des Kalten Krieges hinter sich ließ.

Ich schreibe als Parteivorsitzende – wir freuen uns ja, dass die Menschen älter werden – bis heute jedem Hundertjährigen einen Geburtstagsbrief. Dann stelle ich mir immer vor, in welcher Zeit diese Menschen geboren wurden. Von 1914 bis 1918 – die ersten vier Lebensjahre Krieg. Als diese Menschen 25 Jahre alt waren, da war es 1939, und es begann der Zweite Weltkrieg.

Deshalb ist es ein Glück, dass wir vor wenigen Tagen die große Osterweiterung der Europäischen Union von vor zehn Jahren feiern konnten. Die Aufnahme der zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten in die Europäische Union war ein großer Moment in der europäischen Geschichte.

Aber wir dürfen nie vergessen: Ein tolerantes, friedliches und freiheitliches Europa muss immer wieder aufs Neue erarbeitet, erhalten, gepflegt und mit Leben erfüllt werden. Wir sind heute einander näher als vor 100 Jahren – in Europa, aber auch in der Welt insgesamt. Wir wissen mehr voneinander, wir kennen uns besser, und wir arbeiten auch intensiver zusammen.

1914 war unser Kontinent von diplomatischer Sprachlosigkeit geprägt. In den Staaten Europas herrschte eine übersteigerte nationale Perspektive vor. Die Konfrontation galt als Chance, und heute muss man sagen: Welch ein fataler Irrtum!

Heute ist Europa anders. Das moderne Europa steht für eine neue Art, bei Dissens und Streit nationale Kurzsichtigkeit hinter sich zu lassen und kooperative Lösungen zu finden. Deshalb ist auch meine Bitte, wenn manch europäische Wahrheit auf sich warten lässt, wenn wir uns manchmal zweimal oder dreimal treffen müssen, bis wir ein Ergebnis erreichen: Vergessen Sie nie, welcher Wert darin liegt, dass wir uns immer wieder um Lösungen bemühen, und vergessen Sie nie, dass wir uns über bestimmte Dinge unter den 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union über-haupt nicht mehr streiten. Es ist unstrittig, dass es demokratische und freie Wahlen gibt, dass es Reisefreiheit gibt, dass es Pressefreiheit gibt, dass es Religionsfreiheit gibt. All das ist inzwischen selbstverständlich geworden.

Der Blick auf den Sommer 1914 zeigt natürlich auch, wie sinnvoll und wichtig es deshalb ist, dass wir uns regelmäßig und selbstverständlich austauschen, abstimmen. Und er zeigt, welches Glück es ist, dass wir in etwas mehr als zwei Wochen gemeinsam unser europäisches Parlament neu wählen können.

Aber wir erleben in diesen Tagen auch, dass auch heute Frieden und Freiheit selbst in unserer nächsten Umgebung nicht selbstverständlich sind. Manch einer hatte schon geglaubt, wir müssten darüber gar nicht mehr sprechen und könnten das Jahr 2014 als ein reines Gedenkjahr verleben. Umso beklemmender ist es, was wir derzeit in der Ukraine erleben. Dass die Auseinandersetzung über die staatliche Unversehrtheit eines Landes mitten in Europa sogar wieder zu Blutvergießen führt, ist bitter. Eine solche Entwicklung zu schüren, nicht zur Deeskalation beizutragen, das verstößt nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern gegen die Lehren der europäischen Geschichte.

Bei der Krim erleben wir einen tiefen Rückfall in alte Denkmuster, indem die staatliche Unversehrtheit eines Landes – in diesem Fall die der Ukraine – verletzt wird. Dennoch bin ich überzeugt: Mag sich auch kurzfristig das Recht eines Stärkeren Raum verschaffen, so wird sich langfristig die Stärke des Rechts durchsetzen.

Ich bin davon überzeugt, und das trägt auch all unsere diplomatischen Anstrengungen in diesen Tagen: Die große Chance unseres 21. Jahrhunderts liegt im Mit-einander. Die Antwort auf die Globalisierung unserer Zeit sind nicht alte Denkmuster und Abschottung. Die Antwort muss vielmehr sein, gemeinsame Interessen der Nationen und Staaten zu entwickeln. Und gerade darin liegt ja auch für viele Menschen auf der Welt der Reiz Europas.

Diejenigen, deren Denken allein um eigene Einflussbereiche kreist, mögen kurzfristig stärker sein als wir, aber am Ende sind sie es nicht. Am Ende werden sie sich selbst schaden. Deshalb werden wir immer wieder die Chance nutzen, auch in Gesprächen, das Modell des Interessensausgleichs – das ist das Modell Europas – stetig einzubringen und zu sagen: Daraus entstehen neue Perspektiven – politisch genauso wie ökonomisch.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Geschichtscampus, ich ermuntere Sie: Lassen Sie sich in den kommenden Tagen einmal mehr auf Europa ein. Folgen Sie mit Ihrer Neugier den Spuren der Geschichte unseres Kontinents. Da gibt es auch heute noch viel zu entdecken.

Der ungarische Schriftsteller György Konrád bezeichnet Europa gern als – ich zitiere ihn: „superkomplexen interessanten Roman“. Stürzen Sie sich einfach in das Abenteuer dieses europäischen Romans. Studieren Sie seine bisherigen Kapitel. Und machen Sie mit, wenn es darum geht, die Fortsetzung zu schreiben.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Erfolg, Freude, auch ein bisschen Spaß beim Kennenlernen und einen guten Aufenthalt in der deutschen Hauptstadt, von der wir so glücklich sind, dass sie wiedervereint ist, weshalb wir auch alles dafür tun werden, dass Menschen auf der Welt das gleiche Glück empfinden können, das wir Deutschen 1989 und 1990 hatten. Herzlich willkommen Ihnen allen, welcome to you.

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