Meinung: Geht es auf sozialen Netzwerken wirklich besonders rau zu?

Immer wieder wird behauptet, was für ein rauer Ton in sozialen Netzwerken herrsche, gerade auf X (fka twitter). Meine Entgegnung ist dann meist, dass es im Verhältnis noch sehr gesittet zugeht. Meist werde ich dann gefragt, ob ich Alltag auch regelmäßig beleidigt werde.

Dazu möchte ich folgendes zu Bedenken geben:

Äußert man sich im Alltag, so erreicht man damit im Regelfall nur ein kleines und dazu ausgewähltes Publikum. Ob beim Gespräch beim täglichen Abendessen, einem Vortrag auf dem Firmenmeeting, der Wortmeldung auf einer Elternpflegschaftssitzung, dem Smalltalk auf einer Party, einer Festrede auf einer Familienfeier – in allen Situationen ist man in einem vergleichsweise gesitteten und überschaubaren Umfeld. Und trotzdem kann es auch hier passieren, dass man vom missgünstigen Kollegen drastisch kritisiert wird, das pubertierende Kind mit Türknall und Beleidigung verschwindet oder der ewig betrunkene peinliche Vetter einem nach der Lobeshymne auf die Großtante Erbschleicherei unterstellt… Selbst im geschützten Raum und trotz sozialer Kontrolle ist man nicht vor Beleidigungen sicher.

Ganz anders sieht es dann schon aus, wenn man sich z.B. für eine Partei an einen Info-Stand stellt. Ich habe das vor Jahren einmal für die FDP getan und kann ihnen sagen: Das war nicht lustig. Und wie man hört, soll es heute nicht besser sein.

Oder: Gehen Sie mal mit Kippa durch Neukölln oder mit Gladbach-Trikot in eine Effzeh Fan Kneipe. Und selbst wenn Sie ganz unauffällig auftreten: Die Fahrt in der Berliner U-Bahn zur Nacht kann zum unangenehmen Erlebnis werden.

In all diesen Situationen ist man nur mit einigen wenigen bis maximal einigen hundert Sozialkontakten konfrontiert – und dennoch kommt es regelmäßig zu Beleidigungen.

Und jetzt denken wir an ein Posting auf Social Media: Meine auf X werden meist mehrere tausend mal gelesen. Oft ohne, dass es überhaupt nur einen beleidigenden Kommentar gibt. Da ist die Quote im realen Leben oft schlechter.

Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass durch sozialen Abstand und Anonymität im Netz die Hemmschwelle eigentlich viel niedriger ist, sich beleidigend zu äußern, dann erscheint die Kommunikation in sozialen Medien in einem anderen Licht.

Tatsächlich ist es bemerkenswert, dass trotz der Anonymität und des geringeren sozialen Drucks in den digitalen Räumen weniger Beleidigungen auftreten, als man dies vermuten dürfte. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Mehrheit der Nutzer auf Social Media tatsächlich ein gewisses Maß an Respekt und Anstand bewahrt, selbst in einer Umgebung, die es leichter macht, hemmungslos und direkt zu sein. Es zeigt, dass die sozialen Normen und das Streben nach einem friedlichen Miteinander auch im digitalen Raum präsent sind, was letztendlich zu einer positiveren Interaktion führen kann, als man aufgrund der Umstände und der ständigen Behauptung erwarten würde.

Ich habe hierzu noch einige weitere Gedanken, die ich bei Gelegenheit ergänzen werde. So oder so gilt aber:

Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Bild: ChatGPT mit Dall-E 3.

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