Dokumentiert: Die FDP-Austrittserklärung von Holger Zastrow

HolgerZastrow hat auf X seinen Austritt aus der FDP mit einem offenen Brief begründet.

Zastrow war von 1999 bis 2019 Landesvorsitzender der FDP Sachsen und von 2004 bis 2014 Vorsitzender der FDP-Fraktion im Sächsischen Landtag. Zwischen 2011 und 2013 gehörte er als stellvertretender Bundesvorsitzender sowie zwischen 2015 und 2017 als Beisitzer dem Präsidium der FDP an.

Wir dokumentieren das Schreiben hier im Stück:

Holger Zastrow, Austrittserklärung aus der FDP, 16.1.2024

Ich habe mich entschieden, die FDP heute zu verlassen und bei den kommenden Wahlen nicht mehr für die FDP ins Rennen zu gehen. Nach mehr als 30 Jahren Mitgliedschaft in der Partei, davon allein 20 Jahre als Landesvorsitzender, 10 Jahre als Fraktionsvorsitzender im Landtag, ehemaliger stellvertretender Bundesvorsitzender und 20 Jahren im Dresdner Stadtrat fällt mir die Entscheidung nicht leicht. Sie ist für mich hoch emotional. Sie zerreißt mich innerlich. Aber ich sehe keinen anderen Weg mehr. Leider. Ich muss ein Zeichen setzen. Auch wenn es nur ein sehr kleines ist, will ich meiner Partei, meinen Wählern, meinen Freunden und Bekannten, aber auch den Protestierenden auf den Straßen und Plätzen zeigen, dass auch ich mit der derzeitigen Politik nicht einverstanden bin und mir große Sorgen um unser Land mache.

Um es vorweg zu nehmen: Meine Entscheidung hat nichts mit der Dresdner Stadtratsfraktion und relativ wenig mit der Situation in Dresden und Sachsen zu tun. Auch wenn ich den Kurs der Landespartei kritisch sehe, ich es anders machen würde und es immer mal wieder auch in Dresden Irritationen gab, ist das wahrscheinlich normal nach so einer langen Zeit in Verantwortung und kein Grund für eine so weitreichende Entscheidung. Zudem macht die Arbeit im Stadtrat Sinn und Freude. Wir sind ein gutes professionelles Team und schaffen es immer wieder, im Rahmen der gegebenen Mehrheiten Zeichen zu setzen und was für Dresden zu bewegen. Ichwünsche der Dresdner FDP und der sächsischen FDP mit Robert Malorny als Spitzenkandidat bei den bevorstehenden Wahlen von Herzen alles Gute. Ich schätze ihn sehr, er hätte einen Erfolg verdient.

Ich befürchte allerdings, dass die Chancen mäßig sind. Die Gesellschaft verändert sich, die Parteien verändern sich, auch die FDP hat sich verändert. Nicht zum Guten, wie ich finde. Auf die Herausforderungen unserer Zeitbraucht es andere Antworten und eine andere Art der Debatte. Meine Vorstellungen von Politik und Partei von liberaler Politik und Partei sind anders als von der FDP gelebt. Und damit meine ich die Bundespartei und die Bundestagsfraktion.

Wie bekannt, fremdele ich schon länger mit vielem, was unsere Partei heute ausmacht, und stellte mir schon oft die Frage, ob die FDP noch meine Heimat ist. Solange Guido Westerwelle die FDP führte, war es meine Partei. Mit seinem Sturz begann ein schleichender Entfremdungsprozess. 10 Jahre hat es gedauert, bis ich mir eingestanden habe, dass wir uns auseinandergelebt haben. Wie das eben manchmal so ist. Alle entwickeln sich weiter. Die Dinge ändern sich, Auffassungen und Sichtweisen auch, vielen gehen, andere kommen. Irgendwann muss man sich ehrlich machen und die Frage stellen, ob es noch passt. Für das neue Jahr hatte ich mir deshalbvorgenommen, mein Verhältnis zu meiner Partei zu klären und eine Entscheidung zu treffen. Und: Es passt nicht mehr.

Ich habe lange gezögert und gezaudert. Ich habe vor allem in den letzten Tagen und Wochen nach einem Zeichen gesucht, das mich hält, einen Strohhalm, der sagt „bleib“. Die Debatte um den Haushalt, die vorgeschlagenen Kürzungen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie, eine Mitgliederbefragung zum Verbleib in der Ampel, die in jeder Hinsicht Bände spricht, eine Europa-Spitzenkandidatin, die für eine Art der politischen Auseinandersetzung steht, die nicht meinem Bild von politischer Kultur entspricht. All das war nicht hilfreich.

Aber ich habe trotzdem abgewartet bis zum gestrigen Tag. Bis zu den Bauernprotesten in Berlin. Ich habe mir alle Reden angehört, auch die unseres Bundesvorsitzenden. Ich habe die Reaktionen gesehen. Es war der Tiefpunkt in mehr als 30 Jahren FDP für mich. Wie schon mein Besuch auf der Protestdemo der Bauern, Spediteure, Handwerker und Gastronomen auf dem Theaterplatz in Dresden fasst mich das alles emotional an. Es erinnert mich an 1989. Da stand ich schon mal auf dem Theaterplatz. Es ist ein Deja-vu. Ich sehe ganz normale Leute, meine Leute, eigentlich unsere Leute, Menschen, für die wir einst in den politischen Kampfgezogen sind und deren Interessen wir vertreten haben. Lauter fleißige Leute, die einfach ihre Arbeit machen, und die die Sorge um unser Land auf die Straße bringt.

Die Politik der Ampel ist aus meiner Sicht falsch und zwar so vollkommen, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Nahezu nichts entspricht meiner Erwartung, nichts ist wirklich gut für unser Land.

Der Bundesvorsitzende hat einmal gesagt, es sei besser nicht zu regieren als schlecht zu regieren. Jetzt ist die FDP Teil der vermutlich schlechtesten Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Eine Regierung, die die Unterstützung der Bevölkerung längst verloren hat. Eine Regierung, die mit ihrer Politik weder die Mehrheit anspricht noch die, für die die FDP als Impulsgeber, Interessenvertreter und Korrektiv den Platz am Regierungstisch eingenommen hat – die Leistungsträger unseres Landes, die Freiheitlichen, die Marktwirtschaftler, die Individualisten, die Anpacker.

Der Fehler liegt auf der Hand. Wir haben uns nicht nur mit einem uninspirierten Kanzler und einer aus der Zeitgefallenen SPD ins Bett gelegt, sondern vor allem mit den Grünen. Diese Partei arbeitet nicht im Interesse unseres Landes. Sie hat mit ihren sektiererischen Zügen anderes im Sinn und will die Gesellschaft nach ihrem Duktus umgestalten – koste es was es wolle – und sie macht das erstaunlich konsequent. Ihr geht es nicht um die Menschen, nicht um Deutschland. Ihr geht es darum, Recht zu haben und unter Inanspruchnahme allerlei Bedrohungs- und Angstszenarien das Land fundamental umzugestalten. Auf Kosten liberaler Werte wie der Freiheit und der wirtschaftlichen Zukunftsfähigkeit.

Ich habe Verständnis, dass man es mit den Grünen probiert. Es hätte vielleicht auch funktionieren können, wenn auf der anderen Seite pragmatische Menschen sitzen würden. Aber allerspätestens vor einem halben Jahr hätte die FDP feststellen müssen, dass es mit den Grünen eben nicht geht. Sie sind mit ihrem Menschenbild und ihrer gesellschaftlichen Vorstellung eine Gefahr für die liberale Gesellschaft.

Man hat es versucht, aber es geht nicht. Die FDP hätte Deutschland einen Dienst erwiesen. Sie hätte die Ampel gerade noch rechtzeitig verlassen, ohne Netz und doppelten Boden, aus Verantwortung für Deutschland. Wir würden heute über eine andere Stimmung in unserem Land, ganz andere Werte für die FDP und andere Chancen bei den kommenden Wahlen sprechen. Leider fehlte und fehlt der FDP dazu der Mut oder die Überzeugung.

Sie hätte es auch gestern vor dem Brandenburger Tor tun können. Es wäre angemessen gewesen. Sie hat es wieder nicht getan. Der Vorwurf, dass die Bereitschaft der FDP, weiter in der Ampel zu regieren, die Grünen im Spiel hält und damit falsche Weichenstellungen in unserer Gesellschaft erst möglich werden, wiegt schwer und ist nicht von der Hand zu weisen.

Dass die FDP sich auf diese Regierungspartner eingelassen hat, ist ein historischer Fehler, wie man spätestens seit der Debatte um das Heizungsgesetz weiß, für den sie einen hohen Preis zahlen wird. Dass die FDP desrapiden Verlustes an Zustimmung und Anerkennung stur und starr weitermacht, anstatt „Halt! Stopp! Nichtweiter so!“ zu rufen und umzukehren, finde ich entsetzlich. Eine Wahlniederlage nach der anderen, eine uns einst zugewandte Klientel nach der anderen wendet sich ab, aber man macht weiter – bis zum bitteren Ende. Dass es 2024 Wahlen in Ostdeutschland gibt, für die die Parteiführung gerade die denkbar schlechtesten Ausgangsbedingungen schafft, sei auch erwähnt. Es kennzeichnet aber auch die Politik in Deutschland seit längerer Zeit. Ohne Rücksicht auf Verluste werden eigene Vorstellungen durchgezogen. Anstatt den Menschen in Zeiten multipler Krisen Atempausen zu gönnen, kommt stets etwas Neues um die Ecke. Wichtige Zeit und Kraft vergeudet man mit Nebensächlichkeiten und Nischenthemen, anstatt sich um die großen Herausforderungen zu kümmern.

Überall agieren Überzeugungstäter, deren Biografien und berufliche Karrieren sie zwar zu nichts qualifizieren, die sich aber anmaßen, es stets und immer besser zu wissen. Längst regiert die Politik am Volk vorbei, längst hat sie die Bindung zu ihren Bürgern verloren, Randthemen sind wichtiger als die Grundlagen, Rituale wichtiger als ehrliche Arbeit, Wahrheiten werden genauso ausgeblendet wie der Blick auf die Realität. Man lebt in seinem Kokon, abgeschirmt von nicht wenigen Medien und Interessensvertretern, die ihnen eine Welt vorgaukeln, die es gar nicht gibt und die sie in gut und böse einteilen. Und dann wundert man sich, dass sich die Leuteabwenden, dass sie nicht mehr zuhören, auch nicht, wenn man viele ordentliche Dinge sagt und tut. Regierende und Volk senden auf unterschiedlichen Frequenzen. Wie fatal. Ermöglicht das doch Gut- und weniger Gutmeinenden aus allen Richtungen, Resonanz zu erzielen.

Die Politik, die Parlamente, die Parteien sind in einer schweren Krise. Das Berufspolitikertum und die Selbstbedienungsmentalität, überbordende Kompliziertheit und die Bürokratie der Parteiendemokratie macht Politik in bedenklicher Weise zu etwas Exklusivem für einige wenige, die diesen Status gern erhalten würden. Die Vielfalt der Berufe und Lebensläufe findet sich in keinem Parlament mehr wieder. Parteien haben ihre Repräsentativität verloren. Man bleibt unter sich, in der eigenen Blase. Die Lebenswirklichkeit streift man höchstens bei Protesten wie jetzt. Dann ist man entsetzt, weil man in seiner bequemen Komfortzone gestört wird und greift zu Belehrungen, die ich von 1989 gut kenne, von den Rowdys auf der Straße etc. Heute meint man, dass die Form es Protestes so nicht gehe oder schiebt den Protest gleich mal direkt in die rechte Ecke. Alles bekannte Muster.

Auch die FDP hat die Repräsentativität verloren. Der Umbau der Parteistruktur, die zwanghafte Zentralisierung eines großen Teils der Parteiarbeit von den der Schatzmeisterei bis zur Wahlkampfführung hat die Partei entmannt, ihre Mitmachmöglichkeiten und Kompetenzen genommen, deren Verlust man spätestens in der nächsten Krise schmerzlich spüren wird. In vielen Gegenden ist die FDP inzwischen zu klein, immer weniger Leute, die für unsere Kernklientel stehen, finden sich noch in der Mitgliedschaft und in Funktionen.

Nach der Rede des Bundesvorsitzenden war ich emotional total angefasst, weil ich wusste, dass es das war. Es war der letzte Anstoß. Es geht nicht mehr. Meine Zeit in der FDP ist vorbei. Die Rede zeigte, wie weit weg wir inzwischen von der Lebenswirklichkeit unserer Klientel sind. Am Brandenburger Tor standen nicht unsere Feinde. Da standen in relevanter Zahl auch unsere Freunde und Leute, die auf uns gesetzt haben. Wir haben sie verloren und ich befürchte endgültig.

Die Rede erinnerte mich aber auch an die stets gleichen Parolen, Sprüche und perfekt formulierten Programme, die ich seit 30 Jahren höre und für die ich seit 30 Jahren um Zustimmung werbe. An wohlwollenden und mitfühlenden Worten und ausgefeilter Rhetorik fehlte es der FDP zu keiner Zeit. Es fehlte immer an Taten. Es fehlt an Leidenschaft, an Sensibilität, an uneitlem Tatendrang. Niemand unserer Wähler, unserer Klientel, der Leute da draußen glaubt, dass mit der FDP einer da ist, der kämpft, der schwitzt, der sich die Hände dreckig macht und der wirklich für das, was er sagt, brennt, der für mich ins und durchs Feuer geht. Deshalb hört niemand mehr zu. Deshalb glaubt man den warmherzigen Worten nicht. Deshalb verlieren wir unsere Leute.

Eigentlich wäre es – mal wieder – Zeit für die FDP. Sie wird so dringend gebraucht. Denn während sich die Ränder aufmachen, das Land zu erobern, schläft die Mitte. Während sich die Leute in großer Zahl Gruppierungen zuwenden, die die Probleme unseres Landes nicht lösen werden, machen die etablierten Parteien einfach weiter, als würde nichts passieren. Das kann ich nicht akzeptieren.

Als jemand, der in der Öffentlichkeit steht und durch seinen Beruf mit sehr vielen Menschen zu tun hat, möchte und kann ich die Politik der FDP im Bund nicht mehr rechtfertigen. Als jemand der zumindest in Dresden Wahlergebnisse erreicht, die weit über das für eine FDP übliche hinausgehen, kann ich keine Politik verteidigen, die sich praktisch gegen die Mehrheit meiner Wähler, meine Mitstreiter, Kollegen und Freunde richtet. Ich lebe wohl in einer anderen Welt als meine Partei. Ich sehe andere Probleme und andere Lösungen. Ich will den Leuten noch in die Augen schauen können.

Ich bedanke mich bei allen Weggefährten und Unterstützern, bitte um Verzeihung bei denen, die ich mit meinem Austritt überrasche und enttäusche. Aber es geht nicht anders. Mein Verstand sagt es, aber noch mehr sagen es Herz und Bauch.

Danke für die Zeit!

5 Antworten auf „Dokumentiert: Die FDP-Austrittserklärung von Holger Zastrow“

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