Dokumentiert: Der Brief von Sevgil Musaieva an Angela Merkel

Wir dokumentieren hier den offenen Brief der Chefredakteurin der ukrainischen Zeitung Ukrainska Pravda, Sevgil Musaieva, an Altbundeskanzlerin Angela Merkel.

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel!

Ich wende mich mit größtem Respekt vor Ihrem kompromisslosen Einsatz für unsere demokratischen Werte an Sie, die Sie zu einer Schlüsselfigur unserer modernen Geschichte gemacht haben.

Im Frühling 2019 hatte ich die Ehre, die treibende Kraft hinter Ihrem Handeln zu verstehen. Tausende Absolvent:innen der Harvard University, darunter auch ich, versammelten sich zu Ihrer Rede.

Sie erzählten von Ihrem Leben in Ostdeutschland in Zeiten einer totalen Diktatur. Sie erzählten, wie die Mauer Sie nicht daran hindern konnte, groß zu träumen. Ich weinte, weil Ihr Schmerz mir vertraut war.

Schon acht Jahre dauert in meinem Heimatland der Krieg an, den nicht wir begonnen haben. Ende Februar 2014 hat Putins Russland meine Heimat, die Krim, besetzt. Meine Eltern lebten damals im östlichen Teil der Halbinsel. Eines Tages sahen sie auf dem Arbeitsweg russische Panzer durch die Straßen ihrer Heimatstadt rollen. Aber die Besetzung der Krim war Wladimir Putin nicht genug. Der Krieg kam in den Donbas.

Sie haben alles Mögliche versucht, um das Blutvergießen zu stoppen. Dank Ihrer Bemühungen ist das Minsker Abkommen zustande gekommen, in dem die Krimfrage jedoch außer Acht gelassen wurde. Durch die Frage der Besetzung der ukrainischen Halbinsel brach das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sorgfältig aufgebaute System der internationalen Sicherheit plötzlich zusammen.

Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert bereits seit über einem Monat an. Schauen Sie sich die grauenhaften Bilder von Irpin und Butscha an. Vor unser aller Augen spielt sich zurzeit ein Genozid am ukrainischen Volk ab. Die russische Armee tötet uns, aber – genauso wie die Berliner Mauer vor 40 Jahren – kann sie uns nicht unsere Träume nehmen.

Frau Dr. Merkel, Sie haben einen großen Beitrag zur Stärkung der EU und ihrem Schutz geleistet. Im Namen der Ukrainer:innen appelliere ich an Sie:

nterstützen Sie den Beitritt der Ukraine zur EU. Uns ist bewusst, dass unser Land noch viele Probleme hat, aber gerade die ukrainische junge Energie und unser Durst nach Freiheit ist genau das, was Europa derzeit braucht.

Helfen Sie der Ukraine bei den Verhandlungen mit Russland. Helfen Sie, den Krieg zu stoppen, der jeden Tag unsere Bürger:innen tötet.

All diese Werte, die Sie über so viele Jahre hinweg versucht haben zu verteidigen, könnten heute zerstört werden. Um die EU zu retten, müssen Sie in die öffentliche Politik zurückkehren.

Meinen Brief möchte ich mit den Worten aus Ihrer Rede von vor drei Jahren abschließen:

‚Nothing can be taken for granted and everything is possible.‘*

Mit freundlichen Grüßen

Sevgil Musaieva (Chefredakteurin der ukrainischen Zeitung Ukrainska Pravda)“

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