Meinung: Die GeschOBT, die AfD und das Vizepräsidentenproblem

Das AfD Vizepräsidenten Problem im Bundestag

Die aktuelle Problematik im Deutschen Bundestag (April 2019) sollte jedem politisch interessierten Menschen in Deutschland bekannt sein: Laut Geschäftsordnung des Bundestages (GeschOBT, auch GoBtg) in der Fassung vom 1. März 2019 hat jede Fraktion im Bundestag Anspruch auf mindestens eine Vizepräsidentin oder Vizepräsidenten des Bundestags.

Die einschlägige Norm lautet:

§ 2 GeschoBT – Wahl des Präsidenten und der Stellvertreter

(1) Der Bundestag wählt mit verdeckten Stimmzetteln (§ 49) in besonderen Wahlhandlungen den Präsidenten und seine Stellvertreter für die Dauer der Wahlperiode. Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.
(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Ergibt sich im ersten Wahlgang keine Mehrheit, so können für einen zweiten Wahlgang neue Bewerber vorgeschlagen werden. Ergibt sich auch dann keine Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages, findet ein dritter Wahlgang statt. Bei nur einem Bewerber ist dieser gewählt, wenn er die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt. Bei mehreren Bewerbern kommen die beiden Bewerber mit den höchsten Stimmenzahlen in die engere Wahl; gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los durch die Hand des amtierenden Präsidenten.
(3) Weitere Wahlgänge mit einem im dritten Wahlgang erfolglosen Bewerber sind nur nach Vereinbarung im Ältestenrat zulässig. Werden nach erfolglosem Ablauf des Verfahrens nach Absatz 2 neue Bewerber vorgeschlagen, ist neu in das Wahlverfahren gemäß Absatz 2 einzutreten.

Die Alternative für Deutschland (AfD) bildet im Deutschen Bundestag eine Fraktion, bislang wurde jedoch keines ihrer Mitglieder zum Vizepräsidenten gewählt, keiner der bisherigen Kandidaten – Albrecht Glaser und Mariana Harder-Kühnel – erhielt die erforderliche Mehrheit.

Dies wird von nicht wenigen kritisiert: hat man in der Geschäftsordnung die Regelung aufgestellt, dass alle Fraktionen vertreten sein sollen, so sei es undemokratisch, dies einer Fraktion zu versagen.

Entgegnet wird dem, es könne Abgeordneten insbesondere in Hinblick auf die Gewissensfreiheit ihres Mandats  – „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ (Art. 38 I Satz 2 GG) – nicht zugemutet werden, einen Kandidaten zu wählen, dem sie ihre Zustimmung nicht geben wollen. Dies ist sicherlich richtig. Anmerken möchte ich in diesem Zusammenhang aber noch, dass dies sonst in Sachen Fraktionszwang nicht so eng gesehen wird, doch ist das eine andere Debatte.

Bleibt das Dilemma: laut Geschäftsordnung des Bundestags hat die AfD einen Anspruch auf einen Vizepräsidentenposten, andererseits können die Abgeordneten nicht gezwungen werden, einen Kandidaten der AfD zu wählen. Ob man letzteres nun gut findet oder nicht, verfassungsrechtlich ist daran nichts zu rütteln.

Wie wird es weitergehen?

Wahrscheinlich wird die AfD nun weitere Wahlgänge ansetzen – und das kann sie rein theoretisch dauerhaft durchziehen. Ich glaube allerdings nicht, dass sie damit durchkommen wird, zu aufgeheizt ist inzwischen unter vielen Abgeordneten die grundsätzliche Stimmung gegen einen AfD Kandidaten.

Die AfD wird dann wohl den Gang nach Karlsruhe gehen und versuchen, im Versuch eines Organstreitverfahrens ihren Anspruch auf einen Vizepräsidentenposten durchzusetzen.

Hierbei sind grundsätzlich drei Sichtweisen des Bundesverfassungsgerichts möglich:

  • Zum einen kann man gut die Meinung vertreten, dass es für die Arbeit einer Fraktion nicht erforderlich sei, auch einen Präsidenten zu stellen. Dafür könnte man gute Gründe anführen, insbesondere dass das Grundgesetz Fraktionen nur im später hinzugefügten Artikel 53a GG kennt – zwingend vorgesehen sind diese im Grundgesetz also eigentlich nicht. Bliebe die Frage, wie das Gericht bei dieser Sichtweise in diesem Fall mit der entsprechenden Regelung der GeschoBT umgeht und z.B. eine Änderung anregt oder anordnet.
  • Weiter kann man auf dem Standpunkt stehen, dass der Status der Fraktionen so stark ist, dass zwar grundsätzlich ein Anspruch auf einen Vizepräsidenten gegeben ist, wird aber kein Abgeordneter einer Fraktion gewählt, dann ist das eben so. Die Abgeordneten können zur Wahl schließlich nicht verpflichtet werden. Zu der Geschäftsordnung des Bundestags hat sich das Gericht schon verschiedentlich geäußert. Für wesentlich halte ich dabei:
    Die Geschäftsordnung des Parlaments setzt voraus, daß die von ihr zur Wahrnehmung bestimmter Funktionen berufenen Organe diese in vernünftigen Grenzen ausüben und nicht mißbrauchen. Soll eine Bestimmung der Geschäftsordnung an der Verfassung gemessen werden, so muß mithin ihre faire und loyale Anwendung durch die dazu berufenen Organe vorausgesetzt werden. Die bloße Möglichkeit einer mißbräuchlichen Handhabung, die der Verfassung widersprechen würde, ist noch kein hinreichender Grund, die Bestimmung als solche für verfassungswidrig zu erklären. Wer in einem bestimmten Einzelfall durch mißbräuchliche Anwendung in seinen Rechten verletzt wird, kann sie in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren durchsetzen.“ (BVerfGE 1, 144).
    Die Regelung des § 2 GeschOBT könnte einer verfassungsrechtlichen Prüfung also durchaus standhalten, auch dann, wenn sie dazu führt, dass im Einzelfall eine Fraktion eben keinen Präsidenten stellt.
  • Schließlich könnte das Gericht aber auch den Standpunkt vertreten, dass die Mitwirkungsrechte der Fraktion einer im Bundestag – eben nicht für verfassungswidrig erklärten Partei – unbedingt verlangen, dass diese auch mit einem Vizepräsidenten vertreten ist. Kann dieser nicht über reguläre Wahl ermittelt werden, eben da andere Abgeordnete diese verhindern, müsste dann die GeschoBT um einen weiteren Weg ergänzt werden, einen Vizepräsidenten dieser Fraktion zu ermöglichen. Verfassungsrechtlich unbedenklich könnte nach hier vertretener Ansicht angesichts Art. 40 I S. 1 („Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer.„)
    hierbei allenfalls sein, dass die Wahl durch einen Wahlausschuss vorgenommen werden, wo es meist einfacher ist, Kompromisse zu finden. Fraglich ist, ob der Bundestag auf das Recht der Wahl verzichten könnte und über die Geschäftsordnung auf dieses Recht verzichten und hier andere Regelungen anwenden könnte, z.B. dass ein vorgeschlagener Kandidat mit einer qualifizierten Mehrheit abgelehnt werden muss oder bis zu einer erfolgreichen Wahl der Fraktionsälteste kommissarisch als Präsident fungiert.

Ich wage keine Prognose, wie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hier ausfallen könnte (na gut, wenn Sie mich festnageln, wird es die mittlere Variante werden). Auf jeden Fall wäre ein Gang nach Karlsruhe für die AfD mit Risiken verbunden – aber durchaus auch für die anderen Parteien resp. Fraktionen.

Wie der Konflikt vermeiden könnte

Auch wenn ich persönlich auf dem Standpunkt stehe, dass die AfD unter den aktuellen Umständen einen Vizepräsidenten stellen sollte, dürfte dies tatsächlich schwierig umzusetzen und durchsetzbar sein.

Wäre ich also Fraktionsgeschäftsführer – insbesondere der AfD – würde ich dieses Risiko daher gar nicht eingehen und einen Kompromiss suchen.

So gibt es durchaus Abgeordnete in anderen Parteien, die es für problematisch halten, dass die AfD entgegen der parlamentarischen Übung keinen Vizepräsidenten stellt. Warum also nicht einen aus einer anderen Fraktion – oder sogar einen fraktionslosen… – vorschlagen, die Interessen der AfD im Präsidium sozusagen treuhänderisch zu vertreten? Die GeschoBT besagt zwar, dass jede Fraktion mit mindestens einem Präsidenten vertreten sein soll, aber muss dieser auch aus der eigenen Fraktion kommen…? Dem Wortlaut der Norm nach wohl kaum. Unter Umständen ließe sich so ein für alle Fraktionen tragbarer Kompromiss finden – was ich aber für unwahrscheinlich hielte.

Eine andere Möglichkeit wäre, die Geschäftsordnung so anzupassen, dass möglichen verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Nichtbeteiligung einer Fraktion im Präsidium dadurch ausgeräumt werden. Dies könnte z.B. durch eine erweiterte Berichtspflicht an nicht vertretene Fraktionen und / oder eine Verpflichtung zur Anhörung bei bestimmten Entscheidungen geschehen.

So oder so sollte der Konflikt gelöst werden, denn so ein Dauerstreit steht unserer Demokratie nicht gut.

Anmerkung 2022: Vor drei Jahren schrieb ich noch, dass ich grundsätzlich auf dem Stanpunkt stehe, dass die AfD einen Vizepräsidenten stellen sollte. Mein Beweggrund war damals, dass ich auf dem Standpunkt stand, dass die Einbindung der AfD gegen deren Radikalisierung helfen würde. Inzwischen ist die AfD jedoch so abgedriftet, dass ich die Notwendigkeit einer Einbindung nicht mehr sehe.

Meinung: Für freie Abgeordnete

Das Abstimmungsproblem

Drastisch gesehen könnte man sich einen großen Bundestag (oder auch Landtage) mit vielen Abgeordneten sparen:

Nach den Wahlen entsenden die Parteien, die es ins Parlament geschafft haben, einfach einen Vertreter, der dann dem Wahlergebnis entsprechend viele Stimmen bekommt, die er dann bei den Abstimmungen entsprechend der Parteitagsbeschlüsse und des jeweiligen Koalitionsvertrages einsetzt. Die Ergebnisse wären nicht anders als derzeit, da die Fraktionen im Regelfall ja ohnehin blockweise abstimmen. Gut, das ist jetzt etwas polemisch und es gibt durchaus Sternstunden des Parlaments, in denen der Fraktionszwang aufgehoben ist, aber er ist leider der Regelfall und die Abgeordneten halten sich daran.

Hauptgrund dafür, dass die Abgeordneten sich den Abstimmungswünschen Ihrer Fraktionsführung unterwerfen, ist sicherlich, dass sie z.B. Sorge haben, nur auf einem schlechten Platz oder sogar gar nicht auf der nächsten Wahlliste zu stehen, wenn sie entgegen der Parteilinie abstimmen.

Die in Artikel 38 GG beschriebenen Abgeordneten, die „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind, sind mithin in der Realität kaum mehr zu finden.

Kein Wunder also, dass die Reden und Debatten im Bundestag inhaltsleer sind und das Interesse der Bürger daran kontinuierlich nachlässt, was auf Dauer gefährlich für die Demokratie ist.

Doch wie kann man das ändern?

Mehr geheime Abstimmungen

Eine naheliegende Lösung könnte sein, mehr geheime Abstimmungen durchzuführen – sie sind an sich nur für wenige Fallgruppen wie z.B. die Wahl des Bundeskanzlers vorgesehen.

So könnte man daran denken, dass grundsätzlich oder auf Antrag eines oder mehrerer Abgeordneter die Abstimmungen geheim erfolgen müssen.

Auch wenn man damit dem einzelnen Abgeordneten mehr Freiheit geben würde, werfen einige ein, dass die vom Grundgesetz beschriebene Demokratie Transparenz bedinge. Dazu gehöre eben auch, dass der Bürger wisse, wie sein Abgeordneter abstimme. Und tatsächlich wird bei besonders wichtigen Entscheidungen oftmals sogar namentlich abgestimmt und die Namenslisten sind online abrufbar.

Ich persönlich bin mir nicht sicher, ob nicht doch eher geheime Abstimmungen geboten wären – doch halte ich eine dementsprechende Änderung der GeschOBT und ggf. sogar des Grundgesetzes angesichts der dargestellten Bedenken für sehr unwahrscheinlich.

Fraktionen auflösen – oder zumindest verändern

Ein weiterer Ansatz ist, die Macht der Fraktionen in der derzeitigen Form zu beschränken.

Vorgebracht wird immer, diese wären für eine effiziente politische Arbeit notwendig. Und in der Tat sorgen Sie für eine hocheffiziente Politik – bei der alle Abgeordneten der vorgegebenen Parteilinie folgen. Angesichts neuer technischer Möglichkeiten halte ich Fraktionen grundsätzlich nicht mehr für notwendig. Zudem könnte der Bundestag seinen wissenschaftlichen Dienst ausbauen und damit den Abgeordneten die für ihre Arbeit benötigten Ressourcen zur Verfügung stellen.

Interessant könnte auch ein System sein, bei dem die bisherigen Ausschüsse durch themenbezogene Fraktionen ersetzt werden – z.B. die „Fraktion der Außenpolitiker“ oder gleich auch die „Fraktion der transatlantischen Außenpolitiker“, die „Fraktion der ostorientierten Außenpolitiker“, die „atomstromfreundlichen Energiepolitiker“ und die „bayerischen Bienenfreunde“.

Egal wie – eine Abschaffung der Fraktionen in der derzeitigen Form dürfte eine der wichtigsten Maßnahmen zur Belebung der politischen Kultur sein.

Wer kann überhaupt in den Bundestag?

Bleibt das Problem, dass letztlich die Parteien entscheiden, wer als Direktkandidat eines Wahlkreises oder über die Landeslisten in den Bundestag einziehen kann. Freilich können sich schon jetzt unabhängige Direktkandidaten zur Wahl stellen, doch haben diese in der Regel keine Chancen, da sie nicht über die Ressourcen verfügen, die die Parteien bieten können.

Vorstellbar wäre, eine dritte Kategorie an Abgeordneten einzuführen – die der unabhängigen Direktkandidaten. Bei der Bundestagswahl hätte man dann zusätzlich eine „Drittstimme“, mit der man einen unabhängigen Direktkandidaten des jeweiligen Wahlkreises in den Bundestag wählen kann.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass man ähnlich wie bei einigen Primaries oder Caucuses in den USA die Kandidaten der Parteien durch alle Wähler bestimmen lässt – also echte Vorwahlen.

Die radikalste Form wäre schließlich, die Parteien in der derzeitigen Form abzuschaffen. Auch wenn ich dies für wünschenswert hielte, ist mir bewusst, dass dies weder verfassungsrechtlich noch politisch durchsetzbar wäre.

Beschränkung der möglichen Legislaturperioden

Sinnvoll könnte zudem eine Beschränkung der möglichen Legislaturperioden des jeweiligen Abgeordneten sein, dies in Kombination mit der Verlängerung einer Legislaturperiode auf fünf Jahre und eine Begrenzung der Wiederwahlen des Kanzlers.

Ein MdB das weiß, dass es nur zwei oder drei mal in den Bundestag gewählt werden kann, wäre (zumindest in seiner letzten) Legislaturperiode gegen Fraktionszwang immuner. Zudem würde diese Einschränkung die Entstehung von karrieristischen „Berufspolitikern“ erschweren und zu „Abgeordneten“ im ursprünglichen Sinne des Wortes führen.

Aber auch hier ist zu befürchten, dass die Abgeordneten aus Eigeninteresse einer solchen Änderung nicht zustimmen werden.

Mehr Bürgerentscheide

Manche werden nun einwerfen, Bürgerentscheide auf Bundesebene würden doch auch für mehr Demokratie sorgen. Mir geht es hier jedoch um die Freiheit des einzelnen Abgeordneten und die würde dadurch allenfalls mittelbar betroffen.

Passieren wird nichts

Es gäbe viele Möglichkeiten, die Unabhängigkeit der einzelnen Bundestagsabgeordneten zu stärken. Passieren wird jedoch wohl nichts – denn diese Änderungen liegen nicht im Interesse der Fraktionsspitzen.

Langfristig wird dies jedoch dazu führen, dass politische Diskussionen nicht mehr im Bundestag geführt werden, sondern nur noch auf der Straße, im Internet und in Talkshows und sich das Parlament von der Lebenswirklichkeit mehr und mehr entkoppelt.

Meinung: Schafft die Hauptstadt ab

Die Berlinisierung der Politik

Vor einigen Tagen war ich zum ersten mal seit fast 10 Jahren wieder in Berlin. Man mag die Stadt nun mögen oder nicht, sie zieht einen in ihren Bann.

Einer meiner ersten Gedanken war, dass auch die letzten in Bonn verbliebenen Ministerien nach Berlin umziehen sollten – natürlich nicht ohne entsprechende Ausgleichsmaßnahmen für die Bundesstadt am Rhein. Anmerken sollte ich vielleicht noch, dass ich selber in Bonn lebe und selbst hoffentlich nicht mehr umziehen muss – ich will damit nur sagen, dass ich Bonn mag.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto falscher fand ich den Gedanken. Denn eine Stadt prägt die Menschen, die in ihr leben mehr als dass die Menschen die Stadt prägen. Und damit prägt die Stadt auch die Denkweise der Menschen. „Meinung: Schafft die Hauptstadt ab“ weiterlesen