Bonn in Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1905

Bonn, Stadt (Stadtkreis) im preuß. Regbez. Köln, liegt in reizender Gegend am linken Ufer des Rheins, über den hier eine 1898 vollendete schöne Brücke nach dem gegenüberliegenden Beuel führt, 50 m ü. M. ist Knotenpunkt der Staatsbahnlinie Köln-Koblenz und andrer Linien und hat 2 evangelische und 6 kath. Kirchen, eine englische Kirche und eine Synagoge. Unter den katholischen Kirchen ist das Münster, ein imposanter Tuffbau mit fünf Türmen (der Mittelturm 95 m hoch), die älteste und ausgezeichnetste.

Es ist teils im romanischen, teils im sogen. Übergangsstil erbaut, stammt in seiner jetzigen Form aus dem 11. bis 13. Jahrh. und ist seit 1847 restauriert. Die übrigen Kirchen sind: die Stiftskirche, 1879–81 neu erbaut, die Jesuitenkirche von 1693, die Minoritenkirche (1278–1318 erbaut), die Herz-Jesukirche von 1862 u. die 1892 vollendete Marienkirche. Von hervorragenden Profanbauten sind zu nennen: das 1717, bez. 1777 erbaute ehemalige kurfürstliche Schloß (jetzt Universität), das Rathaus (von 1737), das Theater, das Haus von E. M. Arndt in der schönen Koblenzer Straße, Beethovens Geburtshaus in der Bonngasse. Auf dem Münsterplatz steht Beethovens Bronzestandbild (von Hähnel modelliert) und auf dem sogen. Alten Zoll, einer ehemaligen Bastion, jetzt Gartenanlage am Rhein, das Arndtdenkmal (von Afinger). Sonst besitzt die Stadt noch ein Denkmal des altkatholischen Bischofs Reinkens. B. hat (1900) mit der Garnison (Königs-Husarenregiment Nr. 7 und ein Infanteriebataillon Nr. 160) 50,736 Einw., davon 10,937 Evangelische und 877 Juden. Die Industrie ist vertreten durch eine Steingutfabrik und Kunsttöpferei, Jutespinnerei und-Weberei, Dampfsägewerke, Fabriken für Fahnen, Zement, Besenwaren aus Reisstroh, Korbmöbel etc., Bierbrauerei, Gerberei, Obst- und Gemüsebau etc. Der Handel, unterstützt durch die Handelskammer, eine Reichsbanknebenstelle, die Bonner Bank und andre Bankinstitute, ist besonders lebhaft in Wein. Unter den wissenschaftlichen Anstalten nimmt die Universität (s. unten) die erste Stelle ein; sie zählte im Wintersemester 1902/1903: 159 Dozenten und 2214 Studierende. Das Universitätsgebäude enthält die Bibliothek von über 230,000 Bänden, die Münzsammlung (ca. 4000 römische u. griechische Münzen) und das rheinische Museum für vaterländische Altertümer, das physikalische Institut und die schöne Aula mit großen Freskobildern. Außerdem gehören zur Universität: das akademische Kunstmuseum (1884), ein chemisches Laboratorium (1868 vollendet), eine Anatomie, ein physiologisches, ein pathologisches und pharmakologisches Institut, 5 klinische Anstalten und eine Sternwarte. In dem benachbarten Poppelsdorfer Schloß (s. Poppelsdorf) am Fuße des Kreuzbergs befindet sich das naturhistorische Museum sowie das botanische Institut der Universität. In einem dem Schloß gegenüberliegenden Gebäude sind die landwirtschaftliche Akademie und das dazu gehörige chemische Laboratorium untergebracht. An sonstigen Bildungsanstalten hat B. ein katholisches Konvikt (Collegium Albertinum), ein königliches und ein städtisches Gymnasium, letzteres verbunden mit Oberrealschule, ferner ein Provinzialmuseum, eine Privatirrenanstalt,[205] eine städtische Irrenanstalt, 2 Waisenhäuser, eine Provinzialirrenanstalt etc. Der Naturhistorische Verein für Rheinland und Westfalen, die Niederrheinische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde, der Verein von Altertumsfreunden im Rheinland, der Landwirtschaftliche Verein für die Rheinprovinz u. a. haben hier ihren Sitz. Auch befinden sich daselbst ein Oberbergamt, ein Land- und Schwurgericht und das Landratsamt für den Landkreis B., die Landwirtschaftskammer der Rheinprovinz sowie der altkatholische Bischof. Die städtischen Behörden zählen 5 Magistratsmitglieder und 30 Stadtverordnete. In der mit den prachtvollsten Promenaden geschmückten Umgebung der Stadt ist zunächst der alte Kirchhof (vor dem Sternentor im W.) mit der 1847 von der Kommende Ramersdorf hierher versetzten zierlichen Deutsch-Ordenskapelle (aus dem 13. Jahrh.) wegen seines Reichtums an Gräbern berühmter Männer (B. G. Niebuhr, A. W. v. Schlegel, die Gebr. Boisserée, R. Schumann, E. M. Arndt u. a.) bemerkenswert. Auch ruhen daselbst Schillers Gattin Charlotte (gest. 1826) und Schillers ältester Sohn, Ernst (gest. 1841). Ein Kriegerdenkmal in karrarischem Marmor (1877 von Küppers in Rom) und ein monumentaler Brunnen nach Afinger (1879) zieren den Kirchhof. Außerdem sind der Kreuzberg mit einer 1627 erbauten berühmten Wallfahrtskirche und schöner Aussicht, weiter entfernt Godesberg, Rolandseck, der Drachenfels etc. Glanzpunkte in der Umgebung der Stadt. Neuere Ausgrabungen haben einen Teil des umfangreichen römischen Castrum am Rhein bloßgelegt. – Zum Bezirk des Landgerichts B. gehören die neun Amtsgerichte zu B., Eitorf, Euskirchen, Hennef, Königswinter, Lechenich, Rheinbach, Siegburg und Waldbröl.

B. ist römisch-keltischen Ursprungs. An die von Tacitus erwähnten »Castra Bonnensia«, die Drusus gegründet haben soll, lehnte sich ein (vorrömischer) keltischer Ort B. an. 70 n. Chr. wurden in der Nähe die Römer unter Herennius Gallus von den Batavern geschlagen. Im 4. Jahrh. zerstört, wurde die Stadt durch Kaiser Julian wieder aufgebaut, dann aber in den Kämpfen der Völkerwanderung öfter, zuletzt 869 von den Normannen, verwüstet. Hier schloß Heinrich I. mit König Karl von Frankreich 921 einen Freundschaftsbund. Befestigt wurde die Stadt vom Erzbischof Konrad von Hochstaden, und Engelbert II. von Falkenburg, von den Kölnern vertrieben, verlegte um 1265 seinen Wohnsitz nach B., das auch bis 1794 erzbischöfliche Residenz blieb. Die Stadt wurde 1673 von den Kaiserlichen und Niederländern, 1689 vom Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg, im Spanischen Erbfolgekrieg von Marlborough und dem Holländer Coehoorn erobert. 1717 wurden die Festungswerke geschleift. Im Oktober 1794 wurde B. von den Franzosen besetzt, kam durch den Lüneviller Frieden 1801 an Frankreich und 1814 an Preußen. Die schon 1777 begründete und 1786 eröffnete Universität wurde von Napoleon I. aufgehoben und erst 18. Okt. 1818 von König Friedrich Wilhelm III. wiederhergestellt. Vgl. Ritter, Entstehung der drei ältesten Städte am Rhein: Köln, B. und Mainz (Bonn 1851); Hundeshagen, Die Stadt und Universität B. (das. 1852); Hesse, Geschichte der Stadt B. während der französischen Herrschaft 1791–1815 (das. 1879); v. Sybel, Die Gründung der Universität B. (das. 1868); »Bilder aus der Geschichte von B.« (hrsg. von Hauptmann, das. 1887–97, 9 Tle.); Führer von Hesse (10. Aufl. 1901) und Hauptmann (1900).

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 205-206.

Eintrag „Prostitution“ in Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1908

Prostitution (lat.), die von einem Weib öffentlich gewerbsmäßig betriebene Preisgebung des eignen Körpers gegen Entgelt an jeden Beliebigen. Zwischen dieser Form des geschlechtlichen Verkehrs und dem in einer aus Liebe geschlossenen Ehe liegen sehr viele andre, die je nach dem Standpunkte des Beurteilenden auch zur P. gerechnet werden oder nicht. Jedenfalls hat man zu unterscheiden zwischen der öffentlichen P. und einer geheimen, die sich unter irgend einem Deckmantel verbirgt. Die P. findet sich schon im Altertum und bei sehr vielen Naturvölkern. Oft war und ist die P. mit dem religiösen Kultus verbunden. In Babylon zwang das Gesetz jede Frau, sich einmal in ihrem Leben im Tempel der Venus (Istar-Beltis, Mylitta) einem Fremden gegen eine Geldspende preiszugeben. Ähnliches findet sich im Kultus der westasiatischen Astarte, der altpersischen Anaitis und der kyprischen Aphrodite. Auch Ägypten hatte seine heilige P. Der Venustempel in Korinth beherbergte mehr als tausend der Göttin geweihte Mädchen, und allgemein war es Sitte, der Göttin eine Anzahl Mädchen zu weihen, wenn man sie anflehte oder ihr dankte. Solon, der die reichen Einnahmen der Tempel dem Staate zuwenden wollte, gründete das Dikterion, das er mit Sklavinnen bevölkerte. Während aber die Dikteriaden den erotischen Bedürfnissen des niedern Volkes dienten und die Aleutriden als Flötenspielerinnen, Sängerinnen und Tänzerinnen bei Gastmählern erschienen, waren die Hetären durch Schönheit, seine Erziehung und Bildung hervorragende Mädchen, die dem ästhetischen Enthusiasmus der Griechen entgegenkamen und vielfach für die Kunst, die Literatur und die Geschichte des Landes bedeutungsvoll wurden. Die Patriarchen und Propheten des Alten Testaments bezeugen, daß zu ihrer Zeit schon P. bestand (1. Mos. 34,31; 38,15); doch war die P. den Töchtern Israels untersagt. Viel verbreitet war im Altertum und ist bei manchen Völkern noch jetzt die gastliche P., bei der die Frau des Wirtes oder irgend ein andres Weib dem Gaste zur Verfügung gestellt wird. Die Römer hatten öffentliche staatliche und private Freudenhäuser (lupanaria und fornices) sowie selbständige Lustdirnen (meretrices und prostibulae), und in ihren Bädern pflegten sich feile Frauen einzufinden. Der keusche Sinn, die Sittsamkeit und Ehrbarkeit, die den Frauen und Mädchen der alten Germanen in hohem Grad eigen war, ging zu einem größern Teil mit dem Eindringen römischer Kultur und in der Berührung mit andern Völkern verloren. Zwar suchten die christlichen Gesetzgeber und Regenten dem Übel zu steuern (so gab Karl d. Gr. in seinen Kapitularien das erste Beispiel einer übertriebenen Strenge), allein trotz der harten Strafen (Brandmarken und Abschneiden der Nase), mit der 1158 auch Friedrich I. Barbarossa die Unzucht verfolgte, war doch nichts häufiger als liederliche Frauen und Frauenhäuser. Hierzu trugen die Kreuzzüge wesentlich bei, und das europäische Mittelalter kannte neben der zarten Minne auch die P. in ihrer widerwärtigsten Gestalt. Man sah im Mittelalter die P. als einen notwendigen Teil des staatlichen Organismus an und strebte in den Städten dahin, das Verhältnis zwischen P. und Stadtregiment[389] auf Grund eines gegenseitigen Vertrags zu ordnen. Die Obrigkeit kontrollierte an manchen Orten die Frauenhäuser (Jungfernhöfe, Bordelle, vom angelsächsischen borda, »Haus«) und nahm die Wirte (Rufsiane), die Bedienstete des Rats waren, in Pflicht und Eid, daß sie die nötige Anzahl von Frauen (törichte Dirnen, fahrende Frauen) vollständig hielten; anderwärts gab man den Prostituierten eine Zunftordnung, erhob aber von ihnen Gefälle und stellte sie unter Aussicht des Stockmeisters oder Henkers. Überall aber bediente man sich der öffentlichen Buhlerinnen ohne Scham und Scheu. Das Konzil zu Konstanz (1414) lockte nicht weniger als 1500 feile Frauen herbei. Noch im Dreißigjährigen Kriege folgten den Heeren große Scharen von Dirnen. Viele Städte duldeten in den Bordellen nur heimische, andre nur fremde Mädchen. Es bestand ein schwunghafter Mädchenhandel (s. Kuppelei und Mädchenschutz) auch nach auswärts, besonders nach Venedig, London, Bergen; am begehrtesten waren schwäbische und sächsische Mädchen. Dieser Mädchenhandel hat sich bis in die Gegenwart erhalten und betrifft jetzt namentlich auch Böhminnen, Galizierinnen, Ungarinnen etc. Zu seiner Unterdrückung werden vielfach nur heimische Mädchen polizeilich geduldet. – In Indien ist die P. überall, wo noch alte wahre Frömmigkeit herrscht, religiös geregelt. Die Mädchen geben sich einem Gotte hin, der sich durch seinen Priester vertreten läßt, und dann dürfen sie dieselbe Gunst allen Leuten ihrer Kaste erweisen. Die höchsten Ehren genießen die Tempelmädchen der beiden obern Kasten, die eigentlichen Bajaderen (s. d.), während die Nautsch- oder Tanzmädchen aus den untern Klassen stammen und sich einem größern Kreise von Männern widmen können, da nur der Umgang mit einem niedern, nicht mit einem höhern Kastner schändet. Die Almehs in Ägypten sind wie die Puzen auf Java und die Sives in Polynesien Vertreterinnen der gemeinen P. In schlimmster Weise treiben das Geschäft der P. die Blumenmädchen in China, die teils in Blumenbooten auf dem Wasser, teils in blauen Häusern auf dem Lande Gäste empfangen; dort werden gestohlene oder von ihren Eltern verkaufte Kinder lediglich zur P. herangebildet. Auch in Japan verkaufen unbemittelte Leute ihre Töchter in die Teehäuser, die unter dem Schutze der Regierung stehen; Sinagawa, eine Vorstadt Tokios, wird nur von Freudenmädchen bewohnt; allein kein Schimpf ist mit dem Gewerbe verknüpft, die Dirnen sind sogar sehr gesucht als Frauen und leben später in der Ehe unbescholten.
Die P. entspringt zweifellos der Nachfrage seitens des Mannes, dessen geschlechtliches Bedürfnis sich lebhafter äußert als das des Weibes und dessen Natur von Haus aus etwas polygam ist. Neben dieser physiologischen Wurzel hat die P. aber eine nicht minder starke soziale. Unsre Verhältnisse gestatten sehr vielen Männern nicht, im frühen Mannesalter eine Ehe zu schließen, und viele Ehen sind nicht derart, daß sie den Mann vom außerehelichen geschlechtlichen Verkehr ab halten. Die Mädchen geraten fast immer, wenigstens in den meisten Fällen, durch die Not des Lebens, durch äußere Verhältnisse auf die schiefe Ebene. In den untern Ständen leben vielfach beide Geschlechter zusammen, ohne sich um die Regeln zu kümmern, an die sich die obern Stände zu binden pflegen. Von P. kann hierbei keine Rede sein, die Verhältnisse sind meist monogamisch und die Mädchen werden zum großen Teil gute Mütter, brauchbare Hausfrauen und meist treue Gattinnen. Wird aber das Mädchen, nachdem es Mutter geworden ist, von dem Manne verlassen, dann gerät es meist in bittere Not. Ein sehr großer Teil der industriellen weiblichen Arbeit (Konfektionsbrauche, Hausindustrie, Kellnerinnen etc.) wird so schlecht bezahlt, daß bei angestrengtester Tätigkeit der Verdienst alleinstehender Mädchen nicht ausreicht, den dürftigsten Lebensunterhalt zu bestreiten. Nur kräftige Naturen werden in solchen Fällen der sich reichlich bietenden Verlockung widerstehen. Kommen aber Leichtfertigkeit, Putzsucht, Genußsucht hinzu, dann verfallen solche Mädchen sehr schnell der P. Nun gibt es auch viele geistig anormale, moralisch minderwertige, zu jeder Arbeit unbrauchbare (degenerierte) Mädchen, und diese ergeben sich ohne weiteres und sehr früh der P. in ihrer abschreckendsten Form. Es wäre aber ganz falsch, wenn man alle prostituierten Mädchen als Degenerierte bezeichnen wollte. Oft genug geraten Mädchen von guter Erziehung und guter Herkunft als Opfer raffinierter Verführung unter die Prostituierten, und zur geheimen P. bis hinauf zu den eleganten Vertreterinnen der großstädtischen Halbwelt gehören Frauen von hoher Intelligenz ohne jede Spur eines geistigen Defekts.
Die P. wird in verschiedener Weise betrieben. Die Mädchen wohnen allein, auch wohl zu zweien oder dreien bei einer Kupplerin, dienen in Kneipen oder sind durch polizeiliche Maßregeln zusammengedrängt. Wenn sie als Schlafgängerinnen unter beschränktesten Verhältnissen in Familien mit Kindern wohnen, so werden diese in hohem Grade moralisch gefährdet, auch das Treiben der Mädchen auf den Straßen wirkt verführerisch auf jugendliche Personen. Die größte Gefahr der P. liegt aber in der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten (Tripper, Syphilis; s. Geschlechtskrankheiten), und man hat sich deshalb seit den frühesten Zeiten bemüht, die P. zu unterdrücken oder einzudämmen. Völlige Unterdrückung erscheint ausgeschlossen, alle derartigen Versuche sind mißlungen. Das Hervortreten der P. schwankt auf und ab, es hat Zeiten gegeben, in denen sie in erschreckender Weise herrschte, und andre, in denen sie sich wenig bemerkbar machte. Man schätzt heute die Zahl der Prostituierten in Berlin auf 40,000, in London auf 60,000, doch sind diese und ähnliche Zahlen ganz unzuverlässig. Gegenwärtig bewegt sich die öffentliche Sittlichkeit bei uns in aufsteigender Richtung und man hat gegenüber frühern Zeiten kein Recht, über zunehmende Verwilderung zu klagen. Vollkommen berechtigt sind aber die Bemühungen zur Einschränkung der P. Freilich hat sich gezeigt, daß die heimliche P. ganz allgemein in umgekehrtem Verhältnis zur öffentlichen P. steht und dort am zügellosesten herrscht, wo die öffentliche P. unterdrückt wird. Sie steckt dann alle Gesellschaftsklassen und selbst das Familienleben an. Man hat deshalb gewissermaßen mit der P. paktiert, sie unter gewissen Kautelen als unvermeidlich anerkannt. Nach der aus Frankreich stammenden Reglementierung werden Frauenzimmer, die freiwillig erklären, daß sie P. ausüben wollen, oder die derselben überführt worden sind, in eine Liste eingetragen, »ein geschrieben« (eventuell nach vorheriger Verwarnung und Mitteilung dieser Verwarnung an Eltern und Vormünder); sie müssen sich dann zu einer regelmäßigen körperlichen Untersuchung, einer »Kontrolle«, einstellen, und sie werden, falls sie hierbei als krank sich erweisen, zur Behandlung und Heilung einem Krankenhaus überwiesen. Daneben bestehen sitten polizeiliche Vorschriften, die sich auf die Wohnungen der Dirnen, auf die Art ihres Verkehrs in der Öffentlichkeit, Besuch von Konzerten, Theatern, Lokalen,[390] Betreten gewisser Straßen etc. beziehen. Nach dem Bordellsystem müssen die Dirnen in Häusern (Bordelle, Toleranzhäuser) wohnen, die von Wirten unter polizeilicher Kontrolle unterhalten werden, und in denen sie regelmäßig ärztlich untersucht werden. Statt in Bordelle, die gesetzlich verboten, aber polizeilich geduldet werden, hat man auch die Prostituierten in Kontrollstraßen verwiesen, in denen sie ihre Freiheit und Selbständigkeit bewahren, beliebig die Wohnung wechseln können und unabhängig von einem Bordellwirt bleiben. Die Ansichten über den Wert dieser Einrichtungen, die von internationalen Kongressen wiederholt empfohlen worden sind, gehen trotzdem sehr weit auseinander. Gewisse Vorteile sind unverkennbar, aber es lassen sich auch sehr große Mängel gar nicht übersehen und vielfach wird jeder Nutzen bestritten. Statistische Zahlen werden für und wider jene Einrichtungen angeführt. Tatsache ist, daß die Zahl der Bordelle überall abnimmt, und daß die Anzahl der reglementierten Frauenzimmer immer nur einen kleinen Teil der gesamten P. bildet (in Berlin etwa ein Zehntel). Obigen Bestrebungen gegenüber steht der Abolitionismus, der die besondern Zwangs- und Strafbestimmungen verwirft und der P. volle Freiheit geben will, solange sie nicht gegen die allgemeinen Gesetze verstößt. Er hat im Lauf der letzten Jahre in vielen europäischen Ländern, wie in England, Belgien, Holland, der Schweiz, Schweden und Norwegen, Eingang gefunden. Er verwirft die P., will sie aber mit mildern und liberalen Mitteln bekämpfen. Allgemein wird anerkannt, daß zur Bekämpfung der P. wesentlich gehören die Besserung der Wohnungsverhältnisse der unbemittelten Klassen und des Schlafstellenwesens, die Bekämpfung des Alkoholismus, der zum großen Teil die Degeneration der Nachkommenschaft verschuldet, und die Steigerung der Löhne für Frauenarbeit. Preußen bietet durch sein Fürsorgegesetz vom 1. Juli 1900 die Möglichkeit, für jugendliche Mädchen einzutreten, sie vor Verführung zu bewahren. Notwendig sind Einrichtungen, daß alle Geschlechtskranke Gelegenheit finden, sich diskret, sachgemäß und unentgeltlich behandeln zu lassen, sehr wirksam würde auch die strafrechtliche Verfolgung von Männern und Frauen wegen Übertragung von Geschlechtskrankheiten sein. In weitern Kreisen verspricht man sich auch große Erfolge von ethischen Bestrebungen unter der Jugend. Segensreich wirken Asyle für Prostituierte, die ins bürgerliche Leben zurücktreten wollen (Magdalenenstifter, s. d.). – Über die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten s. »Geschlechtskrankheiten«.
Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich bedroht im § 361 mit Hast Weibspersonen, die wegen gewerbsmäßiger Unzucht polizeilicher Aussicht unterstellt sind, wenn sie den in dieser Hinsicht erlassenen polizeilichen Vorschriften zuwiderhandeln, oder die, ohne solcher Aussicht unterstellt zu sein, gewerbsmäßig Unzucht treiben. Der § 180 des Strafgesetzbuches verbietet das Halten von Bordellwirtschaften, das nach Entscheidung des Reichsgerichts vom 29. Jan. 1883 selbst bei polizeilicher Erlaubnis strafbar ist. – In Österreich fordert das Strafgesetz vom 24. Mai 1885 die Bestrafung von Weibspersonen, die mit ihrem Körper unzüchtiges Gewerbe treiben, durch die Polizei. Letztere wird jedoch ermächtigt, die P. unter Umständen und bei Befolgung gewisser Vorschriften zu dulden. Gerichtlich bestraft wird nur qualifizierte P.
Vgl. Paul Lacroix (s. d. 2), Histoire de la p. (Par. 1851–54, 6 Bde.; deutsch, Berl. 1901–02, 6 Bde.); Parent-Duchâtelet, De la p. dans la ville de Paris (3. Aufl., Par. 1857, 2 Bde.; deutsch, Freiburg 1903); Hügel, Zur Geschichte, Statistik und Regelung der P. (Wien 1865); Jeannel, Die P. in den großen Städten im 19. Jahrhundert etc. (deutsch, Erlang. 1869); Lecour, La p. à Paris et à Londres 1789–1871 (3. Aufl., Par. 1877); Desprès, La p.en France (das. 1883); Dupouy, La p. dans l’antiquité (5. Aufl., das. 1906); Kühn, Die P. im 19. Jahrhundert etc. (4. Aufl. von Reich, Leipz. 1892); Duboc, Die Behandlung der P. im Reich (3. Aufl., Magdeb. 1879); Sailer, Die Magdalenensache in der Geschichte (das. 1880); Schrank, Die P. in Wien (Wien 1886, 2 Bde.) und Die amtlichen Vorschriften betreffend die P. in Wien (das. 1899); Stursberg. Die P. in Deutschland (Düsseld. 1887); Tarnowsky, P. und Abolitionismus (Hamb. 1890); Lombroso und Ferrero, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte (deutsch, das. 1894); Schmölder, Die gewerbsmäßige Unzucht und die zwangsweise Eintragung in die Dirnenlisten (Berl. 1894); Ströhmberg, Die P. (Stuttg. 1899) und Die Bekämpfung der ansteckenden Geschlechtskrankheiten im Deutschen Reich (das. 1903); Blaschko, Hygiene der P. und der venerischen Krankheiten (Jena 1901); Fiaux. La p. cloitrée (Brüssel 1902); »Geschlechtskrankheiten und P. in Frankfurt a. M.« (Frankf. 1903); Fischer, Die P., ihre Geschichte und ihre Beziehungen zum Verbrechen (Stuttg. 1903); Bettmann, Die ärztliche Überwachung der Prostituierten (Jena 1905); v. Düring, P. und Geschlechtskrankheiten (Leipz. 1905). Der 2. Band der dem Internationalen Brüsseler Kongreß von 1899 vorgelegten Druckschriften enthält das Ergebnis der Erhebungen über den Stand der P. in den Kulturländern.