Meinung: Was am Westfernsehen-Vorwurf dran ist – und was nicht

Der ehemalige Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans Georg Maaßen, hat auf twitter geschrieben, dass die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) für ihn sowas wie Westfernsehen sei.

Für die jüngeren Leser: Da die Medien in der ehemaligen DDR nicht offen berichtet haben, hat man ARD und ZDF, also Westfernsehen, gesehen, um unzensiert informiert zu sein.

Dass es in der Bundesrepublik nur eine gesteuerte, gleichgeschaltete Medienlandschaft gibt, wird freilich außer einigen strammen Rechten oder Reichsbürgern niemand behaupten – ein entsprechender Vorwurf ist grotesk und absurd.

Ich habe mir den Spaß gemacht, das Aufkommen des Begriffs „Westfernsehen“ auf twitter näher zu untersuchen. Zwischen 2008 und 2015 wird er nur selten und meistens scherzhaft benutzt. Ab 2016 mehr und mehr und auch fast nur in einem Zusammenhang:

Den Folgen der Asylsituation 2015.

Anscheinend haben viele Menschen nicht nur aus dem rechten sondern auch aus dem gemäßigten bürgerlich konservativen Lager das Gefühl, dass über – natürlich auch vorhandene – negative Folgen nicht hinreichend oder objektiv berichtet würde. Vielmehr müsse man ausländische Medien wie die schweizerische NZZ konsumieren, um vollumfänglich informiert zu sein.

Ohne es genau untersucht zu haben – der Eindruck, dass über die Folgen des Jahres 2015 unkritisch und teils schon fast ideologisch berichtet wird, drängt sich auch mir bei vielen deutschen Medien auf. Ob vollkommen zu Recht oder Unrecht, weiß ich letztlich nicht, die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte.

Dieses Unbehagen treibt aber viele Menschen journalistisch und politisch fragwürdigen Blogs und Seiten zu und erschüttert das Ansehen der Presse.

Und so wäre auch mein Wunsch, dass einfach sachlich berichtet und gesagt wird, was ist.

Bild: Das „West-Sandmännchen“ von Max Sammet – https://www.flickr.com/photos/mooxle/3143591561/, CC BY-SA 2.0, Link

Seit 2008: Westfernsehen auf twitter – oder die Entwicklung eines Schlagworts

  1. Der erste tweet, in dem das Wort Westfernsehen vorkommt, stammt ausgerechnet vom 3. Oktober 2008 und lautet: „Genosse Gantzke guckt Westfernsehen.“ – das ist dann auch der einzige zum Thema aus diesem Jahr und läßt mich etwas ratlos zurück.
  2. 2009 gab es immerhin schon rund 60 tweets mit dem Begriff. Der beliebteste:
    „Internet ist das neue Westfernsehen.“ Irgendwie vorausschauend, oder?
  3. Auch 2010 halten sich die Westfernseh-tweets in Grenzen. In Abwandlung zum vorigen heißt es nun aber schon konkretertwitter ist das neue Westfernsehen„. Sonst keine besonderen Vorkommnisse, bis auf diesen: „Manchmal habe ich das Gefühl, die Merkel bastelt sich eine BRD, wie sie sie aus dem Westfernsehen der 80er kennt.
  4. Und auch 2011 wird „Westfernsehen“ ähnlich benutzt: „Mein Verdacht verstärkt sich, dass die aktuellen Machthaber das Internet ähnlich sehen wie in der DDR das Westfernsehen.“ und Al Jazeera sei Westfernsehen für Ägypten.
  5. Der Westfernseh-Top-Tweet 2012: „In der DDR war nicht alles schlecht, man könnte Westfernsehen schauen ohne dass die GEZ geklingelt hat.“ Und ein anderer meint: „Diese diebische Freude, ab und zu ein freies Internet zu haben hier in China.So muss sich Westfernsehen in der DDR angefühlt haben.
  6. 2013 wird ein Westfernseh-tweet richtig erfolgreich: „#Youtube wegen #GEMA-Sperren mit Proxy zu sehen ist das neue Westfernsehen.“ Richtig viel scrollen muss man aber immer noch nicht, um alle Westfernseh-tweets zu lesen.
  7. Auch wenn es 2014 mehr und mehr tweets mit dem Wort „Westfernsehen“ gibt, kann sich keiner wirklich hervortun.
  8. Eine Entwicklung, die sich 2015 fortsetzen sollte, denn es bleibt weitgehend unpolitisch: „Es regnet. Meine Zimmerpflanzen gucken sehnsüchtig durchs Fenster.So muss es damals in der DDR mit Westfernsehen gewesen sein.
  9. Doch 2016 ändert sich das. Am 6. Juli des Jahres heißt es zum ersten mal auf twitter: „Je mehr ich die NZZ Neue Zürcher Zeitung lese, desto mehr liebe ich sie. Sie ist das neue „Westfernsehen„.
  10. Im Jahr 2017 heißt es das dann auf breiter Front. Das „Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft“ aus der Schweiz veröffentlicht eine Studie zum Phänomen.
  11. Die Vereinnahmung des Begriffs aus dem Umfeld der AfD geht weiter: „Nun geht es los… #AfDBPT „Ich fühle mich immer wieder an die letzten Tage der DDR erinnert. Und die #AfD ist also das aktuelle Neue Forum. Schweizer Zeitungen sind das neue Westfernsehen. Carl Eduard heißt heute Klaus…“ #Gauland„. Doch auch die andere politische Seite entdeckt den Begriff im Zusammenhang mit den Vorfällen in Chemnitz: „Kann man in Dresden eigentlich immer noch kein Westfernsehen empfangen? Das wäre für mich die einzige Erklärung dafür, dass #Kretschmer behauptet, im Chemnitz habe kein Mob stattgefunden„. Und am 12. September 2018 wird Hans Georg Maaßen zum ersten mal in dieser Causa im Zusammenhang mit Westfernsehen genannt, doch lesen Sie selbst…
  12. Jetzt – im Jahr 2019 – brechen die Dämme. Nachdem jetzt auch Ex-Verfassungsschutzchef Maaßen twittert, dass die NZZ für ihn Westfernsehen sei, berichtet sogar die Bild darüber und das Thema wird breit diskutiert…