Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum am 25. Januar 2006 in Davos

Der kreative Imperativ

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
lieber Herr Schwab,
meine Damen und Herren!

Ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung bedanken, anlässlich der Eröffnung dieses Forums zu sprechen. Ich weiß, dass dies eine große Ehre für Deutschland ist, und ich freue mich, dass ich hier sein kann.

Der Titel „Der kreative Imperativ“ wird viele erst einmal an Immanuel Kant und seinen „kategorischen Imperativ“ erinnern, der damals zum selbstbestimmten Umgang mit der menschlichen Freiheit aufgerufen hat. Kreativer Imperativ – das klingt vielleicht kompliziert, aber ich verstehe es einfach so: Es gibt in unserer Zeit die unbedingte Notwendigkeit – man kann fast sagen, den Zwang – zum Kreativen. Dies sollte eigentlich immer Triebkraft zumindest vernünftiger Politik sein, wenn ich für das spreche, für das ich zuständig bin. Aber ich glaube, dass heute mehr denn je gilt: Wer im Wettbewerb der Ideen besteht, der kann auch seine Zukunft gestalten, und das gilt für jeden in dieser Welt.

Wir sprechen im Augenblick in Deutschland, gerade auch in Vorbereitung auf die Fußball-Weltmeisterschaft, von Deutschland als dem Land der Ideen. Manche sagen angesichts der Probleme – das Problem Nr. eins ist die Arbeitslosigkeit -, die wir haben: „Ideen, einfach so dahin gesprochen, sind schön und gut!“ Ich glaube, von Ideen allein können wir nicht leben, sondern wir müssen auch zeigen, dass wir diese Ideen anschließend in die Tat umsetzen können – jeder an seinem Platz, in Deutschland, in Europa und in der Welt.

Ich möchte, dass Deutschland, wenn ich für mein Land sprechen kann, in den nächsten zehn Jahren wieder unter die ersten Drei in Europa kommt – was Wachstum, was Beschäftigung und was Innovation anbelangt. Wir sagen und wir machen das. Ich glaube daran, dass wir es schaffen können, aber ich sage auch, dass es von entscheidender Bedeutung für Europa sein wird, ob Deutschland dies schaffen kann. Ideen in die Tat umzusetzen, hört sich gut an, aber zur Wahrheit gehört bei einer klaren Analyse natürlich auch, dass es bei uns an vielen Stellen eine selbstverschuldete Lähmung gibt: Hier ein Hindernis, dort ein Hindernis, dies geht nicht, jenes geht nicht. Das heißt, ich habe das Gefühl, wenn ich über Deutschland spreche, dass wir mehr Freiraum brauchen, genauer gesagt, dass wir mehr Freiheit brauchen.

Da wir das Ziel erreichen wollen, in zehn Jahren bei Wachstum, Beschäftigung und Innovation wirklich wieder vorne zu sein, werbe ich in meinem Land wieder und wieder für eine eigentlich alte Weisheit: Arbeit – das ist unser zentrales Problem in Deutschland – braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit. Das heißt eben, dass man Bremsen löst, dass man Hindernisse aus dem Weg räumt, dass man die Fenster aufmacht, dass man wieder durchatmet, dass man zuerst einmal die Chancen von Entwicklung und nicht zuerst die Risiken sieht. Das ist eine verantwortete Freiheit – keine Freiheit von etwas, sondern die Freiheit zu etwas.

Deshalb habe ich im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf diese Rede nicht nur an Immanuel Kant gedacht, sondern ich habe auch noch an einen Amtsvorgänger gedacht, nämlich an den Vater der Sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard. Er hat uns 1948 gesagt: „Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf der Ordnung.“ 1957 hat er in seinem Buch „Wohlstand für alle“ geschrieben: „Ich will mich aus eigener Kraft bewähren. Ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“

Eigene Kraft und der Staat als ordnende Kraft – das sind die beiden Pole der Sozialen Marktwirtschaft. Diese Sätze von Erhard aus den Jahren 1948 und 1957 haben für mich nichts, aber auch gar nichts an Aktualität verloren. Sie kennzeichnen den Anspruch einer bahnbrechenden Idee der erfolgreichsten und menschenwürdigsten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die es aus meiner Sicht je gegeben hat, nämlich der Sozialen Marktwirtschaft. Das ist auf der einen Seite das Vertrauen in den mündigen Bürger und auf der anderen Seite der Gedanke des sozialen Ausgleichs als Eigenschaft des mündigen Bürgers. Geistiges Fundament ist die Idee der verantworteten Freiheit. Dies war die Lehre aus bitteren Erfahrungen, aus Ausbeutung, Massenarbeitslosigkeit und Kriegen. Und es blieb in Deutschland eben nicht bei der Idee, sondern sie wurde auch in die Tat umgesetzt. Daraus entstand das, was man in Deutschland das Wirtschaftswunder nennt.

Wie steht es heute? Heute ist es so, dass wir mit vielen Problemen kämpfen, zum Beispiel mit einer erschreckend hohen Arbeitslosigkeit in Europa. Viele, und zwar genau die, die den Wettbewerb spüren und um ihren Wohlstand bangen, aber auch die, die Angst haben, an der Wohlstandsentwicklung nicht teilnehmen zu können, empfinden die Globalisierung als eine Gefahr, als eine Bedrohung. Sie haben Ängste.

Es ist ja auch wahr, dass sich die Welt rapide verändert hat, beginnend mit dem Ende des Kalten Krieges – für uns in Deutschland mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November verbunden -, fortgesetzt oder begleitet, vielleicht sogar hervorgerufen, durch die Entwicklung des Internets und die Tatsache, dass das Kapital heute in jeden Winkel der Welt dringt, dass Informationen alles durchdringen und Freiheit damit auch lebbar wird. Wir sehen die Tatsache, dass die Industriestaaten heute 20 Prozent der Weltbevölkerung stellen, aber 70 Prozent des Energieverbrauchs in Anspruch nehmen. Wir wissen, dass mehr als eine Milliarde Menschen weniger als den Gegenwert eines Dollars zum Leben hat. Wir hören von atemberaubenden Wachstumsraten in China; gerade dieser Tage hören wir von fast zehn Prozent. Das alles sind Dinge, die auf einen Umbruch hindeuten und zeigen, dass wir in einer Zeit des Wandels leben.

Vor etwa 200 Jahren wurde in Europa durch den Wandel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft ein ganz deutlicher qualitativer Wechsel spürbar. Ich glaube, dass wir heute in einer Zeit leben, in der sich die Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft wandelt, dass dieser Wandel schon weit fortgeschritten ist und uns diese Tatsache wieder vor qualitativ neue Herausforderungen stellt, vor die Herausforderung, dass wir neu denken müssen.

Wir müssen vor diesem Hintergrund miteinander – dabei sind wir alle aufeinander angewiesen – eine zentrale Frage beantworten: Welchen Ordnungsrahmen braucht unsere veränderte Welt? Welchen Ordnungsrahmen braucht sie, um Teilhabe für jeden Einzelnen an den Früchten und dem Fortschritt unserer Gesellschaft und unserer Welt zu ermöglichen? Diese Frage stellt sich für die Industrieländer, für die Schwellenländer und für die Entwicklungsländer. Wenn wir diese Frage nicht schlüssig beantworten, wenn wir diesbezüglich keine Einigung finden, dann werden sich neue, schwere soziale und andere Verwerfungen entwickeln, für deren Folgen wir dann alle verantwortlich sind.

Ich glaube schon, dass die richtige Antwort der kreative Imperativ ist. Wir müssen es also schaffen, dass Politik auf der einen Seite an den richtigen Stellen eingreift und auf der anderen Seite auch wieder an den richtigen Stellen loslässt. Das ist die Aufgabe, vor der wir heute stehen. Das heißt, dass ähnlich wie zu Beginn der Zeit der Sozialen Marktwirtschaft die eigenen Kräfte und die Fähigkeit und Notwendigkeiten des Staates in eine Balance gebracht werden müssen.

Ich glaube allerdings, dass das nicht ganz so einfach ist. Nur fortzuführen, wäre zu kurz gesprungen. Denn aus meiner Sicht gibt es bei den Weichenstellungen, die wir vornehmen müssen, eine Weiterentwicklungsnotwendigkeit für die Soziale Marktwirtschaft. Ich nenne das „Neue Soziale Marktwirtschaft“ – eine neue Stufe, und zwar in zwei Richtungen: zum einen in Richtung der internationalen Dimension, zum anderen aber auch dahin, was die Dichte der Verflechtung der Welt insgesamt anbelangt.

Wenn ich von Neuer Sozialer Marktwirtschaft spreche, dann ruft dies in meinem Heimatland, in Deutschland, immer verschiedenste Diskussionen hervor. Es wird gefragt: „Ist das jetzt die Abkehr von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft?“

Das ist es natürlich nicht, sondern es ist das Bekenntnis dazu, in einer neuen Zeit zu sagen: Wir stehen vor der Herausforderung – dieser Herausforderung muss sich Politik stellen -, die Globalisierung zu gestalten. Die Ängste der Menschen rühren zum großen Teil daher, dass sie das Vertrauen darauf verloren haben, dass Politik die Folgen der Globalisierung gestalten kann. Deshalb bin ich überzeugt davon, dass Politik auch in Zeiten der Globalisierung einen Gestaltungsauftrag hat.

Das heißt für uns in Deutschland, dass wir unsere Hausaufgaben machen müssen; das ist vollkommen klar. Das heißt, wir müssen nationale Politik verändern. Das heißt, als größte Volkswirtschaft Europas müssen wir unsere Verantwortung in Europa wahrnehmen. Wir werden das im Rahmen unserer Präsidentschaft in ganz besonderer Weise tun, aber natürlich ist das eine permanente Aufgabe. Das heißt auch, dass wir unserer internationalen Verantwortung gerecht werden müssen. Herr Schwab, Sie haben es eben erwähnt: Deutschland wird nächstes Jahr den Vorsitz in der G8-Gruppe haben und versuchen, dabei auch Beiträge zu leisten.

Für ein Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft als Neue Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert müssen wir, glaube ich, erstens die Prioritäten politischen Handelns neu ordnen, und zwar mit einem Verständnis von Politik, die nach vorne gerichtet ist, die sich um zukünftige Generationen kümmert.

Das bedeutet für uns in Deutschland zum Beispiel zuallererst einmal die Sanierung unserer finanziellen Situation, unserer Haushalte. Wir haben ein demographisches Problem. Wir wissen, dass wir zu wenige junge Menschen haben, und gleichzeitig leben wir auf Kosten der Zukunft, indem wir uns permanent verschulden. Das heißt, wir rauben zukünftigen Generationen Investitions- und Entwicklungsspielräume, und das ist moralisch nicht verantwortbar.

Wir müssen in die Zukunft investieren. Das heißt für mich, dass wir vor allen Dingen in Forschung und Entwicklung investieren, weil Innovation der eigentliche Schlüssel ist. Der kreative Imperativ spiegelt sich in der Frage wider, wie innovativ wir sind, und dies natürlich in ganz besonderer Weise in Ländern, die einen hohen Sozialstandard und vergleichsweise hohe Löhne haben. Wir können diesen Wohlstand nur halten, wenn wir der Innovation absoluten Vorrang einräumen. In Deutschland haben wir uns jetzt dazu entschlossen, das Ziel, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben, auch wirklich bis 2010 zu erreichen. Das ist eine Aufgabe für die Politik, das ist aber auch eine Aufgabe für die Wirtschaft. Das heißt dann wiederum für die Politik, der Wirtschaft solche Rahmenbedingungen einzuräumen, dass in innovativen Bereichen auch wirklich gehandelt werden kann. Ich nenne hier nur den Bereich der Pharmaindustrie und das Gebiet der Gentechnologie. Überall wird die Rahmensetzung darüber entscheiden, ob es anschließend in Deutschland möglich sein wird, innovativ genug zu sein.

Es geht dabei auch um den Wettbewerb der besten Köpfe. Das hat etwas damit zu tun, wie wir unser Bildungssystem organisieren und wie attraktiv wir hier sind. Ich sage, dass es in einer Gesellschaft wie der deutschen darum geht, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Es geht ganz gewiss darum, kleinen Einheiten und flexiblen Strukturen den Vorrang zu geben. Deshalb beschäftigen wir uns in Deutschland zum Beispiel damit, die föderalen Strukturen wesentlich neu zu ordnen, um Entscheidungen schnell möglich und durchsetzbar zu machen. Es geht für uns um einen Punkt, den ich für außerordentlich wichtig halte, nämlich um die Reform – besser gesagt: die Senkung – der Arbeitskosten in Form der Lohnzusatzkosten; denn ich glaube, gerade der Faktor Arbeit wird der entscheidende Faktor sein, bei dem uns die Menschen daran messen, ob für ihren eigenen Wohlstand wirklich das erreicht wird, was sie sich versprechen.

Wir müssen – ich kann das an einem Beispiel verdeutlichen – uns fragen: Wofür werden die Menschen der Zukunft ihr Geld ausgeben? Woran werden sie Interesse haben? Ich glaube, dass in diesem Zusammenhang der gesamte Gesundheitsbereich von außerordentlicher Bedeutung ist und wir ihn deshalb auch in einem freiheitlichen Sinne entwickeln müssen. Gerade deshalb wird die Reform des Gesundheitswesens für uns ein ganz wichtiger Punkt sein.

Wir werden uns mit der Frage beschäftigen müssen, ob Deutschlands Steuersystem zukunftsfähig genug ist. Wir haben gesagt: Nein, wir brauchen hierbei gerade für Unternehmen eine Reform. Wir brauchen – das will ich denen sagen, die sich mit dem Gedanken tragen, vielleicht in Deutschland zu investieren – nach dieser Reform vor allen Dingen auch ein Stück Beständigkeit, damit Unternehmer, die langfristige Entscheidungen fällen, sich auf das, was beschlossen wurde, verlassen können und nicht jedes Jahr wieder von Neuem anfangen müssen.

Zweitens brauchen wir natürlich eine Welt, in der wir über eine internationale Ordnung des Wettbewerbs nachdenken. Ich möchte hier ein sehr klares Bekenntnis zu internationalen Institutionen ablegen. Ich glaube, der wahlweise Abschluss von bilateralen Abkommen zwischen den einzelnen Akteuren der Welt wird uns nicht weiterführen, sondern wir müssen es lernen, in einer globalen Welt auch miteinander Verabredungen zu treffen. Deshalb darf es natürlich keine sozialistische Antwort mit einem vorgegebenen zentralen Ordnungsrahmen geben, sondern es muss eine neue Verzahnung von privatem und politischem Handeln geben. Darüber müssen wir gemeinsam nachdenken, und ich denke, Davos ist einer der besten Orte dafür.

Ich glaube, dass die WTO-Verhandlungen eine Schlüsselfunktion einnehmen. Der Handel und die Freiheit des Handels ist eine der großen Voraussetzungen dafür, dass Akteure teilhaben können. Auch in Deutschland gibt es viele Ängste, dass freier Handel zu Nachteilen führen könnte. Alle zusätzlichen Freiheiten haben in Deutschland im Allgemeinen dazu geführt, dass sich Deutschland besser entwickelt hat. Auch hierbei müssen wir also Ängste überwinden. Es hat leichte Fortschritte in Hongkong gegeben, aber die Runde darf so nicht zu Ende gehen, sondern wir müssen weitere Barrieren einreißen. Wir sollten dafür werben – ich werde dies jedenfalls tun -, dass die WTO zu einer wichtigen Größe der internationalen Vereinbarungen wird.

Wir brauchen hierbei natürlich den fairen Zugang der Entwicklungsländer zum freien Welthandel. Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass sich Deutschland im Rahmen der EU-Beschlüsse dazu bekennt, bis 2015 das UN-Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungshilfe bereitzustellen, auch wirklich umzusetzen. Ich denke, wir brauchen einen strategischen Dialog mit den Schwellenländern. Die Welt ist hier besonders im Umbruch, und wir als Europäer sind stark gefordert, dies weiterzuentwickeln.

Wir brauchen eine Verzahnung von Umweltschutz und Sozialmaßnahmen mit der Welthandelsorganisation, mit dem Internationalen Währungsfonds und mit der Weltbank. Die Dinge müssen aufeinander abgestimmt sein. So, wie im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft – dies ist jedenfalls unsere Erfahrung – der soziale und der ökologische Ausgleich auch immer Teil einer lebenswerten Gesellschaft waren, muss dies, glaube ich, auch im Ordnungsrahmen einer zukünftigen Welt stattfinden.

Wir brauchen den Schutz geistigen Eigentums. Wenn wir vom kreativen Imperativ sprechen, dann ist es natürlich von allergrößter Bedeutung, dass es uns gelingt, geistige Innovation auch wirklich vor Piraterie zu schützen. Außerdem brauchen wir nach meiner festen Überzeugung – dafür wird sich Deutschland im Rahmen seiner G8-Präsidentschaft einsetzen – hierfür auch mehr Regelungen.

Wir brauchen gemeinsame technische Standards. Auch dies empfinde ich als ein außerordentlich interessantes Feld, weil es letztlich auch Marktzugänge eröffnet. Wir haben in Europa, ausgehend von Deutschland, außerordentlich positive Erfahrungen gemacht, indem wir die Standards für die Entwicklung des Handys gesetzt haben. Wir können heute noch sagen, dass daraus eine Position entstanden ist, in der wir ein Marktführer sein konnten. Die Frage, wie wir uns miteinander über Standards einig werden, hat aus meiner Sicht bis jetzt noch nicht die Bedeutung erreicht, die ihr eigentlich zukommt.

Wir brauchen natürlich auch ein Verständnis über gemeinsame Wertegrundlagen. Ich will dies hier kurz am Beispiel der europäischen Diskussion ansprechen, in der es um den Verfassungsvertrag geht. Aus meiner Sicht ist dieser Verfassungsvertrag für die Europäische Union deshalb von so großer Bedeutung, weil er über die Einzelregelungen hinaus einen Beitrag dazu geleistet hat, dass wir uns über unser gemeinsames Werteverständnis klar geworden sind. Ich glaube, dass wir diese Diskussion sowohl in der transatlantischen Gemeinschaft als auch über die transatlantische Gemeinschaft hinaus, in der Weltgemeinschaft, brauchen. Es wird nicht möglich sein, sich ohne ethische Gemeinsamkeiten auf ökonomische und politische Gemeinsamkeiten zu einigen. Deshalb muss diese Diskussion parallel geführt werden.

Ich glaube, wir brauchen drittens neue Instrumente und Mechanismen. Wir haben uns gerade in Deutschland angewöhnt, mit sehr starren, Jahrzehnte haltenden Gesetzen zu agieren. Wir müssen jetzt lernen, sehr viel flexibler zu werden, nach dem besten Weg zu suchen, an Benchmarking-Prozessen teilzunehmen und an den Erfahrungen anderer teilzuhaben. Das bedeutet mehr Öffnung.

Wir brauchen vor allen Dingen die Kraft, uns mit dem Thema des Bürokratieabbaus zu beschäftigen. Ich habe dieses Thema für die Arbeit unserer Regierung zur Chefsache erklärt, weil ich glaube, dass wir im Augenblick grandiose Kräfte in Deutschland dadurch fesseln, dass wir uns in Regularien, die scheinbare Sicherheit versprechen, verfangen haben. Wenn wir in Deutschland wissen, dass vier bis sechs Prozent des Umsatzes eines kleineren oder mittleren Unternehmens in die Kosten von Bürokratie gehen, dann ist es wirklich des Schweißes der Edlen wert, einmal zu überlegen, ob wir diese Kraft und dieses Kapital nicht in Menschen – in junge Menschen und in ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – investieren könnten, anstatt uns immer und immer wieder vermeintlich sichere Regelungen auszudenken.

Ich glaube, wir kommen mit der Betrachtung der Einzelregelung nicht mehr voran, weil jede Einzelregelung inzwischen zu einer Lobby für eine bestimmte Gruppe geworden ist. Wir müssen stattdessen lernen, die Kosten von Bürokratie zu bemessen und uns Zielvorgaben zu geben, wie wir sie reduzieren wollen. Wir wollen hierbei an den Erfahrungen der Niederländer und auch der Briten anknüpfen. Wir werden einen Normenkontrollrat einsetzen, der diesen ganzen Prozess begleiteten wird, weil sich Politik schwer tut, das einmal von ihr Geschaffene auch wieder abzuschaffen. Es ist ein allgemeines Phänomen, dass das nicht besonders gut gelingt.

Wir werden im Rahmen unserer EU-Präsidentschaft genau diesen Prozess auch im europäischen Bereich fortführen und verstärken. Europa hat sich das Ziel gesetzt – Europa wird dieses Ziel nur mit Deutschland erreichen; Europa kann dieses Ziel erreichen, aber es hat viel zu tun -, bis zum Jahr 2010 der dynamischste Kontinent zu werden. Ich will mich jetzt nicht auf das Jahr festlegen; dabei haben wir, glaube ich, noch ein paar Probleme. Aber den Anspruch, im Sinne des kreativen Imperativs wieder zu den Innovativen zu gehören, zu denen, die den Schritt der Welt mitbestimmen, dürfen wir nicht aufgeben. Ich werde ihn jedenfalls nicht aufgeben und dafür werben, weil unser Wohlstand davon abhängt.

Das heißt dann aber auch, dass wir die so genannte „Lissabon-Strategie“ zur politischen Priorität unseres Handelns in Europa machen. Das heißt, dass wir etwas tun, das jetzt zum ersten Mal in der Europäischen Kommission gemacht wurde, nämlich Richtlinien, die seit Jahrzehnten bestehen, noch einmal auf den Prüfstand zu stellen, und zu dem, was einmal geregelt wurde, nicht immer nur noch etwas hinzuzufügen, sondern auch hinterfragen: Was muss wieder abgeschafft werden? Manchmal kann im Abschaffen einer Richtlinie ein größerer Gewinn als in der Fortführung einer alten oder der Schaffung einer neuen liegen. Das Abschaffen ist aber mindestens so schwer wie die Gesetzgebung. Ich werde nicht müde werden, in der Europäischen Union dafür zu werben, dass es auch das Prinzip der Diskontinuität oder der endlichen Geltungsdauer von Richtlinien gibt. Denn heutzutage ist es so, dass eine einmal auf den Markt gekommene Richtlinie bis zum Ende der Geschichte besteht; es gibt keinen Weg, sie wieder abzuschaffen. Deshalb kommen wir an vielen Stellen nicht voran. Das hat dann nichts mit Sicherheit zu tun, sondern damit bringt sich Europa nach meiner festen Überzeugung in Unsicherheit. Deshalb werden wir die deutsche Ratspräsidentschaft genau an dieser Stelle auch dafür nutzen, dass wir aus den Potenzialen, die in Europa liegen, auch wirklich etwas machen.

Wir stehen also insgesamt vor großen Aufgaben, bei denen sich die einen in der Welt im Augenblick rasant entwickeln und bei denen andere Sorgen und Ängste haben. Ich gehöre zu dem Teil der Welt, der gewöhnt war, an der Spitze der Bewegung zu stehen. Durch das Ende des Kalten Krieges haben wir erlebt, dass sich Träume erfüllt haben, dass wir plötzlich Freiheit hatten. Wir haben anschließend erlebt, dass uns diese Freiheit unter einen stärkeren Wettbewerbsdruck setzt. Wir haben – ich sage das zumindest für Deutschland – grandiose Voraussetzungen: eine erfahrene Demokratie, viel Erfahrung in Konfliktlösungsmöglichkeiten, gute soziale Netze, ökologische Sicherheit. Wir haben vieles erreicht. Es wäre fatal, wenn wir nicht die Kraft aufbrächten, die Herausforderungen, die heute vor uns stehen, als Chancen zu begreifen.

Ich glaube, wir können das schaffen, wenn wir miteinander das Verständnis haben, dass Freiheit ein elementares Gut für die Menschen ist, dass Freiheit nicht Willkür ist, sondern verantwortete Freiheit, und dass uns die neue Dimension der Sozialen Marktwirtschaft in einer globalen Ordnung helfen kann, unseren Platz in dieser Welt zu finden. Es wird kein einziges Problem mehr geben, dem wir ausweichen können und das uns nicht direkt oder indirekt erreicht. Das ist aber nicht Grund für Überforderung, sondern im Grunde eine Herausforderung.

Ich habe in meiner Regierungserklärung gesagt, dass wir viele kleine Schritte machen werden. Wir arbeiten in einer großen Koalition. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir, wenn wir diese Schritte entschlossen gehen, dann alle Kraft und alle Möglichkeiten haben werden, dass Deutschland seiner Rolle in der Welt gerecht werden kann: als Motor in Europa, als ein verantworteter Teilhaber der G8-Staaten, als eine Nation, die davon ausgeht, dass alle das gleiche Recht haben, ihren Lebensstandard zu verbessern, als eine Nation, die um die Endlichkeit von Ressourcen weiß und die endlich auch etwas schaffen muss, was für mich ein zweiter, ganz wichtiger Punkt neben der Entfesselung von Kräften ist, nämlich zu sagen, wie sie mit ihren Ressourcen und dem Ressourcenverbrauch umgehen wird, zum Beispiel in der Energiepolitik.

Wir haben an dieser Stelle keine abschließenden strategischen Antworten, und genau deshalb wird sich die neue deutsche Bundesregierung auch mit einem Energiekonzept befassen, das den verschiedenen Energieträgern und Energiesparmöglichkeiten Rechnung trägt. Ich war einmal Umweltministerin und habe erlebt, dass gute Technologien auch ein kreativer Imperativ sein können, um die Welt insgesamt weiterzuentwickeln.

Vor 200 Jahren klagte – ich zitiere ihn jetzt – James Watt: „Es gibt nichts Törichteres im Leben als das Erfinden. Ich bin jetzt 35 Jahre alt und habe der Welt noch nicht für 35 Pence genützt.“ Der Mann hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren ein Patent angemeldet, und 17 Jahre später war klar: Die Dampfmaschine hat die Welt verändert. Das Zeitalter der Industrialisierung war angelaufen. Wir sehen deshalb bei allem Imperativ des Kreativen: Ohne die alten Arbeitstugenden Ausdauer, Leistungswille, Überzeugung, Fleiß und auch Zeit wird es nicht gehen.

Ich glaube, wir stehen heute – in den ersten Jahrzehnten des Informations- und Wissenszeitalters – wieder vor der Frage: Nehmen wir teil? Schaffen wir es, an der Entwicklung der Welt zu partizipieren? Die Deutschen haben – viele wissen das gar nicht mehr – das Zeitalter des Computers dadurch eingeleitet, dass Konrad Zuse als Deutscher den ersten Computer gebaut hat. Ich muss freimütig bekennen, dass wir an der daraus resultierenden Entwicklung – wenn ich an Google, Microsoft und andere denke, ohne hier irgendjemanden herausheben zu wollen – nicht in dem mir ausreichend erscheinenden Maße partizipiert haben. Ich sage das ziemlich schmerzlich berührt, weil wir in Deutschland gerade das Jahr der Informatik feiern und begehen und überlegen müssen, an welcher Stelle wir mit Innovationen wieder unseren Teil an der Wertschöpfung und der Entwicklung bekommen können.

Ich glaube jedenfalls, dass es Versäumnisse gab, weil wir an bestimmten Stellen Ideen keine Taten und Umsetzungen folgen ließen. Wir müssen in Deutschland aber wieder daran glauben, das schaffen zu können. Und ich werde mich sehr dafür einsetzen, dass die Regierung daran arbeitet, dass unser Land wieder besser von seinen Ideen leben kann. Deutschland und Europa werden ihren Beitrag dazu leisten, damit im Rückblick einmal gesagt werden kann: Dies waren für unseren Kontinent Innovationsjahre. Ich sage das nicht gegen andere gerichtet, weil ich die Fähigkeiten in China, Indien und vielen anderen Stellen dieser Erde beobachte, sondern ich sage es nur mit dem Ausdruck, dass wir uns dem Wettbewerb stellen wollen. Wir wollen uns ihm deshalb stellen, weil wir glauben, dass wir in unserer Art des Wirtschaftens und mit dem Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft eine menschliche Gesellschaft gestaltet haben, die ökonomisch erfolgreich war, und weil uns dies auf globaler Ebene wieder gelingen muss. Und ich glaube, dass wir zu dieser Diskussion einen Beitrag leisten können.

Deshalb möchte ich auch noch einmal Ludwig Erhard zitieren. Ich hatte ihn zu Beginn zitiert, und ich sage es einfach noch einmal: „Ich will mich aus eigener Kraft bewähren. Ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“ Das ist die Aufgabe von gestaltender Politik – von Politik, die an die Gestaltbarkeit der Globalisierung glaubt, von Politik, die Menschen die Ängste nimmt und ihnen Hoffnung gibt, von Politik, die nicht in protektionistischem Ansinnen an andere herantritt, sondern die sich voll Freude einem Wettbewerb um die besten Ideen im Rahmen des kreativen Imperativs stellt.