Gedicht: Der Mönch zu Heisterbach

Ein junger Mönch im Kloster Heisterbach
Lustwandelt an des Gartens fernstem Ort;
Der Ewigkeit sinnt tief und still er nach
Und forscht dabei in Gottes heilgem Wort.

Er liest, was Petrus der Apostel sprach:
Dem Herren ist ein Tag wie tausend Jahr,
Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag;
Doch wie er sinnt, es wird ihm nimmer klar.

Und er verliert sich zweifelnd in den Wald:
Was um ihn vorgeht hört und sieht er nicht;
Erst wie die fromme Vesperglocke schallt,
Gemahnt es ihn der ernsten Klosterpflicht.

Im Lauf erreichet er den Garten schnell;
Ein Unbekannter öffnet ihm das Thor.
Er stutzt – doch sieh, schon ist die Kirche hell,
und draus ertönt der Brüder heilger Chor.

Nach seinem Stuhle eilend tritt er ein,
Doch wunderbar, ein anderer sitzet dort;
Er überblickt der Mönche lange Reihn:
Nur Unbekannte findet er am Ort.

Der Staunende wird angestaunt ringsum,
man fragt nach Namen, fragt nach dem Begehr;
Er sagts, da murmelt man durchs Heiligthum:
Dreihundert Jahre hieß so Niemand mehr.

Der letzte dieses Namens tönt es laut,
Er war ein Zweifler und verschwand im Wald,
Man hat den Namen Keinem mehr vertraut. –
Er hört das Wort, es überläuft ihn kalt.

Er nennet nun den Abt und nennt das Jahr;
Man nimmt das alte Klosterbuch zur Hand,
Da wird ein großes Gotteswunder klar:
Er ists, der drei Jahrhunderte entschwand.

Der Schrecken lähmt ihn, plötzlich graut sein Haar,
Er sinkt dahin, ihn tödtet dieses Leid,
Und sterbend mahnt er seiner Brüder Schar:
„Gott ist erhaben über Ort und Zeit.“

„Was Er verhüllt, macht nur ein Wunder klar,
Drum grübelt nicht, denkt meinem Schicksal nach.
Ich weiß: ihm ist ein Tag wie tausend Jahr,
Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag.“

Wolfgang Müller von Königswinter, um 1837

Bild: Postkarte