Meinung: Marie Sophie Hingst und das Versagen der Medien

Wenn ein Mensch sich selbst das Leben nimmt, ist dies immer eine Tragödie, besonders für die Angehören. Marie Sophie Hingst hat sich im Juli 2019 für diesen Schritt entschieden, weswegen meine Gedanken bei ihrer Familie und ihren Freunden sind.

Das Tragische an diesem Selbstmord ist jedoch, dass er vielleicht vermeidbar gewesen wäre.

Wie alt genau die um die 30-jährige Bloggerin wurde, ist nicht bekannt, Wikipedia gibt nur das Geburtsjahr an, 1987 oder 1988. Erstaunlich bei jemanden, der so im Brennpunkt der online-Öffentlichkeit stand. Doch Handfestes gab es wohl weniges im Leben der Marie Sophie Hingst.

Auf den ersten Blick sieht es anders aus: Abitur in Dessau, Studium der Geschichte und Ostasienwissenschaften in Berlin, Lyon und Los Angeles. Promotion am Trinity College Dublin.

Schon als 19-jährige soll sie eine Slumklinik in Indien gegründet und sich der Sexualaufklärung junger Inder gewidmet haben, später syrischer Flüchtlinge in Deutschland. Namhafte Medien wie Die Zeit berichten. In ihrem Blog readonmydear.wordpress.com verarbeitet sie unter anderem ihre jüdische Familiengeschichte mit 22 Holocaust-Opfern. Der „goldene Blogger“ macht sie zur Bloggerin des Jahres.

Doch Sexualaufklärung hat sie wohl nie betrieben und ihre Familie ist evangelisch. Alles erfunden.

Lügen haben kurze Beine und tragen nicht ewig weit. Hingst fliegt auf, die schönen Geschichten über die Sexualaufklärung werden depubliziert, der Blog geht offline, der Preis wird aberkannt. Hingst taucht weitgehend ab, bringt sich um.

Vor ihrem Tod hat sie noch mit Derek Scully gesprochen, einem Journalisten der Irish Times. Er hat über Hingst geschrieben, sein Text mag ein Schlüssel zu ihrer komplexen und schwierigen Persönlichkeit sein.

In dem Text klingt aber auch die Frage durch, ob nicht die Aufdecker der Hochstapelei wie der „Der Spiegel“ Journalist Martin Doerry Mitschuld an ihrem Tod haben. Auf twitter und andernorts wird dieser Vorwurf verschiedentlich ganz offen erhoben.

Die Aufklärer des Skandals sind aber nicht Schuld an Hingst Tod.

Schuld sind diejenigen, die ihr vorher unkritisch die große Bühne geboten haben, ohne die Fakten zu prüfen und ohne kritisch zu hinterfragen, da doch alle von Hingsts Lügen so gut ins eigene Weltbild und in das selbstreferentielle kleine enge Universum der goldenen Blogger passten. So wurde Druck auf sie aufgebaut, das Lügengebilde zu erhalten und – schlimmer noch – auszubauen. Es wurde ja immer neuer Stoff benötigt.

Hätte man genau hingesehen, wäre klar geworden, dass Hingst Hilfe gebraucht hätte und keine Interviews und Bloggerpreise.

Doch weil Hinsehen zu bequem und gegen den Zeitgeist gewesen wäre, ist jetzt ein Mensch tot. Und das ist der eigentliche Skandal.

Ruhe in Frieden, Maria Sophie Hingst.


Anmerkungen:

Sie sind depressiv oder denken an Selbstmord? Hier erhalten Sie Hilfe.

Teile von Hingst Blog sind noch über die Wayback Machine abrufbar.

Weitere interessante Links zum Thema

  • MlleReadOn, my Dear, read on
    „Don Alphonso“ über den Fall Hingst. Anders als ich sieht er den Fehler eher bei der Art und Weise, wie „Der Spiegel“ den Skandal aufgearbeitet hat.