Essbar oder nicht? Diese Frage ist im iPhone Gedankenexperiment überlebenswichtig…
Zurück in die Steinzeit
Über das iPhone Gedankenexperiment habe ich ja schon in meinen „lesenswerten“ Links berichtet. Die ausführliche Geschichte gibt es hier; im wesentlichen geht es um folgendes:
Aus einer Laune heraus zaubert eine sehr mächtige Hexe alle Menschen in die tiefste Steinzeit – alles auf der Erde ist so, wie vor rund 200.000 Jahren. Es stehen also 7,3 Milliarden Menschen nackt genau an der Stelle, an der Sie vorher waren – nur dass da, wo vorher Straßen, Gebäude oder Äcker waren, nun Prärie, Wüste, Wald oder Steppen sind. Jeder Mensch hält einen Zettel in den Händen, auf dem steht, dass der Zauberspruch wieder aufgehoben wird, wenn es den Menschen gelingt, ein iPhone 6S zu bauen, dass von dem des Jahres 2015 nicht zu unterscheiden ist. Eine Minute später vernichtet sich dieser Zettel. Die Frage ist nun – wird es den Menschen gelingen, die Aufgabe zu erfüllen. Sie haben nach wie vor all ihr Wissen, aber eben keinerlei von Menschen geschaffenen Hilfsmittel mehr.
Ich finde dieses Gedankenspiel sehr spannend – und darum hier einige meiner Gedanken dazu.
Die ersten Tage nach dem Zauberspruch
Klar ist, in den ersten Tagen nach dem Zauberspruch wird es ein Massensterben geben: Menschen, die in unwirtlichen Gegenden sind, wo man zum Überleben Technik braucht, werden sehr schnell sterben – und das betrifft nicht nur Forscher am Südpol. Denken Sie allein an die Menschen in den Golfstaaten, die ohne Sonnenschutz und Meerwasseraufbereitungsanlagen keine Chance haben. Aber auch Menschen, die auf medizinische Versorgung angewiesen sind, haben schlechte Aussichten. Ebenfalls schwierig wird es für Kleinkinder (es gibt keine Fertigmilch mehr) und Alte.
Den Menschen stellen sich in den ersten Tagen also zwei Hauptaufgaben:
- Sicherung von Trinkwasser und Lebensmitteln
- Begraben der Toten, um Epidemien zu verhindern
Schon die Lebensmittelversorgung wird aber zu einem großen Problem werden. Es gibt ja keine Vorräte mehr, keine Lebensmittelfabriken, keine Tierherden und keine Äcker. Die Menschen sind also auf Jagen, Fischen und Sammeln angewiesen. Zum Glück gibt es keine Massenvernichtungswaffen – der Kampf ums Essen würde das Experiment sonst sehr schnell beenden.
Insbesondere in den großen Metropolregionen (z.B. Tokio mit fast 40 Millionen Einwohnern) stellt sich neben dem Lebensmittelproblem die Frage, wie man die Ausscheidungen von Millionen Menschen entsorgt, ohne das Trinkwasser zu verschmutzen.
Es ist also davon auszugehen, dass in vielen Teilen der Erde nur ein kleiner Teil der Menschheit mit den zur Verfügung stehenden Lebensmitteln überleben kann. Hier werden dann harte Entscheidungen getroffen werden müssen: wen versorgt man ausreichend mit Nahrung? Gefragt sind Naturwissenschaftler, Bauern, Mediziner, Handwerker – eben alle, die Wissen und Fähigkeiten haben, die helfen können, unter den widrigen Umständen zu überleben. Juristen, Wirtschaftswissenschaftler und Callcenter-Agents sind weniger gefragt…
Die Frage ist, ob diese ersten Entscheidungen mehr oder weniger vernünftig gefällt werden, oder die Menschen mit Stöcken und Steinen aufeinander losgehen werden. Wahrscheinlich wird es hier regionale Unterschiede geben, z.B. in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Gerade in Küstennähe (Fischfang) oder Prärien (Büffelherden) wird die Situation besser sein, als in kargen Gebieten.
Klar ist – in den ersten Tagen ist man mit dem bloßen Überleben beschäftigt.
In den ersten Wochen – Aufbau der notwendigsten Strukturen
Ist der erste Schock überwunden, muss es als nächstes darum gehen, schnellstmöglich Strukturen aufzubauen – nichts komplexes, sondern um die wichtigsten Dinge zu regeln.
Nach wie vor wichtig werden die Bestatter sein – mit vielen Todesfällen ist in nächster Zeit zu rechnen. Hart aber auch unausweichlich: Es wird Sterbehelfer und Henker geben müssen, die bei der gezielten Dezimierung der Population in bestimmten Regionen helfen.
Damit diese schellst möglich wieder abgeschafft werden können, ist es wichtig, die Lebensmittelversorgung effizienter zu gestalten. Es müssen zum einem Teams gebildet werden, die das Jagen, Fischen und Sammeln übernehmen, wobei auch darauf geachtet werden muss, dass regional Pflanzen und Tiere nicht gleich ausgerottet werden. Zum anderen müssen die Grundlagen für Ackerbau und Viehzucht gelegt werden – gezieltes Anbauen von Pflanzen, Zucht und Domestizierung von Tieren.
Das alles aber geht nicht ohne Werkzeuge. Speere aus Holz und Feuerstein, einfache Hacken und ähnliches. Archäologen, die praktisch geforscht haben, sind jetzt besonders gefragt. Die Werkzeuge sind auch notwendig, um schnellstmöglich einfache Hütten und andere Schutzbehausungen zu bauen. In den ersten Wochen ist also genug zu tun.
In den ersten Monaten: Metall ist Trumpf
Schnell wird deutlich werden, dass es ohne Metalle nicht geht. Und ich denke, es wird nicht lange dauern, bis wieder Erze abgebaut werden und die ersten einfachen Metallwerkzeuge hergestellt werden – punktuell eher nur Monate als Jahre.
Eine weitere wichtige Aufgabe wird sein, vorhandenes Wissen festzuhalten. Damit das möglich wird, müssen Archivierungsmittel geschaffen werden: Papier und einfache Stifte, möglichst bald der Buchdruck mit beweglichen Lettern. Wie gut, dass man schon an den Metallen dran ist. Denn eines ist klar – es wird noch lange dauern, bis man wieder Touchscreens und A9 Prozessoren herstellen kann. Dann wird sich aber wieder niemand mehr daran erinnern, dass ein iPhone 6S genau 142g wog und 7,1mm dick war. Damit man die Aufgabe auch nur ansatzweise erfüllen kann, muss also nicht nur das aufschreiben, sondern auch, dass ein Meter als die Länge der Strecke definiert ist, die das Licht im Vakuum während der Dauer von 1/299 792 458 Sekunde zurücklegt. Bis es einen neuen Urmeter gibt, wird es also noch ein bisschen dauern. Und egal ob man es bis zum iPhone schafft oder nicht – es muss alles an Wissen archiviert werden, was sich nur archivieren lässt: Fundstätten von Rohstoffen, Mendelsche Gesetze, dass es so etwas wie Penicillin gibt, die DNA, das Wissen über das Sonnensystem, giftige Pflanzen, wie züchtet man neue Pflanzensorten, welche Fehler aus der Geschichte sollten wir vermeiden…
Sinnvoll wäre es zudem, rudimentäre Langstreckenkommunikation aufzubauen. Für den Anfang wohl am besten mit Trommeln über Relaisstationen mit Morsecodes. So könnten sich zumindest benachbarte Siedlungen austauschen.
Nach einem Jahr
Das erste Jahr wäre das härteste und wohl auch verlustreichste, die meisten Menschen wären nur mit Überleben beschäftigt und dennoch hätten wohl hunderte Millionen den Tod gefunden.
Während es in dünner besiedelten und abgelegenen Gebieten wie Neuseeland recht gut aussähe und nur wenige Tote zu beklagen wären (die, die eben auf medizinische Versorgung angewiesen waren), würde in dicht besiedelten Regionen wie z.B. in Japan, China, Indien oder auch Teilen der USA unvorstellbare Hungersnöte geben. In der Folge ergeben sich große Völkerwanderungen in Gebiete mit guten Voraussetzungen zum Überleben.
Allerdings hätte es auch große Fortschritte gegeben, zumindest da, wo die Voraussetzungen günstig sind: die ersten Metallwerkzeuge sind da, Wissen wird archiviert, es gibt die ersten Hütten und Häuser, Wildtiere werden in Gattern gehalten und erste Nutzpflanzen wieder angebaut.
Letztlich wäre die Menschheit in diesen günstig gelegenen Regionen schon recht schnell auf einem Stand, der in etwa dem der Hallstattzeit entspricht.
Gesellschaftliche und politische Strukturen werden von der normativen Kraft des Faktischen bestimmt, es wird regionale Anführer geben.
Jahr 2 bis 3 nach Hexe: dramatische Entwicklungen
Die größte Herausforderung bleibt aber in der Tat die Versorgung mit Lebensmitteln. Das Züchten moderner und effektiver Getreide, Obst und Gemüsesorten hat Generationen gedauert und geht auch mit dem vorhandenen Wissen nicht viel schneller.
Es werden also weiter jeden Tag Millionen Menschen verhungern, erfrieren, verdursten, an Überanstrengung und an für uns jetzt harmlosen Krankheiten und Verletzungen sterben. Und auch wenn ich es mir anders wünsche: es wird im Zuge der Völkerwanderungen Verteilungskämpfe geben, die besonders in den ersten beiden Jahren sehr intensiv sein werden.
Ich wage die Behauptung, dass im Jahre 3 nach Hexe deutlich weniger als eine Milliarde Menschen auf der Erde leben werden.
Ab Jahr 4: Es geht voran
Nach vier Jahren wird sich die Situation allmählich normalisieren. Große Teile der Welt sind entvölkert, die Menschen leben verteilt in Siedlungen, die meist nur wenige Hundert Menschen beherbergen und so die Versorgung mit Lebensmitteln sicherstellen können.
Die ersten Steinhäuser werden gebaut, es gibt rudimentäre Landwirtschaft, Tiere werden gezüchtet, einfache Technik wie z.B. Wind- und Wassermühlen helfen bei der täglichen Arbeit. An bestimmten Hotspots – Erzminen – wird es größere Ansiedlungen geben und schon bald komplexere Technik, wie z.B. Dampfmaschinen.
Langsam werden die Menschen anfangen, sich weitere Strukturen zu geben. Das Bildungssystem wird aufgebaut, Wissen immer intensiver festgehalten, Verwaltungsstrukturen entstehen. Zwischen den Siedlungen wird sich erster Handel ergeben, Straßen werden gebaut und die ersten Seeschiffe werden gebaut.
Das unerreichbare Ziel – und was es für die Gesellschaft bedeutet
Schnell wird es aber Diskussionen geben, ob das von der Hexe vorgegebene Ziel, eben eine exakte Kopie des iPhones zu bauen, überhaupt erreichbar ist. In dem Gedankenexperiment muss die Kopie so gut sein, dass sie von einem fiktiven Apple Store Mitarbeiter des Jahres 2015 nicht von einem echten iPhone unterschieden werden kann.
Schon recht schnell würde sich aber zeigen, dass das unmöglich ist. Auch wenn die Menschheit es geschafft haben sollte, in gut vier Jahren nach dem Hexenvorfall auf einen Stand zu kommen, der technologisch ansatzweise dem 18. Jahrhundert entspricht, gibt noch nicht die Infrastruktur, die es im 18. Jahrhundert gab – z.B. Wegenetze, Städte, Manufakturen, Kanäle, Häfen und Landwirtschaft. Um ein weltweites Telekommunikations- und Stromnetz zu aufzubauen, Halbleiterfabriken zu erbauen und Apps zu programmieren wird man daher mindestens weitere 300 Jahre benötigen. Das detaillierte Wissen über ein iPhone wäre aber schon verloren gegangen, so dass eine 1:1 Kopie unmöglich wäre.
Ein Teil der Menschheit wird auf diese Erkenntnis, dass es für sie kein Zurück in das Jahr 2015 gibt, enttäuscht reagieren. Klügere Köpfe werden es aber als Chance begreifen, ein besseres Jahr 2015 zu schaffen. Eines ohne Umweltverschmutzung, in dem noch die Zedern des Libanon stehen, in dem es keine Massenvernichtungswaffen und keine Kriege gibt.
Ob es diesen klugen Köpfen gelingen würde, sich durchzusetzen, ist die eigentliche interessante Frage bei diesem Gedankenexperiment.
Ich wage hier keine Prognose.
Weitere Gedanken zum Hexenvorfall
Hier sammele ich weitere Beiträge, die sich zu diesem Thema Gedanken gemacht haben:
Carsten Drees bei den Mobilegeeks
Kommentare bei waitbutwhy.com (Englisch)
Kommentare bei ze.tt
Diskussion bei reddit (Deutsch)
Marc Nemitz hat sich nach der Diskussion hier breitschlagen lassen und schon mal über die ersten sieben Tage aus seiner Sicht geschrieben.