Märchen: Rumpelstilzchen (1837)

Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, daß er mit dem König zu sprechen kam, und zu ihm sagte „ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.“ Dem König, der das Gold lieb hatte, gefiel die Kunst gar wohl, und er befahl die Müllerstochter sollte alsbald vor ihn gebracht werden. Dann führte er sie in eine Kammer, die ganz voll Stroh war, gab ihr Rad und Haspel, und sprach „wenn du diese Nacht durch bis morgen früh dieses Stroh nicht zu Gold versponnen hast, so mußt du sterben.“ Darauf ward die Kammer verschlossen, und sie blieb allein darin.
Da saß nun die arme Müllerstochter, und wußte um ihr Leben keinen Rath, denn sie verstand gar nichts davon, wie das Stroh zu Gold zu spinnen war, und ihre Angst ward immer größer, daß sie endlich zu weinen anfieng. Da gieng auf einmal die Thüre auf, und trat ein kleines Männchen herein und sprach „guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint sie so sehr?“ „Ach,“ antwortete das Mädchen, „ich soll Stroh zu Gold spinnen, und verstehe das nicht.“ Sprach das Männchen „was [334] giebst du mir, wenn ich dirs spinne?“ „Mein Halsband“ sagte das Mädchen. Das Männchen nahm das Halsband, setzte sich vor das Rädchen, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war die Spule voll. Dan steckte es eine andere auf, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war auch die zweite voll: und so giengs fort bis zum Morgen, da war alles Stroh versponnen, und alle Spulen waren voll Gold. Als der König kam und nachsah, da erstaunte er und freute sich, aber sein Herz wurde nur noch begieriger, und er ließ die Müllerstochter in eine andere Kammer voll Stroh bringen, die noch viel größer war, und befahl ihr das auch in einer Nacht zu spinnen, wenn ihr das Leben lieb wäre. Das Mädchen wußte sich nicht zu helfen und weinte, da gieng abermals die Thüre auf, und das kleine Männchen kam und sprach „was giebst du mir wenn ich dir das Stroh zu Gold spinne?“ „Meinen Ring von dem Finger“ antwortete das Mädchen. Das Männchen nahm den Ring, und fieng wieder an zu schnurren mit dem Rade, und hatte bis zum Morgen alles Stroh zu glänzendem Gold gesponnen. Der König freute sich über die Maßen bei dem Anblick, war aber noch immer nicht Goldes satt, sondern ließ die Müllerstochter in eine noch größere Kammer voll Stroh bringen und sprach „die mußt du noch in dieser Nacht verspinnen; wenn dir das gelingt, sollst du meine Gemahlin werden.“ „Denn,“ dachte er, „eine reichere Frau kannst du auf der Welt nicht haben.“ Als das Mädchen allein war, kam das Männlein zum drittenmal wieder, und sprach „was giebst du mir, wenn ich dir noch diesmal das Stroh spinne?“ „Ich habe nichts mehr, das ich geben könnte“ antwortete das Mädchen. „So versprich mir, wann du Königin wirst, dein erstes Kind.“ „Wer weiß wie das noch geht“ dachte die Müllerstochter, und wußte sich auch in der Noth nicht anders zu helfen, und versprach dem Männchen was es verlangte; dafür spann das Männchen noch einmal das Stroh zu Gold. Und als am Morgen der König kam, und alles fand wie er gewünscht hatte, so hielt er Hochzeit mit ihr, und die schöne Müllerstochter ward eine Königin.

Ueber ein Jahr brachte sie ein schönes Kind zu Welt, und dachte gar nicht mehr an das Männchen, da trat es in ihre Kammer und sprach „nun gib mir, was du versprochen hast.“ Die Königin erschrack, und bot dem Männchen alle Reichthümer des Königreichs an, wenn es ihr das Kind lassen wollte, aber das Männchen sprach „nein, etwas Lebendes ist mir lieber als alle Schätze der Welt.“ Da fieng die Königin so an zu jammern und zu weinen, daß das Männchen Mitleiden mit ihr hatte, und sprach „drei Tage will ich dir Zeit lassen, wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten.“
Nun dachte die Königin die ganze Nacht über an alle Namen, die sie jemals gehört hatte, und schickte einen Boten über Land, der sollte sich erkundigen weit und breit nach neuen Namen. Als am andern Tag das Männchen kam, fieng sie an mit Caspar, Melchior, Balzer, und sagte alle Namen, die sie wußte, nach der Reihe her, aber bei jedem sprach das Männlein „so heiß ich nicht.“ Den zweiten Tag ließ sie herumfragen bei allen Leuten, und sagte dem Männlein die ungewöhnlichsten und seltsamsten vor, Rippenbiest, Hammelswade, Schnürbein, aber es blieb dabei „so heiß ich nicht.“ Den dritten Tag kam der Bote wieder zurück und erzählte „neue Namen habe ich keinen einzigen finden können, aber wie ich an einen hohen Berg um die Waldecke kam, wo Fuchs und Has sich gute Nacht sagen, so sah ich da ein kleines Haus, und vor dem Haus brannte ein Feuer, und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein, und schrie

„heute back ich, morgen brau ich
übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;
ach, wie gut ist daß niemand weiß
daß ich Rumpelstilzchen heiß!“

Da war die Königin ganz froh daß sie den Namen wußte, und als bald hernach das Männlein kam, und sprach „nun, Frau Königin, wie heiß ich?“ fragte sie erst „heißest du Cunz?“ „Nein.“ „Heißest du Heinz?“ „Nein.“

„Heißt du etwa Rumpelstilzchen?“

„Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt“ schrie das Männlein, und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wuth den linken Fuß mit beiden Händen, und riß sich selbst mitten entzwei.

Märchen: Rumpelstilzchen (1819)

Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, daß er mit dem König zu sprechen kam und zu ihm sagte: „ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.“ Dem König, der das Gold lieb hatte, gefiel die Kunst gar wohl und er befahl, die Müllerstochter sollte alsbald vor ihn gebracht werden. Dann führte er sie in eine Kammer, die ganz voll Stroh war, gab ihr Rad und Haspel, und sprach: „wenn du diese Nacht durch bis morgen früh dieses Stroh nicht zu Gold versponnen hast, so mußt du sterben.“ Darauf ward die Kammer verschlossen und sie blieb allein darin.

Da saß nun die arme Müllerstochter und wußte um ihr Leben kein Rath, denn sie verstand gar nichts davon, wie das Stroh zu Gold zu spinnen war und ihre Angst ward immer größer, daß sie zu weinen anfing. Da ging auf einmal die Thüre auf und trat ein kleines Männchen herein und sprach: „guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint sie so sehr?“ „Ach! antwortete das Mädchen, ich soll Stroh zu Gold spinnen und verstehe es nicht.“ Sprach das Männchen: „was gibst du mir, wenn ich dirs spinne?“ „Mein Halsband,“ sagte das Mädchen. Das Männchen nahm das Halsband, setzte sich vor das Rädchen und schnurr! schnurr! schnurr! dreimal gezogen, war die Spule voll. Dann steckte es eine andere auf und schnurr! schnurr! schnurr! dreimal gezogen, war auch die zweite voll, und so gings fort bis [281] zum Morgen, da war alles Stroh versponnen und alle Spulen voll Gold. Als der König kam und nachsah, da erstaunte er und freute sich, aber sein Herz wurde nur noch begieriger und er ließ die Müllerstochter in eine andere Kammer[1] voll Stroh bringen, die noch viel größer war und befahl ihr, das auch in einer Nacht zu spinnen, wenn ihr das Leben lieb wäre. Das Mädchen wußte sich nicht zu helfen und weinte, da ging abermals die Thüre auf und das kleine Männchen kam und sprach: „was giebst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold spinne?“ „Meinen Ring von der Hand,“ antwortete das Mädchen. Das Männchen nahm den Ring und fing wieder an zu schnurren mit dem Rade, und hatte bis zum Morgen alles Stroh zu glänzendem Gold gesponnen. Der König freute sich über die Maßen bei dem Anblick des Goldes, war aber noch nicht satt, sondern ließ die Müllerstochter in eine noch größere Kammer voll Stroh bringen und sprach: „die mußt du noch in dieser Nacht verspinnen, wann dir das gelingt, sollst du meine Gemahlin werden;“ denn, dachte er, eine reichere Frau kannst du auf der Welt nicht haben. Als das Mädchen allein war, kam das Männlein zum drittenmal wieder und sprach: „was giebst du mir, wenn ich dir noch diesmal das Stroh spinne?“ „Ich habe nichts mehr,“ antwortete das Mädchen. „So versprich mir, wann du Königin wirst, dein erstes Kind.“ Wer weiß, wie das noch geht, dachte die Müllerstochter und wußte sich auch in der Noth nicht anders zu helfen, so daß sie es dem Männchen versprach und das Männchen spann noch einmal das Stroh zu Gold. Und als am Morgen der König kam und alles [282] fand, wie er gewünscht hatte, so hielt er Hochzeit mit ihr und die schöne Müllerstochter ward eine Königin.

Ueber ein Jahr brachte sie ein schönes Kind zur Welt und dachte gar nicht mehr an das Männchen, da trat es in ihre Kammer und forderte was ihm versprochen war. Die Königin erschrak und bot dem Männchen alle Reichthümer des Königreichs an, wenn es ihr das Kind lassen wollte, aber das Männchen sprach: „nein, etwas Lebendes ist mir lieber, als alle Schätze der Welt.“ Da fing die Königin so an zu jammern und zu weinen, daß es das Männchen doch dauerte und es sprach: „drei Tage will ich dir Zeit lassen, wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten.“

Nun dachte die Königin die ganze Nacht über an alle Namen, die sie jemals gehört hatte, und schickte einen Boten aus über Land, der sollte sich erkundigen weit und breit nach neuen Namen. Als am andern Tag das Männchen kam, fing sie mit Caspar, Melchior und Balzer an und sagte alle die sie wußte, nach der Reihe her, aber bei jedem sprach das Männlein: „so heiß ich nicht.“ Den zweiten Tag ließ sie herumfragen bei allen Leuten und legte dem Männlein alle die ungewöhnlichsten und seltsamsten vor, als: Rippenbiest, Hammelswade, Schnürbein, aber es blieb dabei: „so heiß ich nicht.“ Den dritten Tag kam der Bote wieder zurück und erzählte: „neue Namen habe ich keinen einzigen finden können, aber wie ich an einen hohen Berg um die Waldecke kam, wo Fuchs und Has sich gute Nacht sagen, so sah ich da ein kleines Haus und vor dem Haus brannte ein Feuer und um [283] das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie:

„heute back ich, morgen brau ich,
übermorgen hol ich der Frau Königin ihr Kind;
ach, wie gut ist, daß niemand weiß,
daß ich Rumpelstilzchen heiß!“

Wie die Königin das hörte, war sie ganz froh und als bald das Männlein kam und sprach: „nun, Frau Königin, wie heiß ich?“ da fragte sie erst: „heißest du Cunz?“ „Nein.“ „Heißest du Heinz?“ „Nein.“

„Heißt du etwa Rumpelstilzchen?“

„Das hat dir der Teufel gesagt! das hat dir der Teufel gesagt!“ schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in einer Wuth den linken Fuß mit beiden Händen und riß sich mitten entzwei.

In dieser zweiten Fassung läuft das Wochenende am Ende nicht einfach weg, sondern reißt sich entzwei. Zudem gibt es hier mehr Namensvorschläge der Königin.

Märchen: Rumpelstilzchen (1812)

Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Und es traf sich, daß er mit dem König zu sprechen kam und ihm sagte: „ich habe eine Tochter, die weiß die Kunst, Stroh in Gold zu verwandeln.“ Da ließ der König die Müllerstochter alsogleich kommen, und befahl ihr, eine ganze Kammer voll Stroh in einer Nacht in Gold zu verwandeln, und könne sie es nicht, so müsse sie sterben. Sie wurde in die Kammer eingesperrt, saß da und weinte, denn sie wußte um ihr Leben keinen Rath, wie das Stroh zu Gold werden sollte. Da trat auf einmal ein klein Männlein zu ihr, das sprach: „was giebst du mir, daß ich alles zu Gold mache?“ Sie that ihr Halsband ab und gabs dem Männlein, und es that, wie es versprochen hatte. Am andern Morgen fand der König die ganze Kammer voll Gold; aber sein Herz wurde dadurch nur noch begieriger, und er ließ die Müllerstochter in eine andere, noch größere Kammer voll Stroh thun, das sollte sie auch zu Gold machen. Und das Männlein kam wieder, sie gab ihm ihren Ring von der Hand, und alles wurde wieder zu Gold. Der König aber hieß sie die dritte Nacht wieder in eine dritte Kammer sperren, die war noch größer als die beiden ersten und ganz voll Stroh, „und wenn dir das auch gelingt, sollst du meine Gemahlin werden.“ Da kam das Männlein und sagte: „ich will es noch einmal thun, aber du mußt mir das erste Kind versprechen, das du mit dem König bekommst.“ Sie versprach es in der Noth, und wie nun der König auch dieses Stroh in Gold verwandelt sah, nahm er die schöne Müllerstochter zu seiner Gemahlin.

Bald darauf kam die Königin ins Wochenbett, da trat das Männlein vor die Königin und forderte das versprochene Kind. Die Königin aber bat, was sie konnte und bot dem Männchen alle Reichthümer an, wenn es ihr ihr Kind lassen wollte, allein alles war vergebens. Endlich sagte es: „in drei Tagen komm ich wieder und hole das Kind, wenn du aber dann meinen Namen weißt, so sollst du das Kind behalten!“

Da sann die Königin den ersten und zweiten Tag, was doch das Männchen für einen Namen hätte, konnte sich aber nicht besinnen, und ward ganz betrübt. Am dritten Tag aber kam der König von der Jagd heim und erzählte ihr: ich bin vorgestern auf der Jagd gewesen, und als ich tief in den dunkelen Wald kam, war da ein kleines Haus und vor dem Haus war ein gar zu lächerliches Männchen, das sprang als auf einem Bein davor herum, und schrie:

heute back ich, morgen brau ich,
übermorgen hohl ich der Frau Königin ihr Kind,
ach wie gut ist, daß niemand weiß,
daß ich Rumpelstilzchen heiß!

Wie die Königin das hörte, ward sie ganz froh und als das gefährliche Männlein kam, frug es: Frau Königin, wie heiß ich? – „heißest du Conrad?“ – Nein. – „Heißest du Heinrich?“ – „Nein.“ – „Heißt du etwa Rumpelstilzchen?“ Das hat dir der Teufel gesagt! schrie das Männchen, lief zornig fort und kam nimmermehr wieder.

Dies ist die erste Fassung des Märchens Rumpelstilzchen, wie es die Gebrüder Grimm 1812 veröffentlicht haben. Die Variante ist auf jeden Fall kinderfreundlicher, da sich das Rumpelstilzchen hier nicht selbst zerreißt…

Märchen: Rotkäppchen – erste Fassung

Dies ist die erste Fassung des Märchens Rotkäppchen der Gebrüder Grimm, Sie erschien 1812.

Rothkäppchen

Es war einmal eine kleine süße Dirn, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles dem Kind geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rothem Sammet, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rothkäppchen; da sagte einmal seine Mutter zu ihm: „komm, Rothkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und ein Bouteille mit Wein, die bring der Großmutter hinaus, sie ist krank und schwach, da wird sie sich daran laben; sey hübsch artig und grüß sie von mir, geh auch ordentlich und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du, und zerbrichst das Glas, dann hat die kranke Großmutter nichts.“

Rothkäppchen versprach der Mutter recht gehorsam zu seyn. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rothkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf, Rothkäppchen aber wußte nicht, was das für ein böses Thier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. „Guten Tag, Rothkäppchen.“ – „Schön Dank, Wolf!“ – „Wo willst du so früh hinaus, Rothkäppchen,“ – „zur Großmutter.“ – Was trägst du unter der Schürze? – „die Großmutter ist krank und schwach, da bring ich ihr Kuchen und Wein, gestern haben wir gebacken, da soll sie sich stärken.“ – „Rothkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?“ – „Noch eine gute Viertelstunde im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nußhecken das wirst du ja wissen“ sagte Rothkäppchen. Der Wolf gedacht bei sich, das ist ein guter fetter Bissen für mich, wie fängst dus an, daß du den kriegst: „hör Rothkäppchen, sagte er, hast du die schönen Blumen nicht gesehen, die im Walde stehen, warum guckst du nicht einmal um dich, ich glaube, du hörst gar nicht darauf, wie die Vöglein lieblich singen, du gehst ja für dich hin als wenn du im Dorf in die Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald.“

Rothkäppchen schlug die Augen auf, und sah wie die Sonne durch die Bäume gebrochen war und alles voll schöner Blumen stand; da gedacht es: ei! wenn ich der Großmutter einen Strauß mitbringe, der wird ihr auch lieb seyn, es ist noch früh, ich komm doch zu rechter Zeit an, und sprang in den Wald und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meint es, dort stünd noch eine schönere und lief darnach und immer weiter in den Wald hinein. Der Wolf aber ging geradeswegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Thüre. „Wer ist draußen?“ – „das Rothkäppchen, ich bring dir Kuchen und Wein, mach mir auf.“ – „Drück nur auf die Klinke, rief die Großmutter, ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.“ Der Wolf drückte an der Klinke, und die Thüre sprang auf. Da ging er hinein, geradezu an das Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann nahm er ihre Kleider, that sie an, setzte sich ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.

Rothkäppchen aber war herum gelaufen nach Blumen, und erst, als es so viel hatte, daß es keine mehr tragen konnte, machte es sich auf den Weg zu der Großmutter. Wie es ankam stand die Thüre auf, darüber verwunderte es sich, und wie es in die Stube kam, sahs so seltsam darin aus, daß es dacht: ei! du mein Gott! wie ängstlich wird mirs heut zu Muth, und bin sonst so gern bei der Großmutter. Drauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück, da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah wunderlich aus. „Ei Großmutter, was hast du für große Ohren!“ – „daß ich dich besser hören kann.“ – „Ei Großmutter, was hast du für große Augen!“ – „daß ich dich besser sehen kann.“ – „Ei Großmutter was hast du für große Hände!“ – „daß ich dich besser packen kann.“ – „Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!“ – „daß ich dich besser fressen kann.“ Damit sprang der Wolf aus dem Bett, sprang auf das arme Rothkäppchen, und verschlang es.

Wie der Wolf den fetten Bissen erlangt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen. Der Jäger ging eben vorbei und gedacht, wie kann die alte Frau so schnarchen, du mußt einmal nachsehen. Da trat er hinein und wie er vors Bett kam, da lag der Wolf den er lange gesucht, der hat gewiß die Großmutter gefressen vielleicht ist sie noch zu retten, ich will nicht schießen, dachte der Jäger. Da nahm er die Scheere und schnitt ihm den Bauch auf, und wie er ein paar Schnitte gethan, da sah er das rothe Käppchen leuchten, und wie er noch ein wenig geschnitten, da sprang das Mädchen heraus und rief: „ach wie war ich erschrocken, was wars so dunkel in dem Wolf seinem Leib;“ und dann kam die Großmutter auch lebendig heraus. Rothkäppchen aber holte große schwere Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, daß er sich todt fiel.

Da waren alle drei vergnügt, der Jäger nahm den Pelz vom Wolf, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rothkäppchen gebracht hatte, und Rothkäppchen gedacht bei sich: du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Weg ab in den Wald laufen, wenn dirs die Mutter verboten hat.

Es wird auch erzählt, daß einmal, als Rothkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf ihm zugesprochen und es vom Weg ableiten wollen. Rothkäppchen aber hütete sich und ging gerad fort ihres Wegs, und sagte der Großmutter daß sie den Wolf gesehen, daß er ihm guten Tag gewünscht aber so bös aus den Augen geguckt; „wenns nicht auf offner Straße gewesen, er hätt mich gefressen.“ – „Komm, sagte die Großmutter wir wollen die Thüre verschließen, daß er nicht herein kann.“ Bald darnach klopfte der Wolf an und rief: „mach auf, Großmutter, ich bin das Rothkäppchen, ich bring dir Gebackenes.“ Sie schwiegen aber still und machten die Thüre nicht auf, da ging der Böse etlichemal um das Haus und sprang endlich aufs Dach, und wollte warten bis Rothkäppchen Abends nach Haus ging, dann wollt’ er ihm nachschleichen und wollts in der Dunkelheit fressen. Aber die Großmutter merkte, was er im Sinn hatte; da stand vor dem Haus ein großer Steintrog: „hol’ den Eimer, Rothkäppchen, gestern hab ich Würste gekocht, da trag das Wasser, worin sie gekocht sind, in den Trog.“ Rothkäppchen trug so lange bis der große, große Trog ganz voll war. Da stieg der Geruch von den Würsten dem Wolf in die Nase, er schnupperte und guckte hinab, endlich machte er den Hals so lang, daß er sich nicht mehr halten konnte, er fing an zu rutschen, und rutschte vom Dach herab und gerade in den großen Trog hinein und ertrank. Rothkäppchen aber ging fröhlich und sicher nach Haus.

Zum Rothkäppchen. No. 26.

Dieses Märchen haben wir außer unserer mündlichen Sage, was zu wundern ist, nirgends angetroffen, als bei Perrault (chaperon rouge) wonach Tiecks Bearbeitung.

Liste: Deutsche Sagen- und Märchengestalten

Hier entsteht eine Liste von Märchen- und Sagengestalten, die es in Deutschland und im deutschsprachigen Raum gibt:

A

B

  • Bahkauv
  • Bergmönch
  • Bilwis
  • Bruder Rausch
  • Burkart Keller
  • Buschgroßmutter
  • Busebeller

D

E

  • Ekerken
  • Elwetritsch
  • Enerbanske
  • Entenwick

F

  • Fährmann Hildebrand
  • Fenixmännlein
  • Fraa vun Bensem
  • Frau Holle

G

  • Geldmännlein
  • Gluhschwanz
  • Gonger
  • Grinkenschmied

H

  • Habergeiß
  • Hägglmoo
  • Hakemann
  • Hanns von Hackelberg
  • Heinzelmännchen
    Gute Hausgeister.
  • Hermann Gryn
  • Hinzelmann
  • Hödeken
  • Holzfräulein

J

  • Juffer

K

  • Katzenveit (Waldgeist)
  • Kielkropf
  • Klabautermann
  • Kobold
  • Kopfloser Reiter
  • Kornmann (Korndämon)
  • Krampus

L

  • Langtüttin
  • Lorelei (auch Loreley, Lore Lay etc.)

M

  • Moosmann
  • Moosweiblein
  • Muhkalb

N

  • Nachtgiger
  • Nachtkrabb
  • Nachzehrer
  • Nebelmännle

P

  • Percht
  • Perchta
  • Petermännchen
  • Popelmann

Q

  • Querx

R

S

  • Salige Frau
  • Schmied von Kochel
  • Schneewittchen (Bild)
  • Schöne Lau
  • Schrat
  • Spätlesereiter
  • Stüpp
  • Sürthgens Mossel

V

  • Venedigermännle

W

Z

  • Zwerg

Der Hase und der Igel

Am 26. April 1840 erscheint im „Hannoverschen Volksblatt“ die von Wilhelm Schröder überarbeitete niederdeutsche Tierfabel „Dat Wettlopen twischen den Haasen un den Swinegel op de lütje Haide bi Buxtehude“ (Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel auf der kleinen Heide bei Buxtehude). Im Gegensatz zur alten Überlieferung verlegte Schröder den Ort des Geschehens von Bexhövede in der Nähe von Bremerhaven nach Buxtehude.

Das Märchen ist sozialkritisch zu sehen: der Igel steht für den armen Bauern, der Hase für den arroganten Großgrundbesitzer.

Die Brüder Grimm übernahmen das Märchen in die 5. Auflage ihrer „Kinder und Hausmärchen„. Dies hier ist die ursprüngliche Fassung:

Disse Geschicht is lögenhaft to vertellen, Jungens, aver wahr is se doch, denn mien Grootvader, van den ick se hew, plegg jümmer, wenn he se mie vortüerde (mit Behaglichkeit vortrug), dabi to seggen „wahr mutt se doch sien, mien Söhn, anners kunn man se jo nich vertellen.“ De Geschicht hett sick aver so todragen.

Et wöor an enen Sündagmorgen tor Harvesttied, jüst as de Bookweeten bloihde: de Sünn wöor hellig upgaen am Hewen, de Morgenwind güng varen över de Stoppeln, de Larken süngen inn’r Lucht, de Immen sumsten in den Bookweeten, un de Lühde güngen in ehren Sündagsstaht nah’r Karken, un alle Creatur wöor vergnögt, un de Swinegel ook.

De Swinegel aver stünd vör siener Döhr, hett de Arm ünnerslagen, keek dabi in den Morgenwind hinut, un quinkeleerde en lütjet Leedken vör sick hin, so good un so slecht as nu eben am leven Sündagmorgen en Swinegel to singen pleggt. Indem he nu noch so half liese vör sick hin sung, füll em up eenmal in he künn ook wol, mittlerwiel sien Fro de Kinner wüsch un antröcke, en beeten in’t Feld spazeeren, un tosehn wie sien Stähkröwen stünden. De Stähkröwen wöoren aver de nöcksten bi sienem Huuse, un he pleggte mit siener Familie davon to eten, darüm sahg he se as de sienigen an. Gesagt gedahn. De Swinegel makte de Huusdöor achter sick to, un slög den Weg nah’n Felde in. He wöor noch nich gans wiet von Huuse, un wull jüst um den Stähbusch (kleines Gebüsch), de dar vör’m Felde liggt, nah den Stähkröwenacker hinup dreien, as em de Haas bemött, de in ähnlichen Geschäften uutgahn wöor, nämlich um sienen Kohl to besehn. As de Swinegel den Haasen ansichtig wöor, so böhd he em en fründlichen go’n Morgen. De Haas aver, de up siene Wies en vornehmer Herr was, un grausahm hochfahrtig dabi, antwoorde nicks up den Swinegel sienen Gruß, sondern seggte tom Swinegel, wobi he en gewaltig höhnische Miene annöhm, „wie kummt et denn, dat du hier all bi so frohem Morgen im Felde rumlöppst?“ „Ick gah spazeeren“ segt de Swinegel. „Spazeeren?“ lachde de Haas, „mi ducht du kunst de Been ook wol to betern Dingen gebruuken.“ Disse Antword verdröot den Swinegel ungeheuer, denn alles kunn he verdreegen, aver up siene Been laet he nicks komen, eben weil se von Natuhr scheef wöoren. „Du bildst di wol in,“ seggt nu de Swinegel tom Haasen, „as wenn du mit diene Been mehr utrichten kannst?“ „Dat denk ick“ seggt de Haas. „Dat kummt up’n Versöok an,“ meent de Swinegel, „ick pareer, wenn wie in de Wett loopt, ick loop di vörbi.“ „Dat is tu’m Lachen, du mit diene scheefen Been,“ seggt de Haas, „aver mienetwegen mach’t sien, wenn du so övergroote Lust hest. Wat gilt de Wett?“ „En goldne Lujedor un’n Buddel Branwien“ seggt de Swinegel. „Angenahmen,“ spröok de Haas, „sla [458] in, un denn kann’t gliek los gahn.“ „Nä, so groote Ihl hett et nich,“ meen de Swinegel, „ick bünn noch gans nüchdern; eerst will ick to Huus gahn un en beeten fröhstücken: inner halwen Stünd bün ick wedder hier upp’n Platz.“
Damit güng de Swinegel, denn de Haas wöor et tofreeden. Ünnerweges dachde de Swinegel bi sick „de Haas verlett sick up siene langen Been, aver ick will em wol kriegen. He is zwar ehn förnehm Herr, aver doch man’n dummen Keerl, un betahlen sall he doch.“ As nu de Swinegel to Huuse anköom, spröok he to sien Fro „Fro, treck di gau an, du must mit mi nah’n Felde hinuut.“ „Watt givt et denn?“ seggt sien Fro. „Ick hew mit’n Haasen wett’t üm’n golden Lujedor un’n Buddel Branwien, ick will mit em inn Wett loopen, un da salst du mit dabi sien.“ „O mein Gott, Mann,“ füng nu den Swinegel sien Fro an to schreen, „büst du nich klook, hest du denn ganz den Verstand verlaaren? Wie kannst du mit den Haasen in de Wett loopen wollen?“ „Holt dat Muul, Wief,“ seggt de Swinegel, „dat is mien Saak. Resonehr nich in Männergeschäfte. Marsch, treck di an, un denn kumm mit.“ Wat sull den Swinegel sien Fro maken? se mußt wol folgen, se mugg nu wollen oder nich.

As se nu mit enander ünnerwegs wöoren, spröok de Swinegel to sien Fro „nu pass up, wat ick seggen will. Sühst du, up den langen Acker dar wüll wi unsen Wettloop maken. De Haas löppt nemlich in der eenen Föhr un ick inner andern, un von baben fang wi an to loopen. Nu hast du wieder nicks to dohn as du stellst di hier unnen in de Föhr, un wenn de Haas up di andere Siet ankummt, so röppst du em entgegen „ick bün all hier.“

Damit wöoren se bi den Acker anlangt, de Swinegel wiesde siener Fro ehren Platz an, un gung nu den Acker hinup. As he baben anköm, wöor de Haas all da. „Kann et losgahn?“ seggt de Haas. „Ja wol“ seggt de Swinegel. „Denn man to!“ Un damit stellde jeder sick in siene Föhr. De Haas tellde „hahl een, hahl twee, hahl dree,“ un los güng he wie en Stormwind den Acker hindahl. De Swinegel aver löp ungefähr man dree Schritt, dann dahkde he sick dahl in de Föhr, un bleev ruhig sitten.

As nu de Haas in vullen Loopen ünnen am Acker anköm, röp em den Swinegel sien Fro entgegen „ick bün all hier.“ De Haas stutzd un verwunderde sick nich wenig: he menede nich anders als et wöor de Swinegel sülvst, de em dat toröp, denn bekanntlich süht den Swinegel sien Fro jüst so uut wie ehr Mann.
De Haas aver meende „datt geiht nich to mit rechten Dingen.“ He röp „nochmal geloopen, wedder üm!“ Un fort güng he wedder wie en Stormwind, datt em de Ohren am Koppe flögen. Den Swinegel sien Fro aver blev ruhig up ehren Platze. As nu de Haas baben anköm, röp em de Swinegel entgegen „ick bün all hier.“ De Haas aver ganz uuter sick vör Ihwer schreede „noch mal gelopen, wedder üm!“ „Mi nich to schlimm,“ antwoorde de Swinegel, „mienetwegen so oft as du Lust hast.“ So löp de Haas noch dree un söbentig mal, un de Swinegel höhl et ümmer mit em uut. Jedesmal, wenn de Haas [460] ünnen oder baben anköm, seggten de Swinegel oder sien Fro „ick bün all hier.“
Tum veer un söbentigsten mal aver köm de Haas nich mehr to ende. Midden am Acker stört he tor Eerde, datt Blohd flög em uutn Halse, un he bleev doot upn Platze. De Swinegel aver nöhm siene gewunnene Lujedor un den Buddel Branwien, röp siene Fro uut der Föhr aff, un beide güngen vergnögt mit enanner nah Huus, un wenn se nich storben sünd, lewt se noch.

So begev et sick, datt up der Buxtehuder Heid de Swinegel den Haasen dodt lopen hatt, un sied jener Tied hatt et sick keen Haas wedder infallen laten mit’n Buxtehuder Swinegel in de Wett to lopen.

De Lehre aver uut disser Geschicht ist erstens, datt keener, un wenn he sick ook noch so förnehm dücht, sick sall bikommen laten, övern geringen Mann sick lustig to maken, un wöort ook man’n Swinegel. Un tweetens datt et gerahden is, wenn eener freet, datt he sick ’ne Fro uut sienem Stande nimmt, un de jüst so uutsüht as he sülwst. Wer also en Swinegel is, de mutt tosehn datt siene Fro ook en Swinegel is, un so wieder.

Bild: Leutemann or Offterdinger, photo by Harke – Mein erstes Märchenbuch, Verlag Wilh. Effenberger, Stuttgart, end of the 19th century. See Cover and title page, Gemeinfrei, Link

Streetart: Aschenputtels Kutsche

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Aschenputtels Kutsche – in der Disney Cinderella Version.

Gesehen in Bonn.

Ein modernes Märchen

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Flüchtlingskrise. Ein Wort, das uns in den letzten Monaten konstant begleitet. Die sozialen Medien sind voll davon und man wird von der Flut an Kommentaren und YouTube Links erschlagen, wobei sich meistens zwei Lager herauskristallisieren: entweder machst du dir Sorgen um die langfristigen Folgen (dann bist du automatisch ein Nazi) oder du zeigst Verständnis (dann bist du ein blinder Idiot). Wie aus dem Nichts sprießen viele selbsternannte Experten aus dem Internetkosmos, um ihren Senf dazu zu geben. Zum Glück gibt es auch viele, die sich auf respektvolle Art und Weise mit dem Thema auseinandersetzen. Besonders interessant: spricht man die Menschen im realen Leben an, so entsteht meist ein interessantes Gespräch. Was im Internet in eine Schlammschlacht ausartet, läuft im realen Leben dann doch zum Glück etwas anders. Ich diskutiere grundsätzlich nicht gerne online über einige Themen, sondern schätze es, wenn mein Gesprächspartner mit gegenüber sitzt. Im Alltag verfolge ich eine eigene Philosophie der Dinge, die mit folgender Geschichte vielleicht etwas deutlich wird:

Vier Männer trafen sich in einer abgelegenen Kneipe. Jeder erzählte von der Beschaffenheit seiner Heimat. „Bei uns ist Tradition das Wichtigste“, erzählte der Mann aus dem Norden. „Es gibt simple und klare Regeln, an die du dich halten musst. Wenn du das machst, bist du schnell ein Teil unserer Familie. Wenn nicht, wirst du schwer bestraft.“ Der Südländer schüttelte mit dem Kopf. „Solche Regeln gibt es bei uns nicht. Bei uns macht jeder, was er will und meistens klappt es auch. Wir kümmern uns nur um unseren Kram und gestalten unseren Alltag sehr flexibel.“ „Was ist mit Bildung?“ wirft der Mann aus dem Westen ein. „In unserer Kultur zählt, wie gut du über das, was um dich herum passiert, informiert bist. Das Wissen ist eine starke Waffe, die sogar körperliche Gewalt überwinden kann.“ Schweigsam hört der Mann aus dem Osten zu. „Bei uns zählt ausschließlich, was du leistest und wie hart du arbeitest. Disziplin wird uns bereits früh beigebracht und damit verbringen wir die meiste Zeit des Tages.“ Als der Wirt am Tisch vorbeigeht fragen ihn die Männer, welche Kultur er bevorzugt. „Meine Familie hat ursprünglich Viehzucht betrieben. Mein Vater war flexibel genug, um seinen eigenen Weg zu gehen und hat diese Kneipe eröffnet. Ich arbeite jeden Tag sehr hart, um sie zu bewirtschaften und höre viele Geschichten aus der Umgebung. Mein größter Wunsch ist es, dass meine Kinder diese Tradition eines Tages fortsetzen werden.“ Die Männer nicken schweigsam und nach einer Weile fügt der Wirt hinzu: „Wie steht es in eurer Heimat um die Gastfreundschaft?“

In der Geschichte ist die Kneipe ein neutraler Ort, in dem sich unterschiedliche Kulturen treffen, um sich auszutauschen. Jeder bringt seine persönlichen Erfahrungen und Einstellungen mit. Die Frage ist dabei nicht, welche Einstellung die beste ist. Vielmehr geht es darum, welche Aspekte einer anderen Kultur ich in mein Leben integrieren kann und was ich an andere weitergebe. Eine Vorgehensweise, die man vielleicht auch im Alltag ausprobieren sollte, fernab von der Medienschlacht im Internet.

Köpfe: Johann Karl August Musäus

Johann Karl August Musäus (* 29. März 1735 in Jena; † 28. Oktober 1787 in Weimar) war ein deutscher Schriftsteller, Literaturkritiker und Pädagoge. Er gilt als einer der bekanntesten Volksmärchensammler seiner Zeit und als Vorläufer der Brüder Grimm.

Leben

Musäus wurde in Jena geboren und studierte an der Universität Jena Theologie und Jura. Er arbeitete später als Hofmeister und wurde 1769 Professor für Eloquenz und Geschichte an der Fürstenschule in Weimar.

Werk

Musäus ist am bekanntesten für seine Sammlung von deutschen Volksmärchen, die unter dem Titel „Volksmärchen der Deutschen“ zwischen 1782 und 1786 veröffentlicht wurde. Diese Sammlung hatte einen stark satirischen Charakter und diente dazu, die aristokratischen und bürgerlichen Sitten der Zeit zu verspotten. Die Märchen sind in einer lebhaften und bildhaften Sprache geschrieben und zeugen von Musäus‘ Fähigkeit als Erzähler.

Anders als die späteren Werke der Brüder Grimm war Musäus‘ Sammlung nicht auf eine möglichst getreue Wiedergabe der Volksmärchen ausgerichtet, sondern erlaubte sich eine freie und humorvolle Interpretation. Die Sammlung beeinflusste jedoch nachfolgende Märchensammler und Schriftsteller und trug dazu bei, das Interesse an der Volksliteratur zu wecken.

Vermächtnis

Johann Karl August Musäus gilt als wichtige Figur in der deutschen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Sein Werk hat nicht nur die Märchenliteratur beeinflusst, sondern auch die Romantiker seiner Zeit inspiriert. Seine satirische Herangehensweise und sein einzigartiger Stil machten ihn zu einer markanten Stimme seiner Epoche.

Werke (Auswahl)

„Volksmärchen der Deutschen“ (5 Bände, 1782–1786)
„Physiognomische Reisen“ (1778–1779)

Märchen

Richilde

Sage: Das Heinzelmännchen

Einst lebte in der heiligen Reichsstadt Cölln ein armer Schneiderlehrling, ein lustiger, fleißiger Bursche. Leider hatte er aber seiner Meisterstochter etwas zu tief in die Augen gesehen, und so kam es, daß er, als er, nachdem er ausgelernt hatte, das Haus seines Meisters verlassen und auf die Wanderschaft gehen sollte, nur mit schwerem Herzen davonzog, denn entdeckt hatte er sich der Jungfer Margarethe nicht, er wagte es nicht, weil er zu arm war. Nichts destoweniger verließ ihn das Bild des Mädchens nicht, wo er auch war, dachte er an sie und sah sie vor sich stehen, und so kam es denn, daß ihn diese geheime Liebe von manchen Thorheiten abhielt, welche junge Leute wie er sonst in der Fremde zu begehen pflegen.

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