Gedicht: Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

(Jakob van Hoddis)

Das Gedicht wurde am 11. Januar 1911 in der Berliner Zeitschrift Der Demokrat erstmals veröffentlicht. Es stammt von Jakob van Hoddis, der am 16. Mai 1887 geboren wurde.

Bild: Ludwig Meidner, Apokalyptische Landschaft (1913)

Dunkel wars, der Mond schien helle (Variante 4)

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
schneebedeckt die grüne Flur.
Als ein Wagen blitzeschnelle
langsam um die runde Ecke fuhr.

Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft,
als ein totgeschossener Hase
auf der Sandbank Schlittschuh lief.

Und auf einer roten Bank,
die blau angestrichen war,
saß ein blondgelockter Knabe
mit kohlrabenschwarzem Haar.

Neben ihm ’ne alte Schrulle,
zählte kaum erst sechzehn Jahr,
in der Hand ’ne Butterstulle,
die mit Schmalz bestrichen war.

Droben auf dem Apfelbaume,
der sehr süße Birnen trug,
hing des Frühlings letzte Pflaume,
und an Nüssen noch genug.

Von der regennassen Strasse
wirbelte der Staub empor.
Und ein Junge bei der Hitze
mächtig an den Ohren fror.

Beide Hände in den Taschen.
hielt er sich die Augen zu.
Denn er konnte nicht ertragen,
wie nach Veilchen roch die Kuh.

Holder Engel, süßer Bengel,
furchtbar liebes Trampeltier.
Du hast Augen wie Sardellen,
alle Ochsen gleichen Dir.

Gedicht: Dunkel wars, der Mond schien helle (Variante 3)

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
Schnee lag auf der grünen Flur.
Als ein Wagen blitzeschnelle
langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft,
als ein totgeschoss’ner Hase
auf der Sandbank Schlittschuh‘ lief.
Drinnen saß ein holder Jüngling,
Schwarzgelockt mit blondem Haar,
Neben ihm ’ne alte Schachtel,
Zählte kaum ein halbes Jahr,
In der Hand ’ne Butterwecke,
Die mit Schmalz bestrichen war.

Gedicht: Dunkel wars, der Mond schien helle (Variante 2)

Finster war’s, der Mond schien helle
Auf die grünbeschneite Flur,
Als ein Wagen blitzesschnelle
Langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschossner Hase
Auf dem Wasser Schlittschuh lief
Und ein blondgelockter Knabe
Mit kohlrabenschwarzem Haar
Auf die grüne Bank sich setzte,
Die gelb angestrichen war.

Die Grafik wurde mit der Midjourney AI erstellt.

Gedicht: An Jean Paul

An Jean Paul

So oft ich sonst mich trug mit deinem Bilde,
Bereut ich, daß ich meine Pflicht verschoben,
Und nie zu dir ein Wort des Danks erhoben
Für deine seelenvolle Lieb und Milde.

Nun hat der Tod mit seinem Gorgoschilde
Den Blick erstarrt, der gern geschaut nach oben,
Und was ich Freundliches für dich gewoben,
Send ich dir nach in fremdere Gefilde.

Es hat den Jüngling deine Gunst belebet,
Dir galt für künft’ge Glut der erste Zunder,
Auf dem noch kaum ein Funke schwach gebebet.

Nun weilt dein ewig wonniger, gesunder,
Verjüngter Geist, wohin er stets geschwebet,
Im überschwenglichen Gebiet der Wunder.

Gedicht von August von Platen zum Tode von Jean Paul am 14. November 1825.

Gedicht: Remember, Remember

Remember, remember the fifth of November,
gunpowder, treason and plot,
I know of no reason why gunpowder treason
should ever be forgot.
Guy Fawkes, Guy Fawkes,
’twas his intent
to blow up the King and the Parliament.
Three score barrels of powder below,
Poor old England to overthrow:
By God’s providence he was catch’d
With a dark lantern and burning match.
Holloa boys, holloa boys, make the bells ring.
Holloa boys, holloa boys, God save the King!
Hip hip hoorah!

Dieser Kinderreim wird gerne zur Bonfire Nacht aufgesagt. Damit gedenkt Großbritannien des Versuchs von Guy Fawkes, am 5. November 1605 das Parlament in die Luft zu sprengen.

Bild: Windsor Castle from the lower court on the 5th of November. View of the festivities in the lower court of Windsor Castle during Guy Fawkes Nightvon Paul Sandby

Gedicht: Der Zipferlake

der-zipferlake

(Gesehen in der Friedrichstraße in Bonn)

„Der Zipferlake“ ist der deutschen Titel des Gedichts „Jabberwocky“ von Alice Lewis Caroll aus „Alice hinter den Spiegeln“ in der Übersetzung von Enzensberger.

Im Original lautet das Gedicht:

Jaberwocky

Twas brillig, and the slithy toves
Did gyre and gimble in the wabe;
All mimsy were the borogoves,
And the mome raths outgrabe.

Beware the Jabberwock, my son!
The jaws that bite, the claws that catch!
Beware the Jubjub bird, and shun
The frumious Bandersnatch!

He took his vorpal sword in hand:
Long time the manxome foe he sought
So rested he by the Tumtum tree,
And stood awhile in thought.

And as in uffish thought he stood,
The Jabberwock, with eyes of flame,
Came whiffling through the tulgey wood,
And burbled as it came!

One, two! One, two! And through and through
The vorpal blade went snicker-snack!
He left it dead, and with its head
He went galumphing back.

And hast thou slain the Jabberwock?
Come to my arms, my beamish boy!
O frabjous day! Callooh! Callay!
He chortled in his joy.

Twas brillig, and the slithy toves
Did gyre and gimble in the wabe;
All mimsy were the borogoves,
And the mome raths outgrabe.

Lewis Carroll nicht nur ein herausragender britischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters sondern auch Fotograf, Mathematiker und Diakon. Geboren wurde er am 27. Januar 1832, Daresbury, gestorben ist er am 14. Januar 1898 in Guildford (beides Vereinigtes Königreich). Alice im Wunderland ist sein bekanntestes Buch, es erschien erstmals am 4. Juli 1865.

Gedicht: 6. Oktober 1805 (Hermann Bauer)

Was rennt das Volk, was wälzt sich dort
Durchs Kochertor so brausend fort?
Stürzt Aalen unter Feuersflammen?
Es rottet sich die Stadt zusammen,

Und viele Reiter hoch zu Roß
Gewahrt man aus dem Menschentroß,
Und hinter ihren Bärenmützen
Hell blinken Bajonettenspitzen!
Das ist wahrhaftig der Franzos,

Das sind des Kaisers tapfre Garden
Und alles stehet, klein und groß,
Um auf den Kaiser selbst zu warten.
Jetzt werden tausend Stimmen laut:
„Der ist’s im Wagen, aufgeschaut!“

„Seht ihn, der alle Welt bezwungen,
Und sich zum Herrscher aufgeschwungen!“
Beinah verliert man das Gehör
Vom donnernden »Vive l’empereur«!
Das mit der Grenadiere Reih’n

Die „Kaspar, „Balthas“, „Melcher“ schrein.
Und vor der „Krone“ hält der Zug,
Napoleon steigt aus dem Wagen,
Weil auch auf seinem Siegesflug
Ihn Halt zu machen zwingt der Wagen;

Drum hatte auch vor wen’gen Stunden
Mit Sack und Pack sich eingefunden
Des Kaisers »Maitre de cuisine«,
Der waltet in der Küche drin,
Um seinen Herrn heut zu versorgen

Und rüstet alles auch für morgen.
„He ab“, so ruft er, „kein Mann hier,
Mit dem ich français kann parlier?“
Posthalter spricht: „Da kann ich dienen,
Es war ja in Bensançon drein

Mein Vetter, der parliert mit Ihnen,
Sie werden nur verwundert sein,“
Und vor den Küchenmeister tritt
Herr Balthas nun mit sich’rem Schritt,
Empfängt die Weisung einzukaufen

Und harte Taler einen Haufen;
Drum hat sich schnell nach Wunsch gefunden,
Was nur dem Kaiser täte munden,
Geflügel, Mouton, Pomme de terre,
Die Taler fliegen kreuz und quer.

Die Garden aber auf der Gasse
Erhalten auch was für den Schlund
Und sehen manchem vollen Fasse
Mit langen Schlücken auf den Grund.
Der „kleine Korporal“ inzwischen

Ist aufgestanden von den Tischen,
Im obern Erker speiste er.
Nun bringet Karten man daher;
Mit seinen höchsten Offizieren
Will er den nächsten Weg studieren,

In Donauwörth recht schnell zu sein
Soll alles laufen feldquerein
Drum ward vom Kaiser gleich befohlen
Herr Rapp der deutsche General,
Soll einen sichern Führer holen

Vom Härtsfeld bis ins Donautal.
Den sichern Mann herbeizubringen
Muß wieder Vetter Balthas springen;
Denn seine junge Frau läßt ihn
Nicht selber mit den Franken ziehn.

Herr Rapp und er im Kellnerkleide
Sie treten vor den Kaiser beide,
Der freundlich frägt, als er ihn sieht;
»Cet homme honnêt est il le guide?«
Nun wißt ihr, Widerspruch zu tragen,

Das konnt Napoleon nur schwer,
Drum sprach Herr Balthas ohne Zagen:
»Oui, hört ihr oui, mon empereur«
Doch kaum hat er das Wort gesprochen,
Hat ihn ein Jubel unterbrochen,

Der jauchzend von der Gasse schallt,
Die narbigen Krieger alle lachen,
Daß ihnen fast die Rippen krachen,
Sie schauen alle in die Höhe,
Daß ihnen tut der Nacken wehe!

’s ist deutlich, daß am Rathausgiebel,
Dem Türmlein vornen mit der Uhr
Ihr Lachen gilt, das ohne Zwiebel
Selbst Tränen weckt, was gibt es nur?
Ich will’s Euch sagen, liebe Leute,

Es zieret ewig jung und schön
Das Uhrwerk, der Spion von Aalen,
Ein eigner Spaß, nicht zu bezahlen!
Es dreht mit jedem Pendelschwunge
Ein Menschenkopf sein Antlitz um,

Zwar nur aus Holz und ohne Zunge
Raucht er bald rechts, bald links herum;
Da bleiben alle Kinder stehen
Und können satt sich nimmer sehen,
Und stießen einst beim Schlag zwei Böcke,

Da lachten selbst langweil’ge Stöcke.
Die Handwerksbursch’ in allen Reichen
Berühmen laut das Aalener Zeichen,
Weshalb vom Neide ist davor
Die Fabel ausgesponnen worden

Vom Kriegsspion am Feindestor.
Kurz, was auch dick französisch war,
Verstand den alten Spaß aufs Haar,
Nun wißt Ihr schon, wie es gekommen,
Daß diesen Jubel man vernommen:

Die Garde des Napoleon
Erblickt auf einmal den Spion
Und alle werden hingerissen;
Der Held jedoch, wie konnt er wissen,
Was seine Tapfern so erregt,

Es lauscht sein Ohr, sein Auge frägt,
Und schnell zum Fenster hingesprungen
Streckt plötzlich er hinaus den Kopf,
Da ist ein Weheruf erklungen
Er fährt zurück mit blut’gem Schopf!

Die Fenster waren ja geschlossen,
Was Wunder, daß ihm jetzt das Blut
An Kopf und Stirne rieseln tut;
Der Marschall Berthier selbst muß laufen
Ein Pflaster auf die Wund’ zu kaufen.

Dies Fenster gibt noch heute Zeugnis
Von jenem tragischen Ereignis,
Und Aalen hat den Ruhm den großen
Der Siegesheld Napoleon,
Er hat den Kopf zuerst verstoßen

An unserem Aalener Spion!

Hermann Bauer

Die Illustration wurde mit der Midjourney AI erstellt.

Gedicht: Icke

Icke

Ick sitze hier und esse Klops.
Uff eenmal klopps.
Ick kieke, staune, wundre mir,
uff eenmal jeht se uff, de Tür.
Nanu, denk ick, ick denk, nanu!
jetzt is se uff, erst war se zu.
Ick jehe raus und kieke,
und wer steht draußen? – Icke!

(Berliner Gedicht, von dem viele Varianten existieren)

Gedicht: Heidenröslein

Sah ein Knab’ ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

Johann Wolfgang von Goethe