10 Fakten zur Gerichtsorganisation – Artikel 92 Grundgesetz

  1. Artikel 92 Grundgesetz lautet:
    Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.
  2. Bis zum 23. Juni 1968 lautete er:
    Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch das Oberste Bundesgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.
  3. Die Weimarer Verfassung kannte in den Art. 100 ff grundsätzlich entsprechende Regelungen.
  4. Artikel 92 ist zunächst einmal eine Ausprägung der Gewaltenteilung, indem es die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut und andere Staatsorgane als die Gerichte davon ausschließt.
  5. Des weiteren ist er eine Konkretisierung der Kompetenzverwaltung zwischen Bund und Ländern.
  6. Zudem ist er eine klare Abgrenzung zum Dritten Reich, dessen Justizsystem auch von Sondergerichten wie dem Volksgerichtshof geprägt war.
  7. Auch einer Privatisierung der Rechtsprechung und privaten Gerichten, z.B. Schiedsgerichten, enge Grenzen.
  8. Umstritten ist, ob Artikel 92 auch dem einzelnen Richter ein subjektives Recht einräumt. Mit der herrschenden Meinung ist dies abzulehnen.
  9. Eine Sonderrolle nimmt das Bundesverfassungsgericht ein, das kein Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist, sondern ein unabhängiger Gerichtshof des Bundes und ein Verfassungsorgan.
  10. Bestrebungen, den Artikel 92 zu reformieren, gibt es derzeit keine. Es handelt sich dabei um eine klar formulierte grundlegende Bestimmung unserer Verfassung. Angemerkt sei, dass nach hier vertretener Ansicht die Sonderrolle des Bundesverfassungsgerichts stärker herausgestellt werden sollte.

Dokumentiert: Beschluss des 2. Senats des BVerfG vom 2. Juli 1974 (2 BvA 1/69 – Grundrechtsverwirkung)

Beschluß
des Zweiten Senats vom 2. Juli 1974
– 2 BvA 1/69 –

in dem Verfahren wegen Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG gegen 1. den Journalisten Dr. Gerhard F …, 2. die Druckschriften und Zeitungsverlag GmbH, M …, Antragsteller: die Bundesregierung, vertreten durch den Bundesminister des Innern, Bonn 7, Rheindorfer Str. 198
Entscheidungsformel:
Die Anträge werden zurückgewiesen.

Gründe
I.
Die Bundesregierung hat am 20. März 1969 beim Bundesverfassungsgericht beantragt,

  1. das Grundrecht der freien Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, beider Antragsgegner auf eine vom Bundesverfassungsgericht festzusetzende Zeit für verwirkt zu erklären,

  2. dem Antragsgegner Dr. F… auf die Dauer der Verwirkung des Grundrechts das Wahlrecht, die Wählbarkeit und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter abzuerkennen, und

  3. die Druckschriften- und Zeitungsverlag GmbH aufzulösen.

Die Anträge wurden vor allem damit begründet, die durch die Druckschriften- und Zeitungsverlag GmbH verlegte, von Dr. F… als deren alleinigem Gesellschafter und Chefredakteur herausgegebene Deutsche National-Zeitung (früher Deutsche National- Zeitung und Soldaten-Zeitung) habe seit langem durch nationalistische, antisemitische und rassistische Veröffentlichungen im In- und Ausland erhebliches Aufsehen erregt. Die Antragsgegner hätten durch Mißachtung des Gedankens der Völkerverständigung, durch den Versuch der Wiederbelebung des Antisemitismus sowie durch Diffamierung und Bekämpfung der Staatsform der Bundesrepublik Deutschland die Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung mißbraucht. Zum Beleg dafür war der Antragsschrift eine Zusammenstellung von Zitaten aus Meldungen, Kommentaren und Aufsätzen der DNZ-SZ und DNZ aus den Jahren 1964 bis 1969 beigefügt.

Die Antragsgegner haben die Berechtigung der Anträge in Stellungnahmen vom 30. Dezember 1969, 14. Januar 1970 und 15. September 1970, die der Bundesregierung jeweils zur Äußerung zugestellt worden sind, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im einzelnen bestritten und dazu zahlreiche weitere Veröffentlichungen aus der Zeit vor und nach der Antragstellung vorgelegt.

Die Bundesregierung hat, obwohl ihr vor dieser Entscheidung noch einmal dazu Gelegenheit geboten war, weder auf die umfangreichen tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen in den Verteidigungsschriften erwidert noch – wie vom Gericht angeregt – zur Frage der gegenwärtigen Gefährlichkeit der Antragsgegner im Sinne des Art. 18 GG Stellung genommen. Sie hat auch keine neuen Tatsachen mehr vorgetragen.

II.
Die Anträge sind nicht hinreichend begründet.

Art. 18 GG dient der Abwehr von Gefahren, die der freiheitlich- demokratischen Grundordnung durch individuelle Betätigung drohen können (BVerfGE 25, 44 (60), 88 [100]). Er richtet sich gegen den Einzelnen, der kraft seiner Fähigkeiten und der ihm zur Verfügung stehenden Mittel eine um der Erhaltung der Verfassung willen zu bekämpfende Gefahr schafft (BVerfGE 25, 44 [60]). Für Art. 18 GG ist die Gefährlichkeit des Antragsgegners im Blick auf die Zukunft entscheidend (BVerfGE 11, 282 f.). Besteht sie während des Verwirkungsverfahrens, so ist in aller Regel anzunehmen, daß von dem Antragsgegner auch in Zukunft eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgehen wird. Eine Gefährlichkeit in diesem Sinne darzutun, ist zunächst Sache des Antragstellers. Er hat sie nicht dargetan; offensichtlich ist sie hier nicht.

Seit der Antragstellung hat sich immer deutlicher abgezeichnet, daß die in der Zeitung der Antragsgegner vertretenen und propagierten Auffassungen – soweit sie für ein Verfahren nach Art. 18 GG relevant sein könnten – keine als ernsthafte Gefahr für den Bestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Betracht kommende, politisch bedeutsame Resonanz mehr finden. Die Bundesregierung hat seit 1970 auf die in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht eingehenden Ausführungen der Antragsgegner nicht erwidert. Sie hat ferner darauf verzichtet, neue Tatsachen vorzutragen, aus denen geschlossen werden könnte, daß die nach Ansicht der Bundesregierung im Zeitpunkt der Antragstellung von der Antragsgegnern ausgehende Gefahr für die freiheitlich- demokratische Grundordnung gegenwärtig noch fortbesteht. Deshalb waren die Anträge gemäß § 37 BVerfGG zurückzuweisen.

Sollte sich an dieser Sachlage etwas ändern und den Antragsgegnern wiederum ein Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgeworfen werden, so kann in einem neuen Verfahren nach Art. 18 GG auch auf die Vorgänge zurückgegriffen werden, die dem gegenwärtigen Verfahren zugrunde liegen (BVerfGE 11, 282 [283]).

Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.

Seuffert v. Schlabrendorff Rupp Geiger Hirsch Rinck Rottmann Wand

10 Fakten zu Artikel 18 Grundgesetz – Verwirkung von Grundrechten

  1. Artikel 18 Grundgesetz lautet:
    Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Absatz 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Absatz 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.
  2. Der Artikel ist von Anfang an im Grundgesetz vertreten. Er wurde 1993 geändert, als das Asylrecht von Art. 16 Abs. 2 in Artikel 16a verschoben wurde.
  3. Einzelheiten der Grundrechtsverwirkung regeln §§ 36 bis 42 BVerfGG.
  4. Dass die Grundrechtsverwirkung nur durch das Bundesverfassungsgericht und nur auf Antrag durch den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung oder einer Landesregierung gestellt werden kann, zeigt den Ausnahmecharakter der Norm.
  5. Entzogen werden können nur die aufgeführten Grundrechte, insbesondere nicht die allgemeine Menschenwürde oder die Religionsfreiheit.
  6. Artikel 18 kann – und muss wohl auch – in seinem Gesamtkontext so verstanden werden, dass er den dort erwähnten Grundrechten und noch mehr den nicht erwähnten Grundrechten eine besondere Bedeutung einräumt.
  7. Anderen modernen Verfassungen sind solche Grundrechtsverwirkungen fremd.
  8. Es fanden bislang vier Verfahren nach Artikel 18 statt, das Bundesverfassungsgericht hat aber in keinem Fall eine  Grundrechtsverwirkung ausgesprochen.
  9. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat die Grenzen für eine mögliche Grundrechtsverwirkung sehr hoch gesetzt. So muss der Antragsgegner „kraft seiner Fähigkeiten und der ihm zur Verfügung stehenden Mittel eine um der Erhaltung der Verfassung willen zu bekämpfende Gefahr“ schaffen (BVerfGE 25, 44). Es geht also nicht um eine mögliche Verwirkung nur angesichts der Gesinnung.
  10. Auch wenn Artikel 18 Grundgesetz bei einer zu engen Auslegung kritisch zu sehen ist, stellt er trotz seiner geringen praktischen Entscheidung eine wichtige Werteentscheidung des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie dar.

Dokumentiert: Ablehnung des NPD-Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

– 1 BvQ 45/19 –

In dem Verfahren
über den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung

die Stadt Zittau zu verpflichten, die von ihr abgehängten Wahlplakate der

Antragstellerin mit der Aufschrift „Migration tötet!“ unverzüglich wieder

an ihren ursprünglichen Standorten aufzuhängen,

Antragstellerin:

Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)

– Landesverband Sachsen -,
Geschwister-Scholl-Straße 4, 01591 Riesa

– Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Peter Richter, LL.M.,
Birkenstraße 5, 66121 Saarbrücken –

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richter Masing,

Paulus,

Christ

gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 24. Mai 2019 einstimmig beschlossen:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

„Dokumentiert: Ablehnung des NPD-Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht“ weiterlesen

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: 1 BvQ 42/19 (Der Dritte Weg ./. facebook)

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

– 1 BvQ 42/19 –

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren
über den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung

die Beschlüsse des Landgerichts Frankenthal (Pfalz)

vom 8. März 2019 – 6 O 56/19 –

und

des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken

vom 17. April 2019 – 4 W 20/19 –

aufzuheben und festzustellen, dass

1. die Antragsgegnerin, bei Meidung eines für jeden Fall der Nichtvornahme

fälligen Zwangsgeldes bis zu 250.000 Euro, ersatzweise Zwangshaft bis zu

sechs Monaten, oder Zwangshaft bis zu sechs Monaten, verpflichtet wird,

die Facebookseite der Antragstellerin unter der URL https://www.facebook.com/ mit der Bezeichnung „Der III. Weg“ zu entsperren und ihr die Nutzung der Funktionen von www.facebook.com wieder einzuräumen;

2.die Antragsgegnerin, bei Meidung eines für jeden Fall der Nichtvornahme

fälligen Zwangsgeldes bis zu 250.000 Euro, ersatzweise Zwangshaft bis zu

sechs Monaten, oder Zwangshaft bis zu sechs Monaten, verpflichtet wird,

es zu unterlassen, die Facebookseite der Antragstellerin unter der URL

https://www.facebook.com/ mit der Bezeichnung „Der III. Weg“ wegen

des Teilens des Beitrags „Winterhilfestand in Zwickau-Neuplanitz“ zu

sperren und die Nutzung der Funktionen von www.facebook.com

vorzuenthalten oder den Beitrag zu löschen beziehungsweise deren

Sichtbarkeit einzuschränken;

3.hilfsweise, im Falle einer unwiederbringlichen Löschung der Daten der

Antragstellerin, die Antragsgegnerin, bei Meidung eines für jeden Fall der

Nichtvornahme fälligen Zwangsgeldes bis zu 250.000 Euro, ersatzweise

Zwangshaft bis zu sechs Monaten, oder Zwangshaft bis zu sechs Monaten,

verpflichtet wird, die Facebookseite der Antragstellerin unter der URL

https://www.facebook.com/ mit der Bezeichnung „Der III. Weg“ erneut

einzurichten und ihr die Nutzung der Funktionen von www.facebook.com

wieder einzuräumen.

Antragstellerin:

Der Dritte Weg,

vertreten durch den Gesamtvorstand, bestehend aus dem Vorsitzenden Klaus Armstroff, dem Stellvertreter Matthias Fischer, dem Schatzmeister Matthias Hermann und den Beisitzern René Teufer und Robin Liebers,
Eisenkehlstraße 35, 67475 Weidenthal

– Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Andreas Wölfel,
Schloßweg 8, 95709 Tröstau –

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richter Masing,

Paulus,

Christ

am 22. Mai 2019 einstimmig beschlossen:

1.Facebook Ireland Ldt., 4 Grand Canal Square, Dublin 2, Irland, wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Internetauftritt der Antragstellerin unter der Adresse www.facebook.com/ mit der Bezeichnung „Der III. Weg“ für die Zeit bis zur Feststellung des amtlichen Endergebnisses der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland vorläufig zu entsperren und ihr für diesen Zeitraum die Nutzung der Funktionen von www.facebook.com wieder einzuräumen. Das Recht und die Pflicht, einzelne Inhalte auf ihre Vereinbarkeit mit ihren Nutzungsbedingungen, den Rechten Dritter oder den Strafgesetzen zu prüfen und gegebenenfalls zu löschen, bleibt hierdurch unberührt.

2.Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

3.Das Land Rheinland-Pfalz hat der Antragstellerin die notwendigen Auslagen im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu erstatten.

G r ü n d e :

I.
1
Die Antragstellerin greift zum Zweck der Stellungnahme zum aktuellen politischen Tagesgeschehen und der Berichterstattung über ihre Parteiarbeit auf das in Deutschland weit verbreitete soziale Netzwerk „Facebook“ zurück (Antragsgegnerin). Mit ihrem Eilantrag wendet sie sich gegen die Löschung eines ihrer Beiträge und die anschließende Sperrung ihres Nutzeraccounts durch die Antragsgegnerin.
2
Am 21. Januar 2019 veröffentlichte die Antragstellerin unter dem in ihrem Namen betriebenen Nutzeraccount einen Link zu einem Artikel auf ihrer Internetseite, der den Titel „Winterhilfestand in Zwickau-Neuplanitz“ trägt. Darin heißt es unter anderem:

„Im Zwickauer Stadtteil Neuplanitz gibt es zahlreiche Menschen, die man landläufig wohl als sozial und finanziell abgehängt bezeichnen würde. Während nach und nach immer mehr art- und kulturfremde Asylanten in Wohnungen in den dortigen Plattenbauten einquartiert wurden, die mitunter ihrer Dankbarkeit mit Gewalt und Kriminalität Ausdruck verleihen, haben nicht wenige Deutsche im Viertel kaum Perspektiven (…)“
3
Unmittelbar nach der Veröffentlichung teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass der Beitrag als „Hassrede“ gegen die Gemeinschaftsstandards verstoße. Die Sichtbarkeit des Beitrags sei daher eingeschränkt und das Veröffentlichen von Beiträgen für 30 Tage gesperrt worden. Auf Einspruch der Antragstellerin, der unter Verweis auf die Meinungsfreiheit der Antragstellerin begründet wurde, erfolgte am 30. Januar 2019 die Löschung des Nutzerkontos, dessen Inhalt seitdem nicht mehr verfügbar ist.
4
Nach erfolgloser Abmahnung beantragte die Antragstellerin sodann vor dem Landgericht den Erlass einer einstweiligen Verfügung mit dem Inhalt, die Antragsgegnerin unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verpflichten, den Auftritt der Antragstellerin zu entsperren und ihr die Nutzung wieder einzuräumen sowie der Antragsgegnerin zu untersagen, den Auftritt wegen des Teilens des genannten Beitrages zu sperren, die Nutzung der Funktionen von Facebook vorzuenthalten oder den Beitrag zu löschen bzw. dessen Sichtbarkeit einzuschränken.
5
1. Das Landgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 8. März 2019 zurück. Die Seite dürfe schon deshalb gesperrt und gelöscht werden, weil die Äußerung jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz rechtswidrig sei und die Antragsgegnerin gemäß § 1 Abs. 3 NetzDG in Verbindung mit § 130 StGB zur Ergreifung von Maßnahmen verpflichtet gewesen sei. Der Verstoß gegen die Pflichten des Plattformbetreibers sei mit empfindlichen Geldbußen nach § 4 NetzDG belegt. Die genannten Äußerungen gäben dem Plattformbetreiber jedenfalls Anlass zur Prüfung des § 130 StGB, da die Gruppe der „Asylanten“ als Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 130 StGB taugliches Angriffsobjekt einer Volksverletzung sei. Durch die Bezeichnung als art- und kulturfremd sowie die Kombination mit dem „Dankbarkeit zeigen durch Gewalt und Kriminalität“ werde diese Bevölkerungsgruppe in ihrer Menschenwürde angegriffen und böswillig verächtlich gemacht. Damit bestehe für die Antragsgegnerin zumindest die Gefahr einer Inanspruchnahme nach § 4 NetzDG, weshalb die Sperrung und auch die Löschung des Beitrags verhältnismäßig seien.
6
Auch ein Anspruch auf Wiedereinräumung der Nutzung bestehe nicht, da eine Anspruchsgrundlage für eine Pflicht der Antragsgegnerin zur erneuten Kontrahierung mit der Antragstellerin und zur Veröffentlichung von Beiträgen nicht ersichtlich sei. Zwar spiele die Antragsgegnerin als wohl bekanntestes soziales Netzwerk bei der Meinungsbildung eine wichtige Rolle. Gleichwohl könne die Antragstellerin auch andere Formen der Meinungskundgabe – wie ihre Homepage im Internet, E-Mail, andere soziale Netzwerke oder andere Medienträger – nutzen.
7
2. Mit Beschluss vom 17. April 2019 wies das Oberlandesgericht die sofortige Beschwerde der Antragstellerin zurück. Nach dem Vortrag der Antragstellerin sei deren Internetauftritt bereits vor Einleitung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens endgültig gelöscht worden. Bei sachgerechter Auslegung des Rechtsschutzbegehrens sei dieses daher auf die Neubegründung eines Rechts zur aktiven Nutzung der Plattform und auf Ausspruch eines Verbotes gerichtet, den einzurichtenden Account in der Folgezeit aus denselben Gründen zu sperren oder zu löschen.
8
Dieser Antrag habe schon deshalb keinen Erfolg, weil er in unzulässiger Weise die Hauptsache vorwegnehme. In der Sache begehre die Antragstellerin vorliegend die uneingeschränkte Zurverfügungstellung eines Accounts zwecks öffentlicher Zugänglichmachung ihrer politischen Werbung. Eine derartige Leistungsverfügung komme nur ganz ausnahmsweise in Betracht, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile unabweisbar erscheine. Dafür sei vorliegend nichts ersichtlich. Zwar sei die Antragstellerin eine politische Partei, die unter anderem für die Wahlen zum europäischen Parlament im Mai 2019 um Wählerstimmen werbe. Das allein begründe für die Antragsgegnerin als privates Unternehmen – auch bei unterstellt marktbeherrschender Stellung in Deutschland – indes keine Rechtspflicht, der Antragstellerin ein Forum zu eröffnen.
9
3. Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verfolgt die Antragstellerin ihr Begehr fort. Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 5 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 3, Art. 2 Abs. 1, Art. 38 und Art. 19 Abs. 4 GG.
10
4. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens hat von ihrer durch das Bundesverfassungsgericht eingeräumten Gelegenheit zur Stellungnahme Gebrauch gemacht.

II.
11
1. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).
12
Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).
13
2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zu erlassen.
14
a) Eine gegebenenfalls noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint vielmehr nicht ausgeschlossen, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, soweit dieses den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der Ermöglichung einer weiteren Nutzung des Internetangebots www.facebook.com durch die Antragstellerin verneint hat.
15
Die angegriffenen Entscheidungen betreffen die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz in einem Rechtsstreit zwischen sich als Private gegenüberstehenden Parteien über die Reichweite der zivilrechtlichen Befugnisse des Betreibers eines sozialen Netzwerks, das innerhalb der Bundesrepublik Deutschland über erhebliche Marktmacht verfügt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können die Grundrechte in solchen Streitigkeiten im Wege der mittelbaren Drittwirkung Wirksamkeit entfalten (vgl. BVerfGE 7, 198 <205 f.>; 42, 143 <148>; 89, 214 <229>; 103, 89 <100>; 137, 273 <313 Rn. 109>; stRspr). Dabei können sich aus Art. 3 Abs. 1 GG jedenfalls in spezifischen Konstellationen auch gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten ergeben (vgl. BVerfGE 148, 267 <283 f.>). Ob und gegebenenfalls welche rechtlichen Forderungen sich insoweit auch für Betreiber sozialer Netzwerke im Internet – etwa in Abhängigkeit vom Grad deren marktbeherrschender Stellung, der Ausrichtung der Plattform, des Grads der Angewiesenheit auf eben jene Plattform und den betroffenen Interessen der Plattformbetreiber und sonstiger Dritter – ergeben, ist jedoch weder in der Rechtsprechung der Zivilgerichte noch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abschließend geklärt. Die verfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen sind insoweit noch ungeklärt.
16
Auch ergibt sich aus den angegriffenen Entscheidungen nicht mit hinreichender Gewissheit, dass dem beanstandeten Beitrag bei Beachtung grundrechtlicher Maßstäbe ein strafbarer Inhalt entnommen werden muss und sich die Sperrung des Beitrages sowie des Nutzerkontos bereits hieraus rechtfertigen. Auch von daher wäre eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unbegründet.
17
Zur Entscheidung stehen damit schwierige Rechtsfragen, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht entschieden werden können. Ihre Klärung ist – gegebenenfalls nach Durchführung eines Hauptsacheverfahrens vor den Fachgerichten – der Klärung in der Hauptsache vorbehalten. Es bedarf daher gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG einer Folgenabwägung.
18
b) Die Folgenabwägung geht zum Teil zugunsten der Antragstellerin aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Antragstellerin eine Nutzung ihres Internetangebots auf Facebook versagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zur Wiedereröffnung des Zugangs hätte verpflichtet werden müssen, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens einstweilig zur Wiederherstellung des Zugangs verpflichtet würde, sich später aber herausstellte, dass die Sperrung beziehungsweise Zugangsverweigerung zu Recht erfolgt war. Dies gilt jedenfalls für den Zeitraum bis zur Durchführung der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahl), für den die Antragstellerin eine besondere Dringlichkeit in ihrem Antrag dargelegt hat.
19
Die Antragstellerin bedient sich des Angebots der Antragsgegnerin, das nach deren Werbeangaben von über 30 Millionen Menschen in Deutschland monatlich genutzt wird, um ihre politischen Auffassungen darzulegen und zu Ereignissen der Tagespolitik Stellung zu nehmen. Die Nutzung dieses von der Antragsgegnerin zum Zweck des gegenseitigen Austausches und der Meinungsäußerung eröffneten Forums ist für die Antragstellerin von besonderer Bedeutung, da es sich um das von der Nutzerzahl her mit Abstand bedeutsamste soziale Netzwerk handelt. Gerade für die Verbreitung von politischen Programmen und Ideen ist der Zugang zu diesem nicht ohne weiteres austauschbaren Medium von überragender Bedeutung. Durch den Ausschluss wird der Antragstellerin eine wesentliche Möglichkeit versagt, ihre politischen Botschaften zu verbreiten und mit Nutzern des von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens betriebenen sozialen Netzwerks aktiv in Diskurs zu treten. Diese Möglichkeiten blieben ihr bei Nichterlass einer einstweiligen Anordnung verwehrt und würden dazu führen, dass die Wahrnehmbarkeit der Antragstellerin und ihrer Foren für diese Zeit in erheblichem Umfang beeinträchtigt wäre. Das gilt mit besonderer Dringlichkeit für den Zeitraum bis zum Abschluss der unmittelbar bevorstehenden Europawahl, an der die Antragstellerin als politische Partei mit einem gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 EuWG vom Bundeswahlausschuss zugelassenen Wahlvorschlag teilnimmt und für den allein sie eine besondere Eilbedürftigkeit geltend macht.
20
Demgegenüber wird die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens durch eine stattgebende Entscheidung lediglich verpflichtet, die von ihr aus freien Stücken eingegangene vertragliche Verpflichtung zur Verbreitung und Vorhaltung der von der Antragstellerin eingestellten Angebote vorläufig weiter zu erfüllen. Ihr entstehen durch die weitere Vorhaltung des Angebots an sich insbesondere keine wirtschaftlichen Kosten, die über das mit der ordnungsgemäßen Vertragserfüllung gegenüber anderen Nutzern verbundene Maß hinausgehen. Die Privatautonomie der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens wird daher nur insoweit tangiert, als ihr eine Loslösung von der ursprünglich freiwillig eingegangenen Vertragsbeziehung vorläufig verwehrt wird.
21
Insbesondere wird die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem tenorierten Inhalt nicht dazu verpflichtet, rechtswidrige oder gegen ihre Nutzungsbestimmungen verstoßende Beiträge ungeprüft vorhalten und verbreiten zu müssen. Denn ihr Recht und ihre Pflicht, einzelne Inhalte auf ihre Vereinbarkeit mit ihren Nutzungsbedingungen, den Rechten Dritter oder den Strafgesetzen zu prüfen und diese gegebenenfalls zu löschen, bleibt durch die vorläufige Bereitstellung des Accounts aufgrund dieser Anordnung unberührt. Gegen etwaige Löschungsentscheidungen der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens ist dann der Rechtsweg zu den Zivilgerichten eröffnet, denen im Rahmen der Prüfungen vertraglicher oder quasivertraglicher Ansprüche der Antragstellerin dann auch die Prüfung obliegt, ob die Entscheidung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahren auch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls mit der Werteordnung des Grundgesetzes vereinbar ist (vgl. BVerfGE 148, 267 <280 f., 283 f.>).
22
Seitens der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens ist nicht konkret dargetan, dass die Antragstellerin in der Vergangenheit wiederholt Anlass zu beanstandungswürdigen Inhalten gegeben hätte, die besonderen Überwachungs- und Bearbeitungsaufwand erwarten ließe, der angesichts der großen Zahl der Nutzer und des daraufhin ausgerichteten Geschäftsbetriebs ins Gewicht fiele.
23
3. Im Übrigen bleibt der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Erfolg. Denn die Antragstellerin hat nicht substantiiert dargetan, dass ihr durch die Sperrung des von ihr genannten Beitrags weitere schwere Nachteile entstünden; insbesondere steht es ihr frei, erneut Beiträge – unter Achtung der Strafgesetze, der Nutzungsbedingungen der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens und entgegenstehender Rechte Dritter – in das soziale Netzwerk einzustellen.
24
4. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
25
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Masing
Paulus
Christ

Meinung: Die GeschOBT, die AfD und das Vizepräsidentenproblem

Das AfD Vizepräsidenten Problem im Bundestag

Die aktuelle Problematik im Deutschen Bundestag (April 2019) sollte jedem politisch interessierten Menschen in Deutschland bekannt sein: Laut Geschäftsordnung des Bundestages (GeschOBT, auch GoBtg) in der Fassung vom 1. März 2019 hat jede Fraktion im Bundestag Anspruch auf mindestens eine Vizepräsidentin oder Vizepräsidenten des Bundestags.

Die einschlägige Norm lautet:

§ 2 GeschoBT – Wahl des Präsidenten und der Stellvertreter

(1) Der Bundestag wählt mit verdeckten Stimmzetteln (§ 49) in besonderen Wahlhandlungen den Präsidenten und seine Stellvertreter für die Dauer der Wahlperiode. Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.
(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Ergibt sich im ersten Wahlgang keine Mehrheit, so können für einen zweiten Wahlgang neue Bewerber vorgeschlagen werden. Ergibt sich auch dann keine Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages, findet ein dritter Wahlgang statt. Bei nur einem Bewerber ist dieser gewählt, wenn er die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt. Bei mehreren Bewerbern kommen die beiden Bewerber mit den höchsten Stimmenzahlen in die engere Wahl; gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los durch die Hand des amtierenden Präsidenten.
(3) Weitere Wahlgänge mit einem im dritten Wahlgang erfolglosen Bewerber sind nur nach Vereinbarung im Ältestenrat zulässig. Werden nach erfolglosem Ablauf des Verfahrens nach Absatz 2 neue Bewerber vorgeschlagen, ist neu in das Wahlverfahren gemäß Absatz 2 einzutreten.

Die Alternative für Deutschland (AfD) bildet im Deutschen Bundestag eine Fraktion, bislang wurde jedoch keines ihrer Mitglieder zum Vizepräsidenten gewählt, keiner der bisherigen Kandidaten – Albrecht Glaser und Mariana Harder-Kühnel – erhielt die erforderliche Mehrheit.

Dies wird von nicht wenigen kritisiert: hat man in der Geschäftsordnung die Regelung aufgestellt, dass alle Fraktionen vertreten sein sollen, so sei es undemokratisch, dies einer Fraktion zu versagen.

Entgegnet wird dem, es könne Abgeordneten insbesondere in Hinblick auf die Gewissensfreiheit ihres Mandats  – „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ (Art. 38 I Satz 2 GG) – nicht zugemutet werden, einen Kandidaten zu wählen, dem sie ihre Zustimmung nicht geben wollen. Dies ist sicherlich richtig. Anmerken möchte ich in diesem Zusammenhang aber noch, dass dies sonst in Sachen Fraktionszwang nicht so eng gesehen wird, doch ist das eine andere Debatte.

Bleibt das Dilemma: laut Geschäftsordnung des Bundestags hat die AfD einen Anspruch auf einen Vizepräsidentenposten, andererseits können die Abgeordneten nicht gezwungen werden, einen Kandidaten der AfD zu wählen. Ob man letzteres nun gut findet oder nicht, verfassungsrechtlich ist daran nichts zu rütteln.

Wie wird es weitergehen?

Wahrscheinlich wird die AfD nun weitere Wahlgänge ansetzen – und das kann sie rein theoretisch dauerhaft durchziehen. Ich glaube allerdings nicht, dass sie damit durchkommen wird, zu aufgeheizt ist inzwischen unter vielen Abgeordneten die grundsätzliche Stimmung gegen einen AfD Kandidaten.

Die AfD wird dann wohl den Gang nach Karlsruhe gehen und versuchen, im Versuch eines Organstreitverfahrens ihren Anspruch auf einen Vizepräsidentenposten durchzusetzen.

Hierbei sind grundsätzlich drei Sichtweisen des Bundesverfassungsgerichts möglich:

  • Zum einen kann man gut die Meinung vertreten, dass es für die Arbeit einer Fraktion nicht erforderlich sei, auch einen Präsidenten zu stellen. Dafür könnte man gute Gründe anführen, insbesondere dass das Grundgesetz Fraktionen nur im später hinzugefügten Artikel 53a GG kennt – zwingend vorgesehen sind diese im Grundgesetz also eigentlich nicht. Bliebe die Frage, wie das Gericht bei dieser Sichtweise in diesem Fall mit der entsprechenden Regelung der GeschoBT umgeht und z.B. eine Änderung anregt oder anordnet.
  • Weiter kann man auf dem Standpunkt stehen, dass der Status der Fraktionen so stark ist, dass zwar grundsätzlich ein Anspruch auf einen Vizepräsidenten gegeben ist, wird aber kein Abgeordneter einer Fraktion gewählt, dann ist das eben so. Die Abgeordneten können zur Wahl schließlich nicht verpflichtet werden. Zu der Geschäftsordnung des Bundestags hat sich das Gericht schon verschiedentlich geäußert. Für wesentlich halte ich dabei:
    Die Geschäftsordnung des Parlaments setzt voraus, daß die von ihr zur Wahrnehmung bestimmter Funktionen berufenen Organe diese in vernünftigen Grenzen ausüben und nicht mißbrauchen. Soll eine Bestimmung der Geschäftsordnung an der Verfassung gemessen werden, so muß mithin ihre faire und loyale Anwendung durch die dazu berufenen Organe vorausgesetzt werden. Die bloße Möglichkeit einer mißbräuchlichen Handhabung, die der Verfassung widersprechen würde, ist noch kein hinreichender Grund, die Bestimmung als solche für verfassungswidrig zu erklären. Wer in einem bestimmten Einzelfall durch mißbräuchliche Anwendung in seinen Rechten verletzt wird, kann sie in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren durchsetzen.“ (BVerfGE 1, 144).
    Die Regelung des § 2 GeschOBT könnte einer verfassungsrechtlichen Prüfung also durchaus standhalten, auch dann, wenn sie dazu führt, dass im Einzelfall eine Fraktion eben keinen Präsidenten stellt.
  • Schließlich könnte das Gericht aber auch den Standpunkt vertreten, dass die Mitwirkungsrechte der Fraktion einer im Bundestag – eben nicht für verfassungswidrig erklärten Partei – unbedingt verlangen, dass diese auch mit einem Vizepräsidenten vertreten ist. Kann dieser nicht über reguläre Wahl ermittelt werden, eben da andere Abgeordnete diese verhindern, müsste dann die GeschoBT um einen weiteren Weg ergänzt werden, einen Vizepräsidenten dieser Fraktion zu ermöglichen. Verfassungsrechtlich unbedenklich könnte nach hier vertretener Ansicht angesichts Art. 40 I S. 1 („Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer.„)
    hierbei allenfalls sein, dass die Wahl durch einen Wahlausschuss vorgenommen werden, wo es meist einfacher ist, Kompromisse zu finden. Fraglich ist, ob der Bundestag auf das Recht der Wahl verzichten könnte und über die Geschäftsordnung auf dieses Recht verzichten und hier andere Regelungen anwenden könnte, z.B. dass ein vorgeschlagener Kandidat mit einer qualifizierten Mehrheit abgelehnt werden muss oder bis zu einer erfolgreichen Wahl der Fraktionsälteste kommissarisch als Präsident fungiert.

Ich wage keine Prognose, wie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hier ausfallen könnte (na gut, wenn Sie mich festnageln, wird es die mittlere Variante werden). Auf jeden Fall wäre ein Gang nach Karlsruhe für die AfD mit Risiken verbunden – aber durchaus auch für die anderen Parteien resp. Fraktionen.

Wie der Konflikt vermeiden könnte

Auch wenn ich persönlich auf dem Standpunkt stehe, dass die AfD unter den aktuellen Umständen einen Vizepräsidenten stellen sollte, dürfte dies tatsächlich schwierig umzusetzen und durchsetzbar sein.

Wäre ich also Fraktionsgeschäftsführer – insbesondere der AfD – würde ich dieses Risiko daher gar nicht eingehen und einen Kompromiss suchen.

So gibt es durchaus Abgeordnete in anderen Parteien, die es für problematisch halten, dass die AfD entgegen der parlamentarischen Übung keinen Vizepräsidenten stellt. Warum also nicht einen aus einer anderen Fraktion – oder sogar einen fraktionslosen… – vorschlagen, die Interessen der AfD im Präsidium sozusagen treuhänderisch zu vertreten? Die GeschoBT besagt zwar, dass jede Fraktion mit mindestens einem Präsidenten vertreten sein soll, aber muss dieser auch aus der eigenen Fraktion kommen…? Dem Wortlaut der Norm nach wohl kaum. Unter Umständen ließe sich so ein für alle Fraktionen tragbarer Kompromiss finden – was ich aber für unwahrscheinlich hielte.

Eine andere Möglichkeit wäre, die Geschäftsordnung so anzupassen, dass möglichen verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Nichtbeteiligung einer Fraktion im Präsidium dadurch ausgeräumt werden. Dies könnte z.B. durch eine erweiterte Berichtspflicht an nicht vertretene Fraktionen und / oder eine Verpflichtung zur Anhörung bei bestimmten Entscheidungen geschehen.

So oder so sollte der Konflikt gelöst werden, denn so ein Dauerstreit steht unserer Demokratie nicht gut.

Anmerkung 2022: Vor drei Jahren schrieb ich noch, dass ich grundsätzlich auf dem Stanpunkt stehe, dass die AfD einen Vizepräsidenten stellen sollte. Mein Beweggrund war damals, dass ich auf dem Standpunkt stand, dass die Einbindung der AfD gegen deren Radikalisierung helfen würde. Inzwischen ist die AfD jedoch so abgedriftet, dass ich die Notwendigkeit einer Einbindung nicht mehr sehe.

Könnte das Grundrecht auf Asyl abgeschafft werden?

Friedrich Merz wurde mit seiner Aussage zum Asylrecht teilweise so interpretiert, dass er das Grundrecht abschaffen wolle – was er im übrigen nie gesagt oder gar gefordert hat.

Im Zuge der folgenden Diskussion auf twitter äußerte ich, dass ich eine ersatzlose Abschaffung des Asylartikels Art. 16a GG im Grundgesetz für ausgeschlossen halte, da Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsklausel) i.V.m. Art. 1 GG (Menschenwürde, Menschenrechte) das Asylgrundrecht der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entziehe.

Allerdings führt das Bundesverfassungsgericht aus (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 14. Mai 1996- 2 BvR 1938/93), dass die „durch Art. 79 Abs. 3 GG gezogene Grenze, nach der die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht berührt werden dürfen, … nicht dadurch verletzt“ wird, „daß Ausländern Schutz vor politischer Verfolgung nicht durch eine grundrechtliche Gewährleistung geboten wird.“

Das Asylgrundrecht könnte also aus verfassungsrechtlicher Sicht ersatzlos aus dem Grundgesetz gestrichen werden.

Entscheidend ist aber die obige Hervorhebung von „grundrechtlich“.

Denn „das Bundesverfassungsgericht [hat] zur Bestimmung des Begriffs der politisch Verfolgten in Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. ausgeführt, dem Asylgrundrecht liege die von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung zugrunde, kein Staat habe das Recht, Leib, Leben oder persönliche Freiheit aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in der politischen Überzeugung, in der religiösen Grundentscheidung oder in unverfügbaren Merkmalen lägen.“

Daraus folgt, dass der Staat verpflichtet ist, politisch verfolgten ein wie auch immer geartetes Schutzrecht zu gewähren, wenn ihnen Gefahr für Leib und Leben droht. Zu der Frage, wie dieses Schutzrecht aus verfassungsrechtlicher Sicht ausgestaltet sein muss, hat sich das Bundesverfassungsgericht explizit nicht geäußert, der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers dürfte hier recht weit sein und müsste nicht zwingend ein Bleiberecht im Bundesgebiet umfassen – möglich wären z.B. Vereinbarungen mit sicheren Drittstaaten.

Angemerkt sei weiter, dass sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention, die gemäß Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts ist, ebenfalls ein Schutzanspruch politisch verfolgter ergibt (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 02. Dezember 1997- 2 BvL 55/92). Die Frage, ob und inwieweit darüber hinaus ein Schutzanspruch aus Art. 25 GG in Verbindung mit Völkergewohnheitsrecht gegeben ist – was zu bejahen sein dürfte – kann dementsprechend offen bleiben.

tldr

Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, das Asylrecht aus dem Grundgesetz zu streichen. Ein Schutzanspruch politisch Verfolgter ergibt sich aber schon aus Art. 1 GG sowie aufgrund völkerrechtlicher Regelungen.

Das Bundesverfassungsgericht über die Folgen des Todes eines Verfassungsbeschwerdeführers

Was passiert eigentlich mit einer Verfassungsbeschwerde, wenn der Beschwerdeführer während des laufenden Verfahrens verstirbt? Das Bundesverfassungsgericht führt dazu im Beschluss vom 24. Oktober 2017 (1 BvR 1312/16) aus:

Über die Folgen des Todes des Beschwerdeführers für ein anhängiges Verfassungsbeschwerdeverfahren lässt sich mangels einer gesetzlichen Regelung nur für den einzelnen Fall unter Berücksichtigung der Art des angegriffenen Hoheitsaktes und des Standes des Verfassungsbeschwerdeverfahrens entscheiden (vgl. BVerfGE 124, 300 <318> m.w.N.).

Eine Rechtsnachfolge im Verfassungsbeschwerdeverfahren kommt grundsätzlich nicht in Betracht, weil diese Verfahrensart regelmäßig der Durchsetzung höchstpersönlicher Rechte dient. Ausnahmen sind lediglich im Hinblick auf solche Rügen zugelassen worden, die ein Rechtsnachfolger im eigenen Interesse geltend machen kann (vgl. BVerfGE 109, 279 <304>; BVerfGK 9, 62 <70>, jeweils m.w.N.). Ein solches zur Fortführung der Verfassungsbeschwerde berechtigendes eigenes Interesse der Erben des Beschwerdeführers – für deren Vertretung im Übrigen aber auch keine Vollmacht vorgelegt worden ist – ist hier nicht gegeben, da die Verfassungsbeschwerde die Durchsetzung höchstpersönlicher, an seinen Status als Rechtsanwalt anknüpfender Rechte des Verstorbenen verfolgt.

Unter diesen Umständen ist lediglich auszusprechen, dass sich das Verfahren durch den Tod des Beschwerdeführers erledigt hat.

Das Bundesverfassungsgericht und Meinungsfreiheit – 1 BvR 917/09

Viel wird derzeit über Meinungsfreiheit gesprochen und geschrieben.

Und in dem Zusammenhang kann es nicht schaden, einen Blick darauf zu werfen, was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt.

Kurz zusammengefasst: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist sehr weit auszulegen. Meinungsäußerungen finden Ihre Grenze in den entsprechenden Strafgesetzen, die dann aber wiederum im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG ausgelegt werden müssen.

Wortwörtlich schreibt das Gericht:

„Das Bundesverfassungsgericht und Meinungsfreiheit – 1 BvR 917/09“ weiterlesen

Das DoppelEinhorn und die Meinungsfreiheit

Der Kampf gegen Hatespeech

Der Kampf gegen Hatespeech in sozialen Netzen ist eines der großen Anliegen der Bundesregierung. Dagegen ist ja grundsätzlich auch nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil.

Leider wird dabei immer wieder übers Ziel hinausgeschossen. Verwiesen sei z.B. auf das unausgegorene Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Doch wenn man denkt, es könne nicht mehr schlimmer werden, kommt das Doppeleinhorn:

Fragwürdiges Verständnis von Meinungsfreiheit

Ruft man den twitter Account des DoppelEinhorn auf, begegnet einem im Header der schöne Spruch:

Es heißt Grundrecht auf Meinungsfreiheit und nicht Grundrecht auf Scheißelabern.

„Das DoppelEinhorn und die Meinungsfreiheit“ weiterlesen