10 Fakten über Artikel 18 GG – Grundrechtsverwirkung

  1. Artikel 18 Grundgesetz lautet:
    Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.
  2. Das Verfahren ist in den §§ 36 bis 42 BVerfGG geregelt. Es übrigens nicht nur gegen natürliche, sondern  auch gegen juristische Personen eingeleitet werden.
  3. Die Verwirkung ist nur möglich, wenn die genannten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbraucht werden, die Religionsfreiheit z.B. ist ausdrücklich ausgenommen.
  4. Ein Antrag auf Verwirkung von Grundrechten kann ausschließlich durch den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung oder eine der Landesregierungen eingereicht werden (§ 36 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hört zuerst den Antragsgegner und kann eigene Untersuchungen anstellen; so hat es die Befugnis, Zwangsmaßnahmen bis hin zu Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmen zu veranlassen. Sieht das BVerfG Erfolgsassichten, findet eine mündliche Verhandlung statt.
  5. Den Umfang und die Dauer der Verwirkung der Grundrechte legt das Bundesverfassungsgericht fest. Es kann dem Antragsgegner auf die Dauer der Verwirkung der Grundrechte auch das Wahlrecht, die Wählbarkeit und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkennen und bei juristischen Personen auch ihre Auflösung anordnen. Es ist umstritten, ob die Verwirkung nur für die Grundrechte, die zum Kampf gegen die FDGO missbraucht wurden, oder auch die anderen genannten Grundrechte ausgesprochen werden kann. Sachgerecht ist wohl die zweite – herrschende – Meinung, systemgerechter erscheint hier aber die Mindermeinung.
    Nach § 84 III StGB kann zu einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren verurteil werden, wer gegen die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts verstößt.
    Sowohl Antragsgegner als auch Antragssteller können ggf. später Anträge stellen, die Verwirkung aufzuheben.
  6. Juristisch umstritten ist, ob die Rechtsfolge der Verwirkungsentscheidung der Verlust des Grundrechts oder nur das Verbot ist, sich gegenüber staatlichen Einschränkungsmaßnahmen darauf zu berufen. Die herrschende Meinung geht von letzterem aus. Diese ist aber abzulehnen, auch wenn sie auf den ersten Grund sachgerechter wirkt. Allein schon der Wortlaut des Artikel 18 spricht dagegen. Hinsichtlich der Folgen dürfte der Meinungsstreit aber ohnehin unerheblich sein.
  7. Bisher sind in der Gesichte der Bundesrepublik vier Verwirkungsverfahren in die Wege geleitet worden, die allesamt erfolglos waren.
  8. Für das erste Versagungsverfahren gegen den ehemaligen Vorsitzenden der verbotenen Sozialistischen Reichspartei (SRP) Otto Ernst Remer ließ sich das Bundesverfassungsgericht von 1952 bis 1960 rund acht Jahre Zeit, das zweite Verfahren betraf 1969 bis 1974 den Herausgeber der „Nationalzeitung“ Gerhard Frey, das dritte und vierte Verfahren liefen von 1992 bis 1996 gegen die beiden Rechtsextremen Thomas Dienel und Heinz Reizs. In allen Fällen ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Betroffenen keine Gefahr (mehr) für die FDGO darstellten.
  9. Die praktische Bedeutung von Artikel 18 Grundgesetz ist also mehr als nur gering. Das Strafrecht ist die geeignete Methode, Angriffe auf die Grundordnung abzuwehren. Ich bin mir persönlich daher noch nicht sicher, ob Artikel 18 daher entbehrlich oder doch ein wichtiges Signal für die wehrhafte Demokratie ist. Eine Diskussion über Art. 18 GG gab es nur selten. 2017 allerdings zu der Frage, ob das Grundrecht der ungestörten Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 GG in den Grundrechtekatalog des
    Art. 18 GG aufgenommen werden soll, was sinnvoll sein dürfte.
  10. Im Jahr 2024 ist der Artikel wieder vermehrt in der Diskussion, da eine Petition fordert, dem Vorsitzenden der Thüringer AfD, Björn Höcke, die Grundrechte zu entziehen.

Illustration: Midjourney AI

10 Fakten über Artikel 69 Grundgesetz

10 fa

  1. Artikel 69 Grundgesetz lautet
    (1) Der Bundeskanzler ernennt einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter.
    (2) Das Amt des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers endigt in jedem Falle mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages, das Amt eines Bundesministers auch mit jeder anderen Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers.
    (3) Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen.
  2. Der Artikel ist seit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 unverändert.
  3. Eine der wichtigsten Regelungen ist der Absatz 1, der regelt, dass der Bundeskanzler einen der Bundesminister zu seinem Stellvertreter ernennen muss. Dieser Stellvertreter wird in der Praxis Vizekanzler genannt, auch wenn das Grundgesetz den Begriff nicht kennt. Das Grundgesetz sieht nur einen Vizekanzler vor. Diskutiert wird aber, ob für den Fall der Verhinderung des Vertreters ein Stellvertreter dessen designiert werden soll.
  4. Die Ernennung erfolgt formlos. Sie kann durch Urkunde, aber auch mündlich z.B. in einer Kabinettsitzung erfolgen. Wesentlich ist, dass sie öffentlich ist und zeitnah erfolgt.
  5. Der Vertretungsfall tritt nur ein, wenn der Kanzler vorübergehend daran gehindert ist, seine Funktion auszuüben, was von ihm regelmäßig selbst festzulegen ist. Unklar ist, was passiert, wenn der Kanzler dies nicht selbst erklären kann, z.B. nach einem Unfall oder bei Entführung. Praktischerweise sollte wohl das Kabinett die Entscheidung fällen. Die Lehre schlägt außerdem noch den Vizekanzler selbst sowie das Bundesverfassungsgericht vor, die diese Entscheidung treffen sollten, was aber beides starken Bedenken begegnet.
  6. In der Geschichte der Bundesrepublik war der Vizekanzler im Regelfall der Bundesminister des Auswärtigen.
  7. Walter Scheel war der einzige Vizekanzler, der geschäftsführend das Amt des Bundeskanzlers ausübte: Nach seinem Rücktritt hatte Bundeskanzler Willy Brandt den Bundespräsidenten gebeten, ihn von seinen Aufgaben sofort zu entbinden und nicht nach Art. 69 Absatz 3 zu ersuchen, die Geschäfte weiterzuführen. Scheel führte diese vom 7. bis zum 16. Mai 1974. Kurioserweise wurde Scheel am 15. Mai 1974 zudem zum Bundespräsidenten gewählt, dieses Amt trat er aber erst am 1. Juli 1974 an.
  8. Absatz 2 regelt, dass das Amt des Bundeskanzlers auf jeden Fall mit dem Zusammentreten eines neuen Bundestages endet – und ebenso das Amt eines Bundesministers. Diese enge Verbindung zwischen dem Amt des Bundeskanzlers und der Bundesminister zeigt auch die weitere Regelung, dass das Amt der Bundesminister auch endet, wenn der Bundeskanzler anderweitig aus dem Amt scheidet.
  9. Der Bundespräsident kann den Kanzler und die Bundesminister ersuchen, ihre Amtsgeschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers fortzuführen. Der Bundeskanzler kann dies entsprechend bei den Bundesministern tun. Sowohl der Kanzler als auch die Minister sind zur Fortführung grundsätzlich verpflichtet, es sind aber freilich andere Absprachen möglich (siehe Punkt ).
  10. Die Regelungen des Absatz I sollten bei einer Reform dahingehend konkretisiert werden, wann und wie der Vertretungsfall eintritt.

10 Fakten über das Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG

  1. Grundlage für das Parteiverbot ist Art. 21 Abs. 2 GG:
    Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.
    Näheres regeln die §§ 43ff BVerfGG. Das Parteiverbot kann also nur durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden.
  2. Damit sie verboten werden kann, muss die Partei  also „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen“ die „Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ oder die „Gefährdung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland“ zu erreichen.
  3. Das Bundesverfassungsgericht konkretisierte weiter:
    Eine Partei ist nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung […] nicht anerkennt; es muß vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen.
  4. Nur der Deutsche Bundestag, der Bundesrat oder die Bundesregierung können den Antrag auf ein Parteiverbot beim Bundesverfassungsgericht stellen. Parteien, die nur auf Landesebene aktiv sind, können auch auf Antrag einer Landesregierung verboten werden.
  5. Das Verfahren muss streng rechtsstaatlich sein, was durch das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem ersten NPD Verbotsverfahren verdeutlicht wurde:
    Die Beobachtung einer politischen Partei durch V-Leute staatlicher Behörden, die als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, unmittelbar vor und während der Durchführung eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei ist in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren.
  6. Die Folgen des Parteiverbots sind die Auflösung der Partei und ihrer Teilorganisationen sowie die Konfiszierung des Vermögens.
  7. Bisher gab es erst zwei erfolgreiche Verbotsverfahren: gegen die SRP, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP, am 23. Oktober 1952 und die KPD am 17. August 1956.
  8. Die Verbotsverfahren gegen die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und die Nationale Liste (NL) scheiterten daran, dass das Bundesverfassungsgericht schon die Parteieigenschaft verneinte. Die beiden Organisationen konnten dann als Vereine verboten werden.
  9. Besonderes Aufsehen erregten die beiden Anläufe, die NPD zu verbieten. Das erste Verfahren scheiterte, da zu viele V-Leute an entscheidenden Positionen der Partei waren. Im zweiten Verfahren stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die NPD zwar schon die freiheitlich demokratische Grundordnung beseitigen wolle, sie aber schlicht zu unbedeutend sei, dies ernsthaft zu erreichen. Dieses Urteil wurde verschiedentlich kritisiert.
  10. Letztlich sind die Hürden für ein Parteiverbot aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte sehr hoch, die Rechtsprechung des BVerfG hat diese sogar noch weiter erhöht.

10 Fakten über die Abschaffung der Todesstrafe – Art. 102 Grundgesetz

  1. Artikel 102 GG lautet:
    Die Todesstrafe ist abgeschafft.
  2. Der Artikel befindet sich 1949 im Grundgesetz und wurde seitdem auch nicht mehr geändert.
  3. In der deutschen Verfassungstradition hat das Verbot der Todesstrafe nur in der Paulskirchenverfassung von 1849 ein Vorbild, in der es in § 139 hieß:
    Die Todesstrafe, ausgenommen wo das Kriegsrecht sie vorschreibt, oder das Seerecht im Fall von Meutereien sie zuläßt, so wie die Strafen des Prangers, der Brandmarkung und der körperlichen Züchtigung, sind abgeschafft.
  4. Ob die Todesstrafe abgeschafft werden soll, wurde vom Verfassungsgeber kontrovers diskutiert. Der derzeitige Artikel geht in erster Linie auf einen Vorschlag der rechten DP zurück, die damit verhindert wollte, dass Kriegsverbrecher hingerichtet werden.
  5. Die Todesstrafe iSd Art. 102 ist die nach einer richterlichen Entscheidung verhängte Strafe. Diskutiert wird aber, ob andere Maßnahmen wie z.B. der finale Rettungsschuss unter Artikel 102 fallen, was aber zu verneinen ist.Gemeint ist auch der tatsächliche Tod und nicht ein konstruierter „sozialer Tod“ o.ä. Damit kann ein Verbot der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht aus Art. 102 hergeleitet werden, was verschiedentlich versucht wird.
  6. Diskutiert wird immer wieder, ob Artikel 102 abgeschafft werden, also die Todesstrafe wieder eingeführt werden könnte. Nach hier vertretener Ansicht wäre das auf jeden Fall grundsätzlich in einer ganz neuen Verfassung nach Artikel 146 GG möglich, völkerrechtliche Bedenken einmal außen vorgelassen (s.u.). Die herrschende Meinung lehnt die Einführung der Todesstrafe in diesem Grundgesetz ab. Dem ist zunächst zu entgegnen, dass sich der Verfassungsgeber gezielt dagegen entschieden hat, die Abschaffung der Todesstrafe in Artikel 2 GG aufzunehmen, so ist die Abschaffung an sich der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 nicht unterworfen. Die Frage ist weiter, ob Artikel 102 nur eine Klarstellung und Erweiterung von Artikel 1 und 2 GG ist und damit das Verbot der Todesstrafe schon aus den dort normierten Grundrechten herzuleiten ist, was kontrovers diskutiert werden kann. Letztlich dürfte aber aufgrund der Verfassungsentwicklung und -praxis eine Wiedereinführung der Todesstrafe im Rahmen dieses Grundgesetzes inzwischen nach der herrschenden Meinung ausgeschlossen sein.
  7. Unabhängig von Art. 102 GG hat sich Deutschland durch das 2. Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) vom 15. Dezember 1989 sowie durch die Protokolle zur EMRK Nr. 6 vom 28. April 1983 sowie Nr. 13 vom 3. Mai 2002 zur Abschaffung der Todesstrafe völkerrechtlich verpflichtet.
  8. Verfassungsrechtlich fraglich ist, ob Artikel 102 es dem deutschen Staat untersagt, der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe durch einen anderen Staat z.B. durch Auslieferung oder Abschiebung beizutragen. Dies ist zu verneinen, wenngleich die wohl herrschende Meinung dies anders sieht. Ob sich solch ein Verbot aus Artikel 1 GG ergibt – was nach hier vertretener Auffassung ebenfalls verneint wird, kann dahinstehen, da dieses Verbot inzwischen einfachgesetzlich geregelt ist.
  9. Mehr Hintergründe über die Entwicklung der Todesstrafe im Nachkriegsdeutschland finden Sie hier.
  10. Eine Änderung von Art. 102 GG wird derzeit nicht ernsthaft diskutiert, die Regelung ist auch hinreichend klar, so dass kein Handlungsbedarf besteht.

10 Fakten über die Zusammensetzung der Bundesregierung – Art. 62 Grundgesetz

  1. Artikel 62 Grundgesetz lautet:
    Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern.
  2. Die Bestimmung hat ihr Vorbild in der Weimarer Reichsverfassung, deren Artikel 52 praktisch gleichlautend war.
  3. Der normative Gehalt dieses Artikels ist gering, er stellt aber eine wichtige Einleitung für den 6. Abschnitt des Grundgesetzes dar.
  4. Die Bundesregierung ist in ihrer Gesamtheit ein Verfassungsorgan des Bundes.
  5. Gleichzeitig ist sie das oberste Verwaltungsorgan und steht damit an der Spitze der Bundesverwaltung.
  6. Auch ist die Norm eine abschließende Legaldefinition der Bundesregierung.
  7. Dem Bundeskanzler kommt innerhalb der Bundesregierung eine Sonderrolle vor, da es ihn – im Gegensatz zu den Ministern – nur einmal gibt. Artikel 62 enthält gleichzeitig die Verpflichtung des Kanzlers, ein Kabinett zu bilden.
  8. Hinsichtlich der Bundesminister wird zunächst deutlich, dass es von ihnen zumindest mehrere geben muss. Das Grundgesetz kennt jedenfalls den Bundesminister der Verteidigung (Art. 65a), den Bundesjustizminister (Art. 96), den Bundesminister der Finanzen (Art. 108) und einen Verkehrsminister im weitesten Sinne (Art. 80) – wobei diese Aufgabe streng genommen auch ein andere Minister übernehmen könnte.
  9. Weiter wird durch die Formulierung deutlich, dass die Minister innerhalb der Regierung eigene Rechte haben müssen.
  10. Aufgrund seiner Klarheit und seiner grundlegenden Funktion gibt es derzeit keine echte Kritik und Reformvorschläge an Artikel 62.

10 Fakten über die Wahlen zum Bundestag – Art. 38 Grundgesetz

  1. Artikel 38 Grundgesetz lautet:
    I. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
    II. Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.

    III. Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.
  2. Die Vorschrift ist eine der zentralen des Grundgesetzes und füllt das Demokratieprinzip mit konkretem Leben aus.  Artikel 20 ff der Weimarer Reichsverfassung sowie Art. 125 WRV waren bereits ähnlich formuliert. So kannten diese schon den Grundsatz der allgemeinen Wahl. Dies soll sicherstellen, dass jeder wählen kann. Ein Ständewahlrecht ist damit z.B. ausgeschlossen. So klar dieser Grundsatz an sich scheint, so wirft er doch einige verfassungsrechtliche Fragen auf, angefangen mit dem Wahlalter, das aber durch Absatz 2 (s.u.) beschränkt wird. Die herrschende Meinung ging lange Zeit davon aus, dass der pauschale Ausschluss von Menschen unter Vollbetreuung verfassungsgemäß sei, dies hat sich jedoch seit dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar 2019 (2 BvC 62/14) und die darauf erfolgte Anpassung des BWG (Bundeswahlgesetzes) geändert. Auch problematisch ist der Verlust des Wahlrechts aufgrund strafrechtlicher Vorschriften. Ebenso dürfte § 39 Abs. 2 BVerfGG verfassungswidrig sein, der in Fällen des Art. 18 GG entgegen dem Wortlaut der Norm auch die Verwirkung des Wahlrechts vorsieht. Grundsätzlich kann man sagen: Der Grundsatz der allgemeinen Wahl verpflichtet den Gesetzgeber, möglichst jedem Deutschen das Wahlrecht einzuräumen.
  3. Weiter muss die Wahl zum Bundestag unmittelbar sein. Ein Wahlmännersystem scheidet also aus. Letztlich muss der Wähler wissen, wen er mit seiner Stimme wählt. Verfassungsrechtlich problematisch ist daher nach hier vertretener Ansicht ein Rotationsprinzip. Auf der anderen Seite heißt unmittelbar auch, dass der Wähler selbst wählt, also keinen Dritten zwischenschaltet. Unproblematisch ist jedoch, wenn behinderten Menschen bei der Wahl geholfen wird, z.B. durch die Wahlhelfer.
  4. Umfassend ist der Begriff der freien Wahl. Dies heißt zunächst, dass eine direkte Beeinflussung der Wähler durch den Staat unzulässig ist. Freie Wahl heißt aber auch, dass es überhaupt eine Wahl gibt. Einheitslisten wären also unzulässig. Nach hier vertretener Ansicht wäre auch eine Wahlpflicht unzulässig, denn die Freiheit der Wahl umfasst auch das Recht, eben nicht wählen zu gehen.
  5. Zudem muss die Wahl gleich sein, d.h. jede Stimme gleich gezählt werden und auch den gleichen Erfolgswert haben. Was sich zunächst einfach anhört, ist in der Praxis kompliziert. So müssen z.B. allein schon die Wahlkreise gleich groß zugeschnitten sein. Einen schwerwiegenden Eingriff hat auch die 5% Sperrklausel – man stelle sich vor, 18 Parteien bleiben je unter 5% und nur eine 19. kommt in den Bundestag und hätte dann 100% der Sitze…  Auch problematisch sind Überhangs- und Ausgleichsmandate, die dazu führen können, dass trotzt nahezu gleich vieler Stimmen unterschiedlich viele Sitze im Bundestag haben. Und auch Frauenquoten werden unter dem Grundsatz der freien und gleichen Wahl diskutiert. Letztlich stehen hier praktische Überlegungen und die normative Kraft des faktischen dem Grundsatz des gleichen Stimmgewichts und Erfolgswerts gegenüber. Letztlich ist es so, dass der Gesetzgeber und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier Kompromisse gefunden haben, die praktikabel und nicht verfassungswidrig sind.
  6. Ein weiterer Grundsatz ist, dass die Wahl geheim sein muss. Dies soll eben verhindern, dass der einzelne Wähler unter Druck geraten, kann für eine spezielle Partei stimmen zu müssen. Freilich gibt es auch hier Ausnahmen, so z.B. die Briefwahl, bei der das Risiko, dass die Wahlentscheidung bekannt wird, deutlich größer ist als bei der Urnenwahl. Und auch Wahlhelfer oder andere Vertrauenspersonen erfahren ja die Entscheidung. Dem Grundsatz des Wahlgeheimnisses steht der so nicht geschriebene aber anerkannte Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl entgegen – nach der Wahl soll das Ergebnis eben nicht abgeschlossen in einer „Black Box“ ermittelt werden, sondern nachprüfbar sein. Ausprägung dessen ist z.B. dass die Auszählung der Stimmen öffentlich ist und die Wahl gerichtlich überprüfbar ist.
  7. Die gewählten Abgeordneten sind Vertreter des gesamten Volkes. Dies macht zunächst auch deutlich, dass es sich bei der Demokratie des Grundgesetzes um ein repräsentatives System handelt. Jeder einzelne Abgeordnete repräsentiert das gesamte Volk und eben nicht eine einzelne Interessengruppe oder gar einen Stand. In der Praxis sieht dies freilich oft anders aus, da sich die Abgeordneten naturgemäß für ihren Wahlkreis oder auch „ihre“ Berufsgruppe engagieren. Problematisiert wird dies allerdings viel zu selten.
  8. Weiter sind die Abgeordneten an Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Problematisch ist dies insbesondere in Hinblick auf den Fraktionszwang und die Fraktionsdisziplin, die leider viel zu wenig kritisch betrachtet werden. Der wirklich unabhängige Abgeordnete ist ein Wunschbild, das in der Praxis so kaum existiert.
  9. Etwas unpraktisch und anachronistisch erscheint auf den ersten Blick die Regelung des Absatz 3, die für das aktive Wahlrecht 18 Jahre und für das passive Wahlrecht die Volljährigkeit voraussetzt – ebenfalls 18 Jahre. Bis 1970 musste man 21 sein, um Wählen zu können, 25, um gewählt werden zu können. Mit der neuen Regelung wollte man schon für die Bundestagswahl 1972 das aktive Wahlalter auf 18 setzen, die Wählbarkeit hingegen bei 21 belassen. Erst 1975 wurde die Volljährigkeit dann ebenfalls auf 18 gesenkt. Für Wahlen nach 1972 hat die momentane Formulieren keine Bedeutung mehr. Diskussionsbedarf könnte sich allenfalls ergeben, wenn zumindest das aktive Wahlrecht auf 16 gesenkt wird. Wünschenswert wäre es dann, im Grundgesetz wieder konkrete Zahlen zu nennen – oder auf das nach Abs. III erforderliche Bundesgesetz zu verweisen, so dass die Änderung des Wahlalters auch ohne Grundgesetz-Änderung möglich wäre.
  10. Letztlich hat sich Art. 38 GG alles in allem bewährt. Probleme ergeben sich vielmehr bei seiner Anwendung, insbesondere in Hinblick auf den Fraktionszwang. Bei einer Reform sollte die Stellung der Fraktionen expressis verbis abgeschwächt werden, der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl explizit aufgenommen und Abs. 3 entschlackt werden.

10 Fakten über die Aufgaben des Bundesrats – Artikel 50 Grundgesetz

  1. Artikel 50 Grundgesetz lautet:
    Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit.
  2. Die Bestimmung findet sich von Anfang an im Grundgesetz, wurde jedoch zum 25. Dezember 1992 um die „Angelegenheiten der Europäischen Union“ ergänzt.
  3. Einen Bundesrat kannte schon die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 60 als typisches Element eines föderalen Staates.
  4. Eine weitergehende Ausgestaltung des Organs ergibt sich aus den folgenden Artikeln sowie den einzelnen Zuweisungen in anderen Normen des Grundgesetzes.
  5. Der Bundesrat ist kein Organ der Länder, sondern ein Organ des Bundes, über das die Länder eben bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken.
  6. Über seine Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren (Legislative) hinaus ist der Bundesrat auch Verwaltungsorgan, wobei dieser Begriff weit auszulegen ist.
  7. Die Ergänzung um die „Angelegenheiten der Europäischen Union“ ist eigentlich reine Kosmetik – denn diese Angelegenheiten sind ja Bundesgetzgebung, an der die Länder ohnehin schon beteiligt sind.
  8. Eine Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung ist der Ewigkeitsgarantie unterworfen, allerdings nicht konkret das Organ Bundesrat. Eine Verfassungsreform könnte also auch eine andere Form der Mitwirkung beschließen.
  9. Man mag darüber streiten, ob der Bundesrat ein Korrektiv des durch die Parteien beherrschten Bundestags ist oder nicht gerade die Parteien weiter stärkt. Ich neige letzterem zu, da oftmals das Abstimmungsverhalten der Länder den jeweiligen Koalitionen unterworfen ist.
  10. Auch wenn das Organ bei seiner Einführung sehr umstritten war, gibt es in der Diskussion über Verfassungsreformen derzeit keine Bestrebungen, ihn abzuschaffen oder grundlegend zu reformieren. Man kann also getrost sagen, dass er sich in der Staatspraxis bewährt hat.

10 Fakten über die Finanzierungskompetenz – Art. 104a GG

  1. Artikel 104a GG lautet:
    (1) Der Bund und die Länder tragen gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt.
    (2) Handeln die Länder im Auftrage des Bundes, trägt der Bund die sich daraus ergebenden Ausgaben.
    (3) Bundesgesetze, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden, können bestimmen, daß die Geldleistungen ganz oder zum Teil vom Bund getragen werden. Bestimmt das Gesetz, daß der Bund die Hälfte der Ausgaben oder mehr trägt, wird es im Auftrage des Bundes durchgeführt.
    (4) Bundesgesetze, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheit oder nach Absatz 3 Satz 2 im Auftrag des Bundes ausgeführt werden, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind.
    (5) Der Bund und die Länder tragen die bei ihren Behörden entstehenden Verwaltungsausgaben und haften im Verhältnis zueinander für eine ordnungsmäßige Verwaltung. Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
    (6) Bund und Länder tragen nach der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung die Lasten einer Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. In Fällen länderübergreifender Finanzkorrekturen der Europäischen Union tragen Bund und Länder diese Lasten im Verhältnis 15 zu 85. Die Ländergesamtheit trägt in diesen Fällen solidarisch 35 vom Hundert der Gesamtlasten entsprechend einem allgemeinen Schlüssel; 50 vom Hundert der Gesamtlasten tragen die Länder, die die Lasten verursacht haben, anteilig entsprechend der Höhe der erhaltenen Mittel. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
  2. Artikel 104a bildet die Grundlage für die Lastenverteilung zwischen Bund und den Ländern.
  3. Ursprünglich enthielt das Grundgesetz keine detaillierte Regelung über die Lastenverteilung. Art. 104a wurde erst zum 1. Januar 1970 ins Grundgesetz aufgenommen und zum 1. September 2006 geändert und um Absatz 6 ergänzt.
  4. In Absatz 1 ist der Grundsatz geregelt, dass der, dem das Grundgesetz auch eine Aufgabe zuweist, auch diese Kosten trägt. Man spricht hier vom Konnexitätsprinzip: Aufgabe und Kostenlast sind miteinander verbunden. Kostenkom
  5. Die sog. Bundesauftragsverwaltung wird in Absatz 2 behandelt. Handeln die Länder im Auftrag des Bundes, so hat der Bund die daraus tragenden Kosten zu tragen. Dies ist nichts anderes als eine Klarstellung des Konnexitätsprinzips, wobei dies unter Staatsrechtlern umstritten ist – einige sehen dies als Ausnahme. Letztlich ist dieser Streit aber nur akademischer Natur.
  6. Anders als Absatz 2 legt Absatz 3 für bestimmte Fallgruppen fest, dass es sich dabei um Bundesauftragsverwaltung handelt. Prominentes Beispiel für ein Bundesgesetz im Sinne der Norm ist das Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög).
  7. Absatz 3 soll durch die Notwendigkeit der Zustimmung des Bundesrats sicherstellen, dass den Ländern durch die Bundesauftragsverwaltung und durch Bundesgesetze, die die Länder als eigene Angelegenheit ausführen,
    nicht einfach Kosten durch den Bund aufgedrückt werden können. ohne dass sie ein Mitspracherecht dabei haben.
  8. Die Kosten der Verwaltung tragen Bund und Länder jeweils selbst und müssen diese ordnungsgemäß ausführen. Ein entsprechendes Bundesgesetz gibt es – anders als von Absatz 5 eigentlich gefordert – immer noch nicht.
  9. Absatz 6 ist Ausprägung der Völker- insbesondere aber Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und soll eine faire Lastenverteilung in Fällen wie Strafzahlungen bei Vertragsverletzungsverfahren sicherstellen.
  10. Wie bei so vielen neuen und überarbeiteten Artikeln des Grundgesetzes kann man sich gerade hier fragen, ob Art. 104a – gerade in dieser Komplexität – überhaupt notwendig war. Letztlich ergeben sich die Folgen ohnehin aus dem Grundgesetz und den Grundsätzen des Föderalismus.

10 Fakten zum Gemeinsamen Ausschuss – Artikel 53a Grundgesetz

  1. Artikel 53a Grundgesetz lautet:
    (1) Der Gemeinsame Ausschuß besteht zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages, zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates. Die Abgeordneten werden vom Bundestage entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt; sie dürfen nicht der Bundesregierung angehören. Jedes Land wird durch ein von ihm bestelltes Mitglied des Bundesrates vertreten; diese Mitglieder sind nicht an Weisungen gebunden. Die Bildung des Gemeinsamen Ausschusses und sein Verfahren werden durch eine Geschäftsordnung geregelt, die vom Bundestage zu beschließen ist und der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
    (2) Die Bundesregierung hat den Gemeinsamen Ausschuß über ihre Planungen für den Verteidigungsfall zu unterrichten. Die Rechte des Bundestages und seiner Ausschüsse nach Artikel 43 Abs. 1 bleiben unberührt.
  2. Die Norm wurde im Rahmen der Notstandsverfassung 1968 ins Grundgesetz aufgenommen.
  3. Der gemeinsame Ausschuss – auch GemA genannt – ist ein oberstes Bundesorgan. Daher hat er auch seinen eigenen Abschnitt im Grundgesetz: IVa – Gemeinsamer Ausschuss.
  4. Der GemA besteht aus 48 Mitgliedern. Dies ergibt sich aus der Zahl der Länder (16), die je einen Vertreter entsenden und den 32 Mitgliedern des Bundestages (2/3).
  5. In Friedenszeiten hat der Gemeinsame Ausschuss keine besonderen Aufgaben, sie dienen letztlich nur der Vorbereitung für den Ernstfall. Er ist von der Bundesregierung über deren Planungen für den Verteidigungsfall zu informieren.
  6. Wird die Bundesrepublik angegriffen (Verteidigungsfall, Art, 115a GG), kommen dem GemA ggf. jedoch wichtige Aufgaben zu:
    – Feststellung des Verteidigungsfalles
    – Zustimmung zur Abgabe völkerrechtlicher Erklärungen
    – Wahrnehmung der Rechte von Bundestag und Bundesrat
    –Recht zur Information durch die Bundesregierung
    – Recht zur Neuwahl des Bundeskanzlers
    Hierbei handelt es sich durchweg um Zuständigkeiten, wenn die an sich zuständigen Verfassungsorgane nicht funktionsfähig sind.
  7. Der Sondercharakter des GemA wird dadurch deutlich, dass er sich selbst keine Geschäftsordnung geben kann. Diese wird vielmehr vom Bundestag beschlossen, der Bundesrat muss ihm zustimmen.
  8. Die Verfassungsmäßigkeit des Art. 53a wurde früher gelegentlich für verfassungswidrig gehalten – wir befinden uns hier im spannenden Bereich des verfassungswidrigen Verfassungsrechts. Dem ist aber mit der heute ganz herrschenden Meinung zu entgegnen, dass durch dieses Verfassungsorgan in schweren Krisenzeiten demokratische Strukturen möglichst erhalten bleiben sollen.
  9. Vor der Kodifizierung wurde der GemA tatsächlich in Hinblick auf seine Praktikabilität geprobt, und zwar im Rahmen des NATO-Manöver „Fallex 66“ zwischen dem 16. Oktober und 21. Oktober 1966.
  10. Ob das Konstrukt wirklich funktioniert, werden wir hoffentlich nie erfahren. Ich sehe dies kritisch. Sicher – der gemeinsame Ausschuss kann schneller entscheiden als Bundestag und ggf. Bundesrat gemeinsam. Auf der anderen Seite ist er mit 48 Mitgliedern ein dennoch recht großes Organ. Ob es gelingt, dass dies in schweren Kriegszeiten geordnet zusammentreten kann, wage ich zu bezweifeln. Bei kleineren Konflikten würden Bundestag und Bundesrat ohnehin funktionieren. Ein Verfassungsorgan für die Krise ist sicherlich angezeigt, aber dazu ist der GemA zu komplex angelegt. Aus meiner Sicht begegnet die Regelung aber auch nur solch praktischen und keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

10 Fakten über den Verteidigungsfall – Artikel 115a Grundgesetz

  1. Artikel 115a des Grundgesetzes lautet
    (1) Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Verteidigungsfall), trifft der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates. Die Feststellung erfolgt auf Antrag der Bundesregierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages.
    (2) Erfordert die Lage unabweisbar ein sofortiges Handeln und stehen einem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegen oder ist er nicht beschlußfähig, so trifft der Gemeinsame Ausschuß diese Feststellung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit seiner Mitglieder.
    (3) Die Feststellung wird vom Bundespräsidenten gemäß Artikel 82 im Bundesgesetzblatte verkündet. Ist dies nicht rechtzeitig möglich, so erfolgt die Verkündung in anderer Weise; sie ist im Bundesgesetzblatte nachzuholen, sobald die Umstände es zulassen.
    (4) Wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen und sind die zuständigen Bundesorgane außerstande, sofort die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 zu treffen, so gilt diese Feststellung als getroffen und als zu dem Zeitpunkt verkündet, in dem der Angriff begonnen hat. Der Bundespräsident gibt diesen Zeitpunkt bekannt, sobald die Umstände es zulassen.
    (5) Ist die Feststellung des Verteidigungsfalles verkündet und wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen, so kann der Bundespräsident völkerrechtliche Erklärungen über das Bestehen des Verteidigungsfalles mit Zustimmung des Bundestages abgeben. Unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 tritt an die Stelle des Bundestages der Gemeinsame Ausschuß.
  2. Die Regelung wurde 1968 im Zuge der Notstandsgesetzgebung ins Grundgesetz eingefügt.
  3. Eine entsprechende Regelung in der Weimarer Reichsverfassung existierte nicht; gemäß Artikel 45 Abs. 2 erfolgen Kriegserklärungen durch Gesetz.
  4. Das Bundesgebiet umfasst die Länder sowie den Luftraum und die Küstengebiete der Bundesrepublik. Ein Angriff auf einen Bündnispartner kann zwar aufgrund völkerrechtlicher Verträge einem Angriff auf die Bundesrepublik gleichstehen, löst aber nicht die Folgen des Art. 115a GG aus.
  5. Der Angriff muss mit Waffengewalt erfolgen, also z.B. mit Panzern, Gewehren, nuklearen Gefechtsfeldwaffen, Pfeilen etc. Ein Cyberangriff ist kein Angriff im Sinne des Grundgesetzes. Die ganz herrschende Meinung fordert, dass der Angriff durch fremde Mächte erfolgen muss. Fraglich ist, ob nur ein „klassischer“ kriegerischer Angriff oder auch massive terroristische oder Guerilla-Aktionen durch ausländische Gruppen den Verteidigungsfall auslösen können. Persönlich würde ich dies angesichts der sich veränderten Weltlage – man denke an Gruppen wie den Islamischen Staat – annehmen. Weiter muss der Angriff begonnen haben oder unmittelbar bevorstehen, wobei bei letzterem Fall eine sehr konkrete Bedrohungslage gegeben sein muss, z.B. eine Kriegserklärung.
  6. Liegt solch ein Verteidigungsfall – auch Vf genannt – vor, so gibt es drei Konstellationen, wie dieser festgestellt werden kann:
    a) Im Idealfall stellt dies der Bundestag auf Antrag der Bundesregierung mit 2/3 Mehrheit der abgegeben Stimmen fest, insgesamt mindestens mit der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages. Der Bundesrat muss dem mit einfacher Mehrheit zustimmen.
    b) Kann der Bundestag nicht zustimmen, kommt diese Aufgabe dem gemeinsamen Ausschuss zu; dies ist in Absatz 3 geregelt.
    c) Können die Bundesorgane die Feststellung nicht vornehmen, so gilt diese nach Abs. 4 für den Zeitpunkt des Angriffs fingiert als festgestellt. Man denke z.B. an einen nuklearen Erstschlag, dem Berlin sicherlich als erstes zum Opfer fallen würde. Der Bundespräsident soll diesen Zeitpunkt später bekannt werden.
  7. Im Regelfall soll die Feststellung des Verteidigungsfalls vom Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt verkündet werden, Art. 115a Abs. 3. Ist dies nicht möglich, soll die Verkündung zunächst über andere Wege erfolgen, z.B. Radio, Fernsehen oder auch Internet.
  8. Absatz 5 ist etwas umständlich formuliert – letztlich geht es darum, dass der Bundespräsident andere Staaten völkerrechtlich darüber informieren muss, dass sich die Bundesrepublik im Zustand des Vf befindet.
  9. Grundsätzlich sind die Hürden recht hoch gehalten – dies soll sicherstellen, dass die Bundesrepublik nicht leichtfertig in den Vf rutscht, der doch einige rechtliche Folgen hat und auch als Hilfe für einen Staatsstreich missbraucht werden könnte.
  10. Artikel 155a GG lässt viel Kritik zu. So finde ich, dass er besser strukturiert hätte werden können. Zudem lässt er Fragen offen. Was passiert z.B., wenn ein Angriff erfolgte, der Bundestag den Vf erklärt, aber der Bundesrat nicht zustimmen mag? Letztlich kann man nur darauf vertrauen, dass die Verfassungsorgane in solchen Situationen vertrauensvoll zusammenarbeiten – und ansonsten wird ohnehin die normative Kraft des faktischen bestimmen.