Erfahrungsbericht: Wie mein Alkoholkonsum außer Kontrolle geriet

Ich hatte schon immer gerne und gut getrunken, aber eben im Rahmen dessen, was als sozialkompatibel angesehen wird: Kein Bier vor vier, unter der Woche an manchen Tagen nichts oder nur bei besonderen Anlässen, in der Fastenzeit gar nichts. Am Wochenende dann aber auch durchaus mehr: Zwei bis drei Bier beim Kochen, dann noch die Flasche Wein zum Essen und später noch ein Macallan konnten es regelmäßig schon sein, bei Partys auch mehr. Tagsüber aber allenfalls mal was im Urlaub. Ich hatte mich ja im Griff. Klar, bei strenger Definition war ich wahrscheinlich damals schon Alkoholiker, aber so wie ich damals tranken und trinken viele in meinem Umfeld, ohne dass es von jemanden problematisiert wird.

An den Tag, als es anfing, aus dem Ruder zu laufen, kann ich mich noch ganz genau erinnern. Es war der 18. März 2016, ein Freitag. Ich hatte zum Mittagessen einen Döner, nach dem mir nicht ganz wohl war. Dazu kam dann noch die Meldung, dass Guido Westerwelle gestorben war. Jedenfalls hatte ich für den Magen und auf den Rest einen Underberg getrunken – und das Meeting danach, auf das ich auch nicht wirklich Lust hatte, lief dann viel relaxter.

Es kam das Wochenende mit dem normalen zu hohen Konsum. Und als am Montag drauf am frühen Nachmittag wieder ein Meeting anstand, erinnerte mich, wie entspannt es am Freitag geklappt hatte. Und so  habe ich mir vorher einen Vodka gegönnt, eins von den ganz kleinen Fläschchen vom Kiosk an der Ecke. Das Meeting lief gut. Ich war ruhiger, vermeintlich selbstbewusster. Meine Ängste und meine Nervosität waren wie wegebeblasen.

Und der kleine Vodka zur Mittagszeit wurde zur Routine. Damit es nicht so auffällt, gab es danach nicht nur ein großes Mineralwasser, sondern auch noch Kaffee und Kaugummi – gerne auch mal ein Mettbrötchen mit Zwiebeln, um den Geruch zu überdecken. Ja ich ging sogar soweit und habe die einzelnen Vodkasorten durchgetestet, um herauszufinden, welcher am wenigsten Fahne verursacht.

Gleichzeitig habe ich auch angefangen, Abends mehr zu trinken. Auf jeden Fall ein Bier auf dem Nachhauseweg im Zug, dann eines zum Kochen, Wein zum Essen. Und irgendwann wurde aus dem kleinen Fläschchen Vodka mittags das größere 0,1l Fläschchen, dann 0,2l.

Nach wenigen Monaten reichte es Mittags nicht mehr, ich kam nervlich nicht mehr durch den Vormittag, ohne etwas zu trinken. Der erste Gang morgens um 8h ging zum Kiosk. 0,2l 40%er Stoff. Dann Mittags das gleiche. Abends schmuggelte ich heimlich Fläschchen ins Haus und versteckte sie überall im Haus, denn Bier und Wein reichten nicht mehr. Der Gedanke an Alkohol bestimmte die ganze Tagesplanung.

Meine Techniken, unauffällig mehr zu trinken, wurden immer perfider. Wein und Bier kaufte ich einmal offiziell und einmal heimlich doppelt nach. Und aus der offiziellen abendlichem Weinflasche wurden zwei, eine davon unbemerkt nebenbei, dazu vier große Bier und eben Schnaps. Wenn wir Gäste hatten, übernahm ich das großzügige Einschenken. Bei Einladungen bei Freunden glühte ich zuhause vor und hatte überall in den Ecken dann diverse Gläser stehen. Bedienungen in Restaurants in Bars, Restaurants und Cafés wurden vorher instruiert und servierten den Kaffee mit großzügigen Schuss. Der Stammitaliener stellte mir gleich die Flasche Grappa hin, wenn ich mal alleine kam. Eine Stewardess brachte mir beim zweiten gemeinsamen Flug gleich die Flasche Gin: „Dann muss ich nicht so oft laufen.“ Die Kioskbesitzer in Bonn und Köln grüßten von weitem.

Im Büro fiel der Konsum in dieser Phase keinem auf – oder es traute sich keiner, es anzusprechen. Warum auch, ich funktionierte ja.

Zuhause wurde es schwieriger: Dass ich jeden Abend eine ziemliche Fahne hatte und morgens zittrig war, ließ sich nicht verbergen. Die Abendration ins Haus zu schmuggeln, wurde immer aufwendiger. Ich steckte dann meist ein Fläschchen an eine offensichtliche Stelle und ließ es als Opfer absichtlich entdecken. Den Rest brachte ich in Unterhose und einer ausgehölten Powerbank ins Haus. Das Gefühl danach: eine Mischung aus Selbsthass und klammheimlicher Freude, wieder alle überlistet zu haben.

Morgens vor dem Spiegel, mit roten Augen und roter Haut nahm ich mir verzweifelt feste vor, heute nicht mehr zu trinken. Zwei Stunden später am Hauptbahnhof war es wieder vergessen. Zu groß war die Angst, ohne die in Watte gepackten Gedanken durch den Tag zu müssen. Den ersten beißenden Schluck des eiskalten Vodka Gorbatschow habe ich gehasst, die zweiten 0,2l gierig und glücklich heruntergestürzt. An den Wochenenden ging ich Joggen, 10km durch den Wald. Danach erst mal zur Tankstelle, mich volltanken.

An manchen Tagen war mir am Ende sogar die Fassade egal: Morgens um 7:53h saß ich im Zug. Weißes Hemd, Sakko, Laptop aufgeklappt und in der Hand eine Flasche Bier, dazu ein kleiner Whisky zur Abwechslung.

Immer wieder habe ich versucht, auf eigene Faust loszukommen, meist endeten die guten Vorsätze nach einem Tag, einmal im Jahr 2017 habe ich immerhin drei Wochen durchgehalten, da ich mir Sorgen um meine Leberwerte machte. Nachdem die Werte schnell wieder im Rahmen waren, verfiel ich innerhalb von Tagen in alte Trinkmuster. Zu unerträglich erschienen mir die Tage ohne Alkohol.

Irgendwann in einem lichten Moment habe ich morgens gegen 10h festgehalten, was ich bis dahin getrunken hatte: 0,5l Vodka, 5 große Pils und ein Elephant Beer. Kurz Danach habe ich noch einen Vortrag gehalten. Es lief gut. Das Foto habe ich übrigens hier verewigt, an der Stelle gibt es auch noch mehr zum Thema Alkoholismus.

Ohne Alkohol habe ich nicht mehr funktioniert. Er war mein Beruhigungsmittel, mein Schlafmittel, mein Mutmacher, der Kick für mein Selbstbewusstsein. Ohne habe ich mich klein und hilflos gefühlt.

Am 28. August 2018, etwas über zwei Jahre und drei Monate nach dem ersten mittäglichen Schnaps ging ich morgens um 9h in die Suchtabteilung der LVR Klinik Bonn und sagte: „Ich bin Alkoholiker, ich brauche Hilfe“. Drei Promille hatte ich an diesem Tag zu dieser Urzeit und war „gang- und standsicher…. bewusstseinsklar. Zu allen Qualitäten orientiert.“ Nach einer Woche wurde ich entlassen. Ich sollte es mit kontrolliertem Trinken und Naltrexon versuchen, ich sei ja intelligent. Das ging gründlich schief, wie Sie hier lesen können.

Es folgten in den nächsten Monaten heimliches Spiegeltrinken, längere trockene Zeiten auf eigene Faust, Abstürze, „zu allen Qualitäten orientiert“ mit 4,2 Promille, die Beichte beim Arbeitgeber, familiäre Probleme. Und dazu immer das Wissen, dass es so nicht weitergehen kann.

Seit dem 24. Januar 2020 habe ich jetzt schließlich nichts mehr getrunken. Und weiß auch, dass ich das nie mehr darf.

Dieser Beitrag ist Teil meiner Serie mit eigenen Erfahrungsberichten rund um meine Alkoholsucht. Die ganze Geschichte finden Sie hier.

Hinweis: Sobald Sie merken, dass Sie trinken, um sich besser zu fühlen, sollten Sie Hilfe aufsuchen. Welche Anlaufstellen sich eignen, habe ich hier aufgeschrieben.

Das Bild zeigt Vodkaflaschen in einem Garagenversteck, die ich vor kurzem beim Aufräumen gefunden habe.

10 Antworten auf „Erfahrungsbericht: Wie mein Alkoholkonsum außer Kontrolle geriet“

  1. Finde es stark, dass Sie Ihr Alkoholproblem akzeptiert haben und nunmehr offen damit umgehen. Erfordert Mit. Meinen Respekt, und bleiben Sie stark!

  2. Ein grosses Kompliment für die schonungslose und offene Darstellung. Ich hatte früher dasselbe Problem und habe mich in zahlreichen Schilderungen wiedergefunden.

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