Zum Vatertag – aus dem Buch der Etikette von 1956

Auch Väter haben ihren Tag, den Vatertag, der alljährlich zu Himmelfahrt begangen wird. Wir Männer legen jedoch nicht so sehr Wert darauf, beschenkt als vielmehr, soweit verheiratet, freigelassen zu werden, um dem soliden gesunden Gleichschritt der ehelichen Gemeinschaft für einen Tag zu entfliehen. Da wird Karten gespielt, gekegelt, gesungen und fröhlichen Trunkes gepflogen. An die Stelle des Automobils sind Pferdekutschen getreten, deren Gäule gewöhnt sind, auf der Heimfahrt, die nicht selten gegen Morgen stattfindet, geritten zu werden. Diesen Tag, den sicherlich einzigen im Jahr, da er ein wenig über die Stränge haut, sollten kluge Frauen übersehen. Nicht nur pro forma, sondern ehrlich. An Strohhüten, bunten Blumen im Knopfloch und einer keineswegs aus Stoff gefertigten Fahne ebensowenig Anstoß nehmen wie an gewissen Sprachstörungen bei der Heimkehr. Statt eines tadelnden Blickes einen sauren Hering bereithalten. Und dem Ehemann keine Gelegenheit geben, am kommenden Tag tiefsinnig zu seinen Freunden zu sagen: „War ein kluger Bursche, dieser Lessing! Damals gab es sicher noch keinen Vatertag, und doch prägte er die weisen Worte: Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten …“

Aus: Graudenz, Karlheinz: Das Buch der Etikette. Marbach am Neckar 1956, S. 132-15

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