Dokumentiert: Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Gedenkkonzert zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 2020 in Berlin

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Morawiecki,
sehr geehrter Herr Professor Barenboim,
sehr geehrte Frau Friedländer,
sehr geehrte Staatsministerin Monika Grütters,
Exzellenzen,
Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
meine Damen und Herren,

vor 75 Jahren, am 16. April 1945, genau einen Tag nachdem britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit hatten, gab die damals 19-jährige Anita Lasker der BBC ein Interview. Sie hatte zusammen mit ihrer Schwester Renate Bergen-Belsen überlebt – und zuvor auch die Hölle von Auschwitz. Darüber sagte sie in dem Interview: „Die Auschwitzer Häftlinge, die wenigen, die geblieben sind, fürchten alle, dass die Welt nicht glauben wird, was dort geschehen ist. […] Ich selbst befand mich in der Musikkapelle. Zu den furchtbarsten Dingen wurde Musik gemacht.“

Wie, meine Damen und Herren, konnte es an einem solchen Ort des Grauens Musik geben? Eine zutiefst verstörende Ambivalenz. 73 Jahre später, am 31. Januar 2018, fand Anita Lasker-Wallfisch, inzwischen 92 Jahre alt, für diese Ambivalenz in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag folgende Worte: „Für viele war Musik in dieser Hölle eine absolute Beleidigung, für manche vielleicht eine Möglichkeit, sich für Momente in eine andere Welt zu träumen.“ Diese Worte geben Zeugnis von dem Grauen des von Deutschland begangenen Zivilisationsbruchs der Shoa. Für Anita Lasker-Wallfisch waren die Musik und ihr Cello-Spiel in der Lagerkapelle Birkenau eine Geschichte des Überlebens.

Auch die Geschichte Margot Friedländers ist eine Geschichte des Überlebens. Liebe Frau Friedländer, ich freue mich außerordentlich, dass Sie heute Abend hier sind. Das berührt mich sehr.

Doch unfassbar viele Lebensgeschichten endeten mit dem Tod, der systematischen Ermordung. Heute gedenken wir ihrer. Wir gedenken der ermordeten sechs Millionen Juden. Wir gedenken der Sinti und Roma, der Menschen mit Behinderungen, der politischen Gefangenen, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiter.

Wir gedenken der polnischen Opfer der deutschen Besatzung. Ich danke Ihnen, lieber Herr Ministerpräsident Morawiecki, dass wir im Dezember gemeinsam die Gedenkstätte des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz besuchen konnten und dass Sie heute Abend hierhergekommen sind.

Wir gedenken aller Opfer der Shoa, die mit sämtlichen Werten der Zivilisation gebrochen hatte.

Wir denken auch an alle, die überlebt hatten. Sie waren von den erlittenen Qualen schwer gezeichnet. Sie, liebe Frau Friedländer, haben dazu in Ihren Erinnerungen geschrieben: „Sie mussten erst wieder lernen, dass sie Menschen waren. Menschen, die einen Namen hatten.“

Wir müssen die Erinnerung pflegen und wachhalten. Wir müssen uns entschieden gegen Intoleranz und Hass, gegen Rassismus und Antisemitismus, gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wenden. Wir tragen Verantwortung dafür, dass sich alle Menschen bei uns in Deutschland und Europa sicher und zu Hause fühlen können.

Wir müssen dafür ganz besonders die jungen Menschen sensibilisieren. Deshalb ist es gut, dass der Erlös dieses Konzerts der Stiftung Auschwitz-Birkenau für Jugendprojekte zugutekommt.

Meine Damen und Herren, Adam Kopyciński – er war Dirigent eines Männerorchesters in Auschwitz, überlebte das Grauen und war nach dem Krieg an namhaften polnischen Opernhäusern tätig – hob die Bedeutung der Musik so hervor: Die Musik „förderte die Selbstachtung des Menschen, die in der Zeit des Lagerlebens so grausam mit Füßen getreten wurde.“

Ich danke Ihnen, lieber Herr Barenboim, wie auch dem Chor und dem Orchester sehr herzlich dafür, dass wir der Opfer der Shoa mit diesem Konzert gedenken können. Danke schön.

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