Dokumentiert: Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 50. Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums am 23. Januar 2020 in Davos

Wir dokumentieren hier die Rede von Angela Merkel beim WEF 2020 in Davos. Am Ende des Textes finden Sie auch eine Video Fassung.

Meine Damen und Herren,
vor allem aber sehr geehrter Herr Prof. Schwab,

Sie haben gesagt, dass ich das zwölfte Mal hier bin. Sie haben das 50. Mal das Vergnügen, bei diesem Ereignis zu sein – und dann auch nicht nur für einen Tag –, es vorzubereiten und Menschen zusammenzubringen. Dazu möchte ich Ihnen von ganzem Herzen gratulieren. Das ist etwas Einzigartiges, das hier in den Schweizer Bergen geschaffen wurde.

Das Forum hat sich ja selbst das ehrgeizige Ziel gesetzt, den Zustand der Welt zu verbessern, und hat dazu immer wieder Vertreter von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammengebracht – nicht nur in Davos, sondern auch an vielen anderen Stellen der Welt. Ich glaube, man kann feststellen, wenn wir unseren Blick einmal fünf Jahrzehnte zurückschweifen lassen, dass die Welt in der Tat auch besser geworden ist.

Wir waren vor 50 Jahren mitten im Kalten Krieg. Deutschland war geteilt. Für mich war es nicht absehbar, dass ich einmal hier stehen würde. Inzwischen liegt dieser Kalte Krieg schon 30 Jahre zurück. Aus einer bipolaren Welt hat sich eine multipolare Welt entwickelt, die, wie wir vor 30 Jahren noch nicht absehen konnten, aber auch eine Vielzahl von Problemen hat.

Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich seit 1970 mehr als verdoppelt. Die Zahl der Menschen, die unter extremer Armut leiden, ist gesunken, obwohl die Weltbevölkerung dramatisch gewachsen ist. Bei der Bekämpfung von Krankheiten – zum Beispiel von Polio – haben wir wirklich gute Fortschritte gemacht.

All das wäre durch nationale Alleingänge niemals möglich gewesen, sondern für mich ist es das Ergebnis dessen, dass Menschen, Unternehmen und vor allen Dingen auch Staaten zusammengearbeitet haben. Das ist deshalb wichtig, wenngleich sich natürlich Jahr für Jahr neue Probleme stellen. Wer sich einmal den „Global Risk Report“ des Weltwirtschaftsforums anschaut, der kann sehr schön sehen, weil das ja auch immer farblich unterlegt ist, wie sich die Art der Probleme verändert hat. Ganz nach vorne gerückt sind in den letzten zehn Jahren im Grunde Umweltprobleme. Das Thema Nachhaltigkeit und Kohärenz der Welt sind von größter Bedeutung. Deshalb ist auch Ihr Motto in diesem Jahr „Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World“ sicherlich ein Motto, über das es sich zu diskutieren lohnt.

Wir reden ja viel darüber, dass der Weltgemeinschaft wenig zusammen gelingt. Aber immerhin ist es ihr gelungen, vor einigen Jahren die „Sustainable Development Goals“ für das Jahr 2030 zu entwickeln und sich darauf zu einigen. Mehr als 180 Länder haben das geschafft. Damit haben wir im Grunde für dieses neue Jahrzehnt auch eine völlig klare Roadmap, weil wir diese SDGs ja erreichen wollen. Allerdings war im vergangenen September auf dem UN-Gipfel, der eine erste Bilanz gezogen hat, klar, dass wir alle Hände voll zu tun haben und es mit dem bisherigen Tempo nicht schaffen werden, alle „Sustainable Development Goals“ wirklich zu erreichen.

Deshalb möchte ich mich auch dafür bedanken – Herr Schwab hat mir gerade davon erzählt –, dass eine Vereinbarung mit den Vereinten Nationen darüber getroffen wurde, eine Plattform zum Thema Ozeane einzurichten. Das ist der richtige Weg, weil wir die weltweiten Anstrengungen miteinander verlinken müssen, damit wir auch einen Überblick darüber gewinnen, wie schnell wir vorankommen.

Deshalb hat António Guterres als UN-Generalsekretär recht, wenn er sagt: Wir haben jetzt eine „Decade of Action“. Wir müssen handeln; und das zum Beispiel im Bereich der Artenvielfalt – die allermeisten Länder beschäftigen sich damit –, und vor allen Dingen – das spielt ja beim Weltwirtschaftsforum in diesem Jahr auch eine Riesenrolle – im Bereich des Klimaschutzes.

Die Frage der Erreichung der Ziele des Pariser Abkommens könnte eine Frage des Überlebens auch unseres Kontinents sein. Deshalb gibt es Handlungsdruck, weil wir ja wissen, dass wir die Ziele von Paris – vor allen Dingen das Ziel, dafür zu sorgen, dass die Erderwärmung 1,5 Grad nicht überschreitet – mit den jetzigen Verpflichtungen nicht erreichen werden. Deshalb will ich mich in meinem ersten Teil auch darauf konzentrieren, was das bedeutet. Das bedeutet nämlich, dass die Welt gemeinsam handeln muss. – Das ist ein internationales Abkommen. Leider sind nicht mehr alle dabei, aber viele. – Und das bedeutet auch, dass jedes Land seinen Beitrag dazu leisten muss.

Wenn wir auf Deutschland blicken, das Land, das ich hier vertrete, dann können wir nach 30 Jahren Deutscher Einheit sagen: Wir sind in einer Situation, in der es uns vergleichsweise gut geht. Wir hatten noch nie so wenige Arbeitslose. Wir geben viel Geld für Forschung und Entwicklung aus. Wir haben unsere Investitionen gesteigert. Aber das alles spiegelt ja nicht das wider, was uns in den nächsten 30 Jahren gelingen muss. Denn der Auftrag, bei einer Erderwärmung von weniger als 1,5 Grad gegenüber der Zeit vor der Industrialisierung zu bleiben, bedeutet ja zum Beispiel für uns in Europa nicht mehr und nicht weniger, als dass wir bis 2050 klimaneutral sein müssen.

Klimaneutralität – die allermeisten Länder der Europäischen Union haben sich dazu verpflichtet. Die Kommissionspräsidentin war gestern hier und hat Ihnen den „Green Deal“ vorgestellt. Europa will der erste Kontinent sein, der CO2-frei, also emissionsfrei, lebt. Aber, meine Damen und Herren, das sind natürlich Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen, die natürlich auch wieder eine industrielle Produktion enthalten und die vor allem durch die Digitalisierung verändert worden sind. Wir haben ja eine zweite Riesentransformation zu bewältigen. Und wir hoffen, dass sich die Transformation zur CO2-Emissionsfreiheit mit der Digitalisierung verstärken wird und die Digitalisierung das erleichtern kann.

Ich möchte Ihnen einen kleinen Augenblick lang davon erzählen, was wir in Deutschland tun und was das auch mit Gesellschaften macht. Dieses Ziel der Klimaneutralität ist leicht aufgeschrieben. Dem verpflichtet man sich relativ leicht, wenn man in Städten lebt. Dort geht das etwas einfacher, als wenn man auf dem Land lebt und vielleicht Landwirtschaft betreibt oder lange Wege zur Arbeit zurückzulegen hat oder eine Windkraftanlage vor der Haustür hat.

Wir haben in den letzten Jahren erstens die Entscheidung getroffen, bis 2022 aus der Kernenergie auszusteigen, wenn auch aus anderen Gründen der Nachhaltigkeit, nämlich weil wir glauben, dass das Abfallmanagement für die Kernenergie nicht nachhaltig ist und auch die Risiken zu groß sind. Zweitens haben wir uns entschieden, bis spätestens 2038 – wenn möglich bis 2035 – aus der Kohleenergieerzeugung auszusteigen. Deutschland hat heute noch einen sehr hohen Kohleanteil – etwa 30 Prozent – an der Stromgewinnung. Der Ausstieg ist daher ein gewaltiger Schritt, insbesondere für die Menschen, die Braunkohle abbauen und die strukturell in eine völlig neue Lage kommen.

Das ist aber nur der kleinere Teil. Wenn wir uns überlegen, dass wir die Energieversorgung, also erst einmal die Stromversorgung, auf CO2-Emissionsfreiheit umstellen, dann ist das eine Aufgabe. Aber wenn wir uns den Primärenergieverbrauch Deutschlands anschauen, dann sehen wir, dass der Strom 22 Prozent ausmacht und 78 Prozent unseres Energieverbrauchs in das Heizen, in die Mobilität oder in die industrielle Produktion gehen.

Jetzt bleiben wir einmal einen Augenblick beim Strom. Da haben wir uns vorgenommen, bis 2030  65 Prozent, also rund zwei Drittel, mit erneuerbaren Energien zu erzeugen. Das ist für ein Land, in dem die Sonne nicht so häufig scheint und der Wind auch recht unregelmäßig weht, recht viel. Das bedeutet, völlig neue Leitungsstrukturen aufzubauen, weil die Energieerzeugungsquellen natürlich zumeist woanders liegen und nicht am Ort des Energieverbrauchs. Außerdem haben wir uns vorgenommen, die CO2-Emissionen bis 2030 um insgesamt 55 Prozent zu senken, um dann 2050 bei 95 Prozent – was man gemeinhin als Klimaneutralität bezeichnet – anzukommen.

Die Umstellung der Stromerzeugung ist schon ein Riesenkraftakt. Wahrscheinlich wird man es auch gar nicht schaffen, bei der Stromerzeugung auf einen Anteil von 100 Prozent erneuerbarer Energien zu kommen – wir liegen jetzt bei 42 Prozent durch Ressourcen im eigenen Land –, weil bei uns die Energiekapazität, also die Effizienz, mit der man Strom aus Wind und Sonne erzeugen kann, nicht sehr hoch ist. Es gibt Regionen in der Welt, in denen das viel besser geht.

Aber es bleiben immer noch 78 Prozent für industrielle Produktion, Mobilität und Wohnen. Dabei wird das Thema „grüner Wasserstoff“ eine Riesenrolle spielen, obwohl wir technologieoffen an alles herangehen. Das wird auch völlig neue Verwebungen auf der Welt mit sich bringen, weil man „grünen Wasserstoff“ an vielen anderen Stellen außerhalb Europas sehr viel besser erzeugen kann. Aber auch in Europa werden wir das tun.

Das bedeutet dann – deshalb bin ich sehr froh, dass man hier von vielen Industrieunternehmen hört, dass sie in die Klimaneutralität einsteigen wollen –, dass wir die Prozesse etwa in der Stahlproduktion, im Maschinenbau oder anderem vollkommen umstellen müssen. Ich hatte vorhin ein sehr interessantes Gespräch über die Möglichkeiten der Biotechnologie. Diese wird natürlich auch eine Riesenrolle bei der Transformation all unserer Wertschöpfungsketten spielen.

Das heißt also, wir werden dramatische Veränderungen erleben, ohne dass wir die Produkte, an die wir heute gewöhnt sind, aus der Hand geben müssen. Aber all das muss neu gedacht werden. Dafür müssen die staatlichen Rahmenvoraussetzungen geschaffen werden. Und auch die Wirtschaftsunternehmen müssen dazu bereit sein, sich auf einen innovativen Pfad zu begeben.

Jetzt darf ich Ihnen von Deutschland erzählen. Wir sind ja eigentlich ein relativ friedliches Land. Aber es gibt schon erhebliche gesellschaftliche Konflikte zwischen denen, die finden, dass es oberste Dringlichkeit hat, sich auf diesen Weg zu machen, und denen, die das nicht finden. Ich sage noch einmal: Bis 2050 sind es 30 Jahre. Ich kann mich gut an die deutsche Wiedervereinigung erinnern, die vor 30 Jahren stattfand. Man kann in 30 Jahren viel schaffen. Aber ich weiß auch, wie knapp 30 Jahre sind, wenn man eine digitale Transformation und eine Wertschöpfungstransformation im Sinne völlig anderer energetischer Grundlagen schaffen will.

Deshalb drängt die Zeit. Deshalb müssen wir, die Älteren, auch aufpassen – ich bin 65 Jahre alt –, dass wir die Ungeduld der Jugend positiv und konstruktiv aufnehmen und verstehen, dass sie einen anderen Lebenshorizont haben, der weit über 2050 hinaus reicht. Damit stellt sich natürlich die Frage, was man dann an Artenvielfalt und an Klimaverträglichkeit auf dieser Welt noch haben wird. Deshalb sind wir zum Handeln aufgefordert.

Jetzt geht es darum, neue gesellschaftliche Konflikte zu überwinden. Denn es gibt auch in Deutschland eine große Gruppe von Menschen, die das Ganze nicht für so dringlich hält. Die ist noch nicht davon überzeugt, dass das das Allerwichtigste ist. Wie nehmen wir die mit? Demokratien haben die Aufgabe, den einzelnen Menschen mitzunehmen und ihn für etwas zu begeistern. Dabei besteht für mich das größte gesellschaftliche Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, weil der ländliche Raum sehr viel mehr dazu beiträgt, die Veränderungen sozusagen zu ertragen, und der städtische Raum sehr viel schneller die Veränderungen für sich nutzen kann, weil die Infrastrukturen in den Städten besser sind. Man kann zum Beispiel auf individuelle Mobilität in einer Stadt sehr viel einfacher als auf dem Land verzichten.

Wie versöhnt man diejenigen, die an den Klimawandel einfach nicht glauben wollen und die so tun, als wäre das eine Glaubensfrage? Für mich aber ist das eine klassische Frage einer angesichts wissenschaftlicher Daten völlig klaren Evidenz. Aber da wir in einer Zeit leben, in der Fakten mit Emotionen konkurrieren, kann man immer versuchen, durch Emotionen eine Antifaktizität zu schaffen, die dann genauso wichtig ist. Das heißt also, wir müssen die Emotionen mit den Fakten versöhnen. Das ist vielleicht die größte gesellschaftliche Aufgabe. Um diese anzugehen, setzt zumindest voraus, dass man miteinander spricht. Die Unversöhnlichkeit und die Sprachlosigkeit, die zum Teil zwischen denen herrschen, die den Klimawandel leugnen, und denen, die ihn sehen und dafür kämpfen, dass wir ihn bewältigen, müssen überwunden werden.

Hier sprechen viele Menschen miteinander, die sonst selten miteinander sprechen, aber es sprechen nicht ausreichend viele Menschen miteinander. Wenn wir in eine Welt hineingehen, in der die Sprachlosigkeit vielleicht manchmal noch größer als im Kalten Krieg ist, als es ziemlich geordnete Austauschmechanismen gab, dann haben wir ein Problem. Deshalb plädiere ich dafür, dass man, wenn es auch noch so schwerfällt, sich austauscht – auch zwischen Gruppen mit den kontroversesten Meinungen –, weil man ansonsten nur in seinen Vorurteilen und seinen Blasen lebt. Das macht sich im digitalen Zeitalter ja noch viel besser als in früheren Zeitaltern. Das könnte zum Verhängnis werden; und das muss überwunden werden.

Ich bin überzeugt, dass der Preis des Nichthandelns sehr viel höher als der des Handelns wäre. Wir setzen auf Innovation, auf Forschung. Wir glauben, dass die Industrieländer dabei eine Bringschuld haben. Die G20-Mitgliedstaaten zum Beispiel erzeugen 80 Prozent der CO2-Emissionen. Das heißt, wir haben angesichts des Budgets an CO2, das wir schon aufgebraucht haben, eine technologische Verpflichtung dazu, auch innovative Wege zu gehen.

Nun habe ich mich gefreut, dass der „Bloomberg Innovation Index“ Deutschland zu meiner Überraschung, wie ich ganz offen sage, 2020 auf Platz eins gesetzt hat. Wir sind nicht so von der Sorte, dass wir den ganzen Tag darüber sprechen, was bei uns super läuft, denn meistens halten wir uns mit dem auf, was nicht so gut läuft. Da sind die Kulturen unterschiedlich. Aber wenn es um Bloomberg geht, dann können wir das ja ruhig einmal zitieren. Die gute Platzierung ist interessanterweise wesentlich darauf zurückführen, dass sich unsere Automobilindustrie, die ja ein Kernbereich der deutschen Wirtschaft ist, in einer Transformationsphase mit sehr hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung befindet. Ob wir schnell genug sind, wird sich zeigen. Die Risiken werden in dieser Studie auch gleich aufgezeigt.

Wir setzen so weit wie möglich auf marktwirtschaftliche Mechanismen, aber natürlich auch auf Ordnungsrecht, wenn notwendig. Unser größter und schwierigster Bereich der Transformation ist, wie es im Augenblick aussieht, die Mobilität. Der Umstieg auf eine CO2-freie Mobilität ist eine Riesenherausforderung. Wir wissen ja alle: Allein durch die Herstellung einer Batterie und eines E-Autos sinken die CO2-Emissionen noch nicht, wenn man nicht alle Komponenten für eine Batterie so herstellt, dass sie CO2-frei sind. Das heißt, es gibt hier noch riesige Aufwendungen.

Wir wollen den Weg der Transformation so gehen, dass wir auch selbst Innovationen bereitstellen. Es gibt zum Beispiel einen Aufschlag auf den Strompreis. Wir haben mit den höchsten Strompreis in Europa, weil wir die erneuerbaren Energien fördern und das auf den Strompreis umlegen. Pro Jahr geben die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands 30 Milliarden Euro dafür aus, diesen Strom zu subventionieren, weil er noch nicht marktfähig ist. Das hat aber dazu geführt, dass wir zumindest bei den Technologien in Sachen Wind- und Sonnenenergie ganz nahe an die Marktfähigkeit herangekommen sind und diese Technologien nunmehr auch in Entwicklungsländern verkaufen und anwenden können, weil sie nicht die Erfindungs- und Entwicklungskosten tragen müssen. Damit wird Ländern, die ärmer sind, die aber auch einen viel geringeren Fußabdruck in Bezug auf CO2-Emissionen hinterlassen haben, ermöglicht, schneller in die neue Zeit hineinzukommen. Deutschland gibt gegenüber 2014 nun doppelt so viel Geld aus – vier Milliarden Euro pro Jahr –, um in den internationalen Klimaschutz zu investieren.

Meine Damen und Herren, damit sind wir auch schon bei der Frage: Wie entwickelt sich das nun außerhalb Europas?

In Europa gibt es mehr oder weniger Wohlstandsvoraussetzungen. Es wird schwierig werden – ich habe darüber in Deutschland viel gesprochen –, die Menschen mitzunehmen und sozusagen keine retardierenden großen Gruppen zurückzulassen. Aber wenn wir uns manch andere Regionen der Welt anschauen, dann wissen wir, um wie viel schwieriger es ist, dort die Dinge voranzubringen, weil das dann auch oft etwas mit Krieg und Frieden und mit einer schwierigen wirtschaftlichen Situation zu tun hat und weil dort, wenn man sich Afrika oder auch Asien anschaut, zum großen Teil auch schon die Folgen von Klimawandel zu überwinden sind, bevor man überhaupt technologisch in die Lage versetzt wird, die richtigen Methoden anzuwenden.

Vielleicht ist es ja so, dass überall auf der Welt alle spüren, dass sich durch die Digitalisierung und die Herausforderungen der Nutzung unserer Ressourcen auf der Erde etwas dramatisch verändert – ob man es nun anerkennt oder nicht. Das hat in den letzten Jahren doch dazu geführt, dass sich mehr und mehr Länder mehr auf sich selbst konzentrieren und dass die Spannungen zwischen den verschiedenen Regionen der Welt ja nicht unbedingt kleiner geworden sind.

Deshalb ist Multipolarität natürlich eine schwierige Aufgabe, eben weil sich die Pole in einem Spannungsverhältnis befinden und weil sich die Stärken der Pole ja auch permanent ändern. Wenn wir uns einmal anschauen, wie das Bruttoinlandsprodukt von China vor 30 Jahren aussah, so war es deutlich geringer als das von Deutschland. 2007 hat China uns überholt; und heute ist China massiv stärker. Dieses Wachsen und Abnehmen der verschiedenen Pole verursachen natürlich Unsicherheit. Und daraus entstehen wieder Spannungen. Diese müssen wir mit bedenken und mit denen müssen wir uns herumschlagen.

Heute, fast genau zu dieser Stunde, finden in Israel in Yad Vashem die Feiern zum Gedenken an den Holocaust statt. Der deutsche Bundespräsident ist dort und wird für Deutschland noch einmal auf unsere Schuld, die wir über die Welt gebracht haben, hinweisen. Er wird aber auch versprechen, dass wir alles tun wollen, dass sich so etwas nicht wiederholt.

Wir blicken jetzt auf 75 Jahre friedliches Zusammenleben in Europa zurück. Aber nicht bei allen ist das so. Wir alle sind ja in den ersten Tagen dieses Jahres aufgeschreckt, als wir plötzlich die Spannungen im Iran und Irak gesehen haben. Wir haben uns Sorgen gemacht und gefragt: Wo wird das enden; wie kann man deeskalieren?

Deutschland gehört zu den Ländern, die sagen: Wenn wir unvollkommene Abkommen haben – das Nuklearabkommen mit dem Iran ist sicherlich ein unvollkommenes Abkommen –, dann lasst uns trotzdem das Unvollkommene nicht wegwerfen, bevor wir nicht etwas Besseres haben. Deshalb setzen wir uns dafür ein, das Nuklearabkommen zu erhalten. Aber wir haben jetzt auch den Streitschlichtungsmechanismus ausgelöst, weil der Iran natürlich nicht den Eindruck haben darf, dass er sich an nichts mehr halten muss. Das wäre die falsche Botschaft.

Wir haben erlebt, dass wir uns nicht von den Ereignissen der Welt abkoppeln können. Deutschland hat 2015 zusammen mit vielen anderen europäischen Ländern sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Ich habe immer wieder gesagt – ich glaube, auch an diesem Ort –: Wenn man nach dem Fehler fragt, dann war der Fehler mit Sicherheit nicht, Menschen aufzunehmen, die vor unseren Türen standen, sondern der Fehler war, im Vorhinein nicht darauf geachtet zu haben, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen in ihrer Heimat bleiben konnten. Wenn ein Land wie Syrien mit knapp über 20 Millionen Einwohnern eine Bevölkerung hat, die zur Hälfte geflüchtet ist – entweder als Binnenflüchtlinge oder ins Ausland –, wenn man sieht, dass die Türkei an die vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien beherbergt, dass der Libanon ganz wesentlich auch durch die Flüchtlinge instabil geworden ist und wie Jordanien darunter leidet, dann kann man nur sagen: Wir müssen immer wieder alles tun, um Friedensprozesse in Gang zu setzen, selbst wenn dies noch so schwierig ist.

Wir müssen schauen, dass sich das, was wir in Syrien sehen, in Libyen nicht wiederholt. Wir haben am letzten Wochenende einen Versuch gemacht – mehr ist es ja nicht –, für Libyen eine Lösung zu finden, bevor es einen ähnlichen Stellvertreterkrieg gibt, wie er auf den Schultern der syrischen Menschen lastet. Wir sehen in Bezug auf Libyen, dass die Länder in der angrenzenden Sahelzone, die zu den ärmsten Ländern dieser Welt zählen – in Mali und Niger leben Menschen, die, jedenfalls die allermeisten, gar nicht davon träumen können, jemals nach Davos zu kommen –, jetzt vom Terrorismus überrollt sind, weil Libyen ein instabiler Staat ist und viele Waffen von dort herkommen. Wir alle miteinander müssen schauen – Deutschland versucht, seinen Beitrag zu leisten; und er wird noch größer werden müssen –, dass diese Länder nicht völlig destabilisiert werden. Alle Entwicklungsanstrengungen und Entwicklungshilfen laufen Gefahr, nicht mehr wirken zu können, wenn ein Land wie Niger schon 30 Prozent seines gesamten Einkommens für seine Sicherheit ausgeben muss. – Wir in Deutschland reden gerade einmal von über zwei Prozent für die Verteidigungsausgaben. – 30 Prozent des Haushalts, der ohnehin sehr gering ist, werden ausgegeben; und es reicht immer noch nicht. Die Terroristen sind immer noch besser ausgerüstet.

Deshalb wünsche ich mir natürlich, dass diese Länder, wenn sie darum bitten, dass wir die Terrorismusbekämpfung genauso anlegen, wie wir es vor unserer Haustür gemacht haben, nämlich mit einer groß angelegten Koalition, dann auch von den Vereinten Nationen unterstützt werden und sie ein robustes Mandat bekommen. Sie sind ja bereit, für ihre Länder zu kämpfen. Aber wir haben bis jetzt noch nicht geschafft, ihnen auch die Unterstützung der Vereinten Nationen zukommen zu lassen.

Wenn wir uns anschauen, was Syrien für uns in Europa bedeutet hat, dann bedeutet das, dass wir uns noch viel mehr präventiv einsetzen müssen, um Gutes zu tun, um Flucht- und Migrationsbewegungen zu verhindern oder eine geordnete Migration hinzubekommen. Deshalb darf ich heute hier ankündigen, dass wir uns an internationalen Hilfsaktionen weiterhin beteiligen werden – auch an der Impfallianz Gavi. In der Zeit bis 2025 werden wir wieder 600 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um Krankheiten zu bekämpfen, um medizinische Systeme zu verbessern und damit auch Stabilität zu fördern. Gleichzeitig müssen wir natürlich auch Sicherheit garantieren. Denn ohne Sicherheit gibt es keine Entwicklung – und ohne Entwicklung gibt es mit Sicherheit auch keine Sicherheit.

Meine Damen und Herren, Deutschland ist Teil der Europäischen Union; wir werden – Herr Schwab hat darauf hingewiesen – im zweiten Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft innehaben. Die Europäische Union wird sich am 31. Januar substanziell verändern. Bis jetzt hat es immer Länder gegeben, die ihr beigetreten sind. Es gibt glücklicherweise auch noch ein paar Länder, die ihr beitreten wollen. Aber ein Land verlässt uns; und das ist Großbritannien. Das ist schwerwiegend, aber wir finden uns natürlich damit ab. Es ist der Wille der britischen Bevölkerung gewesen. Wir werden auch alles dafür tun, gute, intensive, freundschaftliche und nachbarschaftliche Beziehungen mit Großbritannien zu erhalten.

Europa muss – das entspricht auch dem Anspruch, den Ursula von der Leyen und die neue Kommission formuliert haben, eine geopolitische Kommission zu werden – sicherlich seine Stimme klarer erheben. Ich finde, die Aussage, der erste CO2-emissionsfreie Kontinent zu werden, ist auch eine gute Aussage für die Welt. Es ist genauso wichtig, mehr im Entwicklungsbereich zu tun und mehr zu den Friedenslösungen dieser Welt beizutragen.

Deutschland will während seiner Präsidentschaft seinen Beitrag dazu vor allem durch zwei Dinge leisten, die ich hier nennen möchte. Das ist einmal ein Gipfel mit den afrikanischen Staaten, den wir in Brüssel abhalten werden und auf dem wir vor allen Dingen auf Afrikas Agenda eingehen werden. Ich bin sehr froh, dass wir nicht mehr nur etwas für Afrika tun, sondern dass wir zunehmend etwas mit Afrika tun. Afrika hat sich eine Entwicklungsagenda gegeben. Afrika hat im vergangenen Sommer eine Freihandelszone gegründet. Im Übrigen hat der Kongress der Afrikanischen Union in Niamey, der Hauptstadt von Niger, stattgefunden, das das ärmste Land der Welt ist. Man hat sich entschieden, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu entwickeln. Das wird sicherlich noch eine Weile dauern, aber das ist eine mutige Entscheidung.

Wir sollten auf die Vorstellungen der Afrikaner eingehen, die sie für ihren Kontinent haben, und ihnen dabei helfen. Aber wir sollten nicht immer wieder unsere Vorstellungen von ihrer Entwicklung einbringen. Wir sollten endlich verstehen, dass das Miteinander mit Afrika nicht nur eine karitative Herangehensweise ist, sondern dass das etwas sein kann, das uns gegenseitig bereichert.

In Deutschland beträgt das Durchschnittsalter der Bevölkerung rund 45 Jahre, in Niger und Mali beträgt das Durchschnittsalter 15 bis 16 Jahre. Was bedeutet das, wenn es so einen großen Teil von Menschen gibt, die auf die Zukunft konzentriert sind? Wir in Deutschland haben uns daran gewöhnt, dass alles langsam gehen kann und immer noch ausreichend Zeit ist. In anderen Ländern bekommt man ein bisschen mehr Druck. Deshalb sage ich: Die Europäer können nur gewinnen, wenn sie sich etwas mehr mit Afrika und mit der Kreativität, der Motivation und der Freude am Leben dort unter viel schwierigeren Bedingungen befassen.

Wir werden als Zweites etwas machen, das sicherlich keine ganz einfache Sache ist. – Die Europäische Union verfolgt bislang keine einheitliche China-Politik. Jeder hat China über die Jahre als einen interessanten Handelspartner angesehen. Mittel- und osteuropäische Staaten haben sich irgendwann zusammengeschlossen und haben gesagt: Frankreich, Deutschland, die Großen treffen sich permanent mit China und machen ihre großen Geschäfte; jetzt wollen wir uns auch einmal zusammenschließen und uns auch permanent mit China treffen. – Wir wollen zum allerersten Mal einen EU-China-Gipfel mit allen 27 Mitgliedstaaten abhalten, der im September in Leipzig in Deutschland stattfinden wird. Dort wollen wir uns mit drei Themen beschäftigen. Wir arbeiten seit 2013 an einem Investitionsschutzabkommen. Ich kann nur hoffen, dass es uns gelingt, 2020 damit fertig zu werden. Es ist aber nicht sicher, ob wir das schaffen. Das setzt natürlich Flexibilität auf beiden Seiten voraus. Wir werden darüber sprechen, wie wir den Klimaschutz gemeinsam angehen können. Das ist eine Riesenchance für uns, weil China auch ein Emissionshandelssystem einführt, also marktwirtschaftliche Mechanismen. Wenn wir das europäische Emissionshandelssystem mit dem chinesischen verknüpfen könnten, hätten wir ein Riesenstück der Welt abgedeckt und könnten damit auch Vorbild sein. Wir wollen uns auch mit Drittstaatenbeziehungen beschäftigen. Dabei geht es auch zum Beispiel wieder um Afrika, weil China in Afrika sehr aktiv ist. Wir wollen aktiver sein und hoffen, dass wir dort vielleicht auch gemeinsame Maßstäbe finden, mit denen wir dann den betreffenden Ländern helfen, sich selbst zu entwickeln.

Wir werden uns natürlich auch mit vielen innereuropäischen Fragen befassen. Wir haben eine Digitalagenda. Ich habe gerade bei meiner Diskussion über die Biotechnologie im Zusammenhang mit der Digitalisierung wieder das gehört, was wir immer zu hören bekommen: Europa ist gut, was gerade auch den Umgang mit Daten anbelangt; aber Europa ist viel zu langsam. Diese Langsamkeit müssen wir überwinden, denn sonst werden wir kein geopolitischer Faktor werden; das wissen wir. Aber das ist mit 27 Mitgliedstaaten nicht ganz einfach, wenn es in jedem Land ein Parlament gibt, das ihm Aufgaben mit auf die Reise nach Brüssel gibt. Aber wir haben im Grunde keine Alternative; und deshalb wollen wir uns dabei einbringen.

Wir werden uns als Europäer – Deutschland ist ganz vorne mit dabei – natürlich für Multilateralismus und für multilaterale Organisationen einsetzen. Jeder kann zwar mit jedem Handelsabkommen abschließen; und das tut die Europäische Union auch. Hoffentlich gelingt uns das auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber insgesamt sehe ich die effizienteste Art und Weise, Wohlstand für die Welt zu erzeugen, immer noch in funktionierenden multilateralen Organisationen. Dazu gehört zum Beispiel die Welthandelsorganisation. Diese muss reformiert werden – da stimme ich dem amerikanischen Präsidenten zu –, aber sie muss wieder funktionsfähig gemacht werden. Dass wir im Augenblick keine tagenden Schiedsgerichte haben, ist im Grunde ein Ausdruck des Nichtfunktionierens.

Deshalb schließe ich mit dem Motto, das Sie hier in diesen Tagen bewegt: „Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World.“ Das sind wir alle. Das sind auch Staaten, das ist die Politik. Wir versuchen, diesen Auftrag ernst zu nehmen. Ich glaube, wir haben Chancen. Aber wir dürfen uns vor lauter Problemen nicht immer weiter jeweils auf uns selbst zurückziehen. Das wäre 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die völlig falsche Lehre. Nun weiß ich, dass allein das Wiederholen der immer gleichen Botschaften noch keine Überzeugungskraft verleiht. Aber es ist aus meiner Sicht eine lohnende Sache, sich dafür einzusetzen, auch wenn es manchmal schwierig ist. Ich weiß, dass unter Ihnen viele sind, die für das gleiche Ziel arbeiten.

Herzlichen Dank, dass ich Ihnen meine Gedanken darlegen durfte.

Die Rede als Video

 

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