Dokumentiert: Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Neujahrsempfang von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig am 13. Januar 2020 in Stralsund

Hier dokumentieren wir Angela Merkels Rede vom Montag, 13. Januar 2020 in Stralsund.

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Schwesig,
meine Damen und Herren,

ich kann natürlich nicht alle einzeln begrüßen – die Landesregierung, Frau Landtagspräsidentin, alle Abgeordnete hier, vom Bund über das Land bis in die Kommunen –, aber ich begrüße natürlich ganz herzlich Herrn Oberbürgermeister Badrow und damit auch alle, die in der Kommunalpolitik Verantwortung tragen. Liebe Gäste, ich habe ja verfolgt, wie sich auch Bürgerinnen und Bürger darum bewerben konnten, heute hier dabei zu sein. Es ist wunderbar, dass Sie hier sind.

Als ich gehört habe, dass Sie mit dem Empfang der Landesregierung nach Stralsund kommen, habe ich in meinen Terminplan geschaut und doch glatt eine Lücke gefunden. Zum Jahresbeginn gibt es so etwas. Jedenfalls habe ich mir gedacht, dass ich sehr gerne dabei sein möchte, um Ihnen allen auch meinerseits ein gesundes, ein kreatives, erfolgreiches Jahr zu wünschen – und uns allen vor allen Dingen auch ein friedliches Jahr.

Denn wenn man die ersten Tage dieses Jahres verfolgt hat, muss man leider sagen, dass in weiten Teilen der Welt ein friedliches Zusammenleben nicht das ist, was man dort erleben kann. Millionen, ja, Milliarden von Menschen müssen sich Sorgen machen. Wir in Deutschland und Europa hingegen leben schon seit über 70 Jahren – 75 Jahre in diesem Jahr – in Frieden. Frieden muss sicherlich auch im nächsten Jahrzehnt immer wieder erkämpft werden; dafür muss immer wieder gearbeitet werden. Und das tun wir ja auf den verschiedensten Ebenen.

Als Bundestagsabgeordnete dieses wunderschönen Wahlkreises, der sozusagen nicht nur den Landkreis von Landrat Kerth umspannt, sondern heute auch Teile des Nachbarlandkreises Greifswald, bin ich natürlich sehr stolz darauf, den Wahlkreis schon seit 30 Jahren – fast so lange, wie Mecklenburg-Vorpommern alt ist – zu vertreten und in diesem Wahlkreis mit der Stralsunder Altstadt auch eine UNESCO-Welterbestätte zu haben. Dieses Theater hier ist in der Tat auch ein Symbol für das, was hier stattfindet. Ich weiß noch – als ich 2012 mit den Mitgliedern des Ostseerates, mit den Ministerpräsidenten, hier war und wir sowohl ein Konzert im Theater besucht haben als auch die älteste Kneipe Europas oder Deutschlands und dann das Ozeaneum –, dass die Ministerpräsidenten der umliegenden Länder einfach nur schwer beeindruckt waren von dem, was hier geschaffen wurde. Frau Schwesig hat es auch gesagt: Dieses Theater steht für den Willen, nicht nur auf Straßen und Plätzen Leben zu haben, sondern auch ein reiches Kulturleben. Die Bürgerinnen und Bürger Stralsunds, aber auch die Landesregierung haben sich hierfür ja immer wieder eingesetzt. Und ich finde, es ist ein tolles Haus, in dem wir heute feiern können.

Wenn wir diese 30 Jahre Deutsche Einheit feierlich begehen – wir befinden uns jetzt ja zwischen den Jubiläen 30 Jahre Mauerfall und 30 Jahre Deutsche Einheit –, dann wandern unsere Blicke natürlich zurück – Frau Schwesig hat das dargestellt. Wenn wir älter sind – deutlich älter als 30 Jahre –, wissen wir und erinnern wir uns, dass es in der DDR ja doch ein gespaltenes Leben gab. Einerseits gab es ein privates Leben. Viele Westdeutsche können nur schwer verstehen, dass man da auch gelacht hat, sich gefreut hat, sich verliebt hat, dass man … –

(Heiterkeit und Beifall)

– Ja, es gibt viele, die das staatliche System und die Tatsache, dass auch darin privates Leben möglich war, schwer zusammenbekommen. – Aber jeder konnte andererseits auch sehr schnell spüren, dass private Freiheit Grenzen hat und dass der Staat doch massiv in die Freiheit eingegriffen hat.

Hier an der Ostsee ist auch daran zu erinnern, dass 189 Menschen bei dem Versuch, über die Ostsee diesem System zu entfliehen, ihr Leben verloren haben. Wir sollten und dürfen nicht vergessen, wie viele Menschen auch psychisch gebrochen wurden, wie viele bespitzelt wurden, verhört wurden, in Jugendwerkhöfen untergebracht waren. Auch das traurige Kapitel der Zwangsadoptionen und andere Dinge müssen immer wieder in den Blick genommen werden, da sie Lebensmöglichkeiten zerstört haben.

Ich glaube, dass es, wenn wir auf das neue Jahrzehnt schauen – immerhin sind wir in der Bundesrepublik Deutschland jetzt schon länger vereint, als wir durch die Mauer getrennt waren –, wichtig ist, unsere eigene Vergangenheit, unsere Lebenserfahrung mit einzubringen in die Debatte um Deutschlands Zukunft. Nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern müssen wir über die Zukunft diskutieren und fragen, wohin wir wollen, sondern wir alle in Deutschland erleben ja, dass die Welt nicht schläft. Wenn ich mir die rasanten Entwicklungen in China anschaue, wenn ich sehe, was für Pläne Indien hat, wenn man sich ganz Asien anschaut oder auch die Sehnsüchte der Afrikanerinnen und Afrikaner, dann sage ich: Wir müssen weiter arbeiten, wir müssen weiter neugierig sein und uns um die Zukunft kümmern.

Dass das gelingen kann, dafür ist auch die Stralsunder Werft ein großartiges Beispiel; trotz aller Schwierigkeiten für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder, wie man damals gesagt hat, Arbeiter auf der Werft. – Ich war Physiker; und als ich in die Bundesrepublik Deutschland eintrat, nach Bonn kam und sagte „Ich bin Physiker“, wurde nachgefragt: Was sind Sie; Sie sind doch Physikerin? Mir ging das aber schwer über die Lippen, heute geht es schon besser. – Also, weit über 8.000 Menschen waren früher auf der Volkswerft Stralsund beschäftigt. Heute sind wir froh, dass es wieder über 1.000 sein werden oder können und dass es wieder Aufträge gibt. Aber das Auf und Ab steht eigentlich auch stellvertretend für die nervliche Belastung, die so viele durchlebt haben. 30 Jahre lang immer wieder wahnsinniger Stress – ob es um Eigentumsfragen ging, ob es um Zukunftshoffnungen ging. Das macht vielleicht manchmal auch die Art der Diskussionen aus, die wir heute führen.

Aber wir haben ja auch vieles erreicht und geschafft. Wer heute hierherfährt, sieht das. A20, Stralsundumgehung, zweite Rügenanbindung, B96n – allein in dieser Region kann man so vieles aufzählen, das gelungen ist. Und daran, dass das Ozeaneum kurz nach seinem Bau gleich Museum des Jahres in Europa wurde, kann man sehen, dass wir hier wirklich nicht hinter irgendwelchen Wäldern wohnen, sondern mitten im Zentrum Europas.

Meine Damen und Herren, in der Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse gab es drei Jahrzehnte lang sehr viele Diskussionen um Ost und West. Wir spüren aber, dass es immer mehr darum gehen wird, ob wir gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland haben. Und für mich ist die eklatanteste Herausforderung diejenige, die die Unterschiede zwischen Ballungsgebieten und ländlichen Räumen betrifft. Daran werden wir sehr viel arbeiten müssen. Der Bund nimmt sich dieser Aufgabe ja auch an. Ich glaube aber, wir können Gleichwertigkeit sozusagen allein durch politische Maßnahmen nicht erreichen. Aber natürlich müssen wir etwas tun. Wir werden zum Beispiel die regionale Wirtschaftsförderung umstellen und auch die demografische Situation mit einbeziehen und fragen: Wer hat größere und wer hat geringere demografische Probleme?

Es geht gerade auch angesichts der Herausforderungen von Digitalisierung und Klimaschutz im Grunde um die Frage, ob wir uns zwischen Stadt und Land noch verstehen. In den Städten ist es natürlich sehr einfach, für die Windenergie zu sein. Auf dem Land kann einen das schon persönlich betreffen, wenn man so eine „sehr geliebte“ Windkraftanlage in der Nähe des eigenen Hauses oder der eigenen Wohnung hat. Deshalb unterstütze ich sehr, was die Ministerpräsidentin gesagt hat, nämlich dass wir auch daran arbeiten, dass Menschen, die diese Art von Herausforderung annehmen, die eben die Erzeugung von erneuerbaren Energien in ihrer Umgebung fördern, auch an den Gewinnen beteiligt werden. Das war früher geradezu selbstverständlich: Wer ein Atomkraftwerk in seiner Kommune bzw. in der Nähe hatte, dem ging es gut. – Ich wollte keine neuen Atomkraftwerke ankündigen, keine Sorge. Wir sind froh, dass wir das eine, das wir in der Region hatten, abgebaut haben. Darum geht es nicht, sondern es geht darum, dass wir die Menschen, die am Infrastrukturaufbau beteiligt oder davon betroffen sind – ob sie eine große Stromleitung vor das Haus gesetzt bekommen oder ob sie eine Windkraftanlage in der Nähe haben –, in gewisser Weise dafür entschädigen oder belohnen, dass sie diese Last für die Bevölkerung ganz Deutschlands auf sich nehmen.

Mich haben neulich im Berliner Naturkundemuseum junge Schüler, die wirklich auch gute und zukunftsweisende Gedanken zum Klimaschutz hatten, gefragt – ich habe das Landrat Kerth schon am Freitag erzählt –, mit wem auf der Welt sie denn eine Partnerschaft eingehen könnten. Dazu habe ich gesagt: Ich könnte euch eine Schulklasse in meinem Wahlkreis empfehlen; ihr braucht nicht unbedingt nach Afrika oder nach Asien zu fahren. Unterhaltet euch miteinander einfach einmal darüber, was die Herausforderungen in einem wunderbaren Gebiet wie Rügen oder Vorpommern sind, was eure Vorstellungen vom Leben sind und wie ihr euch miteinander austauschen könnt; denn ihr wollt ja zum Beispiel regionale Produkte essen, aber wenn es um die Genehmigung von Schweine- und Kuhställen geht, dann rümpft ihr schon die Nase, bevor ihr überhaupt welche gesehen habt. Diese und viele andere Dinge müssen wir in Zukunft zusammenbringen; davon bin ich zutiefst überzeugt. Darüber gilt es noch viele Diskussionen zu führen.

Ich möchte hier heute selbstverständlich nur ein kurzes Grußwort halten und deshalb als letzten Gedanken auch das ansprechen, was Frau Schwesig zum Schluss gesagt hat. Jeder Mensch hat ein einziges Leben; und in den Jahren 1989/90 sind viele, viele Menschen geradezu über sich hinausgewachsen. Wir waren eigentlich stumm, wir hatten in der ehemaligen DDR eigentlich gar keine gesellschaftliche Diskussion bis 1989. Und plötzlich kam es aus den Menschen heraus – sie waren mutig, sie hatten sich zu Wort gemeldet, es gab prägnanteste Plakate und Losungen. Manchmal frage ich mich: Wo ist das geblieben, was könnten oder sollten wir heute tun? Ich glaube, wir sollten an vielen Stellen unsere Sprache wiederfinden, aber in einer positiven und kreativen Art und immer mit Respekt davor, dass sich auch andere viele Gedanken machen und dass es unterschiedliche Meinungen gibt.

Ich komme ja aus einer Partei, die das „C“ im Namen hat. Deshalb sage ich einmal: Der Herrgott hat jeden Menschen anders geschaffen. Die, die nicht an Gott glauben, sagen das vielleicht mit anderen Worten, aber wir alle sind unterschiedlich; und eigentlich ist es schön, dass wir alle unterschiedlich sind. Aber die Unterschiedlichkeit macht natürlich auch die Schwierigkeit unseres Lebens aus. Wir stehen morgens ja nicht alle auf – das passiert ja nicht einmal in der Familie – und sagen: Jetzt haben wir den gleichen Plan für den Tag. So haben wir auch nicht alle die gleichen Pläne für unser Land. Aber jeder von uns hat eine gute Idee. Es kommt darauf an, darauf zu hören und sich nicht in Ecken zu verkriechen, in denen man möglichst Gleichgesinnte findet, die aber nie eine andere Meinung zulassen, und in denen man gar nicht den Ideenreichtum der Menschen in unserem Land mitbekommt; denn das wäre schade.

Deshalb ist mein Wunsch – neben Gesundheit, neben Kreativität, neben einem friedlichen Jahr 2020 –, dass wir 2020 zu einem Jahr des Zuhörens, des Hinhörens, des Sich-überraschen-lassens machen. Denn es ist so, dass auch andere etwas Schönes können, etwas Gutes denken, eine gute Idee haben.

In diesem Sinne freue ich mich, heute dabei zu sein, danke Ihnen und wünsche Ihnen allen alles Gute!

 

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