Gastbeitrag von Martin Lindner: Ein Gutachten zu „Avenidas“

Zur #Avenida Debatte habe ich als etwas eingerosteter (Ex-)Literaturwissenschaftler ein Gutachten in 31 Tweets verfasst. Wenn die KollegInnen das nicht hinbekommen. (Wieso eigentlich nicht?)

Nochmals der Text:

avenidas
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y
un admirador

eugen gomringe

Ein knapper Text, der gut erkennbar als „Gedicht“ formatiert ist. Erste Erwartung an eine Gedicht (in den 1950er wie 2010er Jahren): Es besteht aus ästhetischer Wahrnehmung und schöner – oder jedenfalls: besonderer – Sprache.

Spanische Straßen, Frauen, Blumen, bewundernder Mann: Der Text erfüllt grundsätzlich die Erwartung an Gedichtinhalte.

Mehr noch: Er wiederholt lyrische Basis-Topoi der trivial-bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, die 1953 (nicht aber im gleichen Maß 2017) immer noch präsent ist. Als Topos oder als Klischee? Das bleibt vorerst unentschieden.

[Topoi: Feurige spanische Frauen, der Blick des deutschen Malers auf „den Süden“, Kunstdrucke. Um 1953 präsent als heruntergekommene Goldschnitt-Lyrik-im-Wohnzimmer und als Blick des frühen Foto-Touristen auf „den Süden“, der die alten Maler-Klischees wiederholt.]

Der Text zitiert diese Topoi. Er ist sich und macht bewusst, dass es sie gibt und dass sie hier ins Spiel gebracht werden. Dieses Vorzeigen der Topoi gehört zum wesentlichen Inhalt.

Das Vorzeigen wird dadurch erreicht, dass der Text die klischeehafte bürgerliche Grund-Erwartung an ein Gedicht erfüllt, aber mit 2 Irritationen: Er ist extrem reduziert, er ist nicht gereimt und/oder „gereimt/musikalisch/klingend“, und besteht nur aus Hauptworten.

Das ist ein demonstrativer Bruch mit dem zitierten Lyrik-Topos des 19. Jahrhunderts. Wohlklang und Adjektive fehlen. Die Musik und das Malerische. Die Substantive sind die allgemeinst möglichen, wie aus einem Sprachlehrbuch. Es ist ostentativ nur Sprache, pure Sprache.

Diese Hauptworte sind aber eben doch „klingend“, denn sie sind Spanisch, und in deutschen Ohren ist das klingend/musikalisch. Und das Spanische ist semantisier: Es transportiert bereits „Süden“ und „Erotik“ und „Malerreise/Fotourlaub“.

Zugleich verfremdet die Fremdsprache ber den Inhalt. Man muss sich das ungelenk übersetzen, fließendes Spanisch gehört nicht zur Kompetenz der „impliziten Leser“. Er wird in eine Sprachlehrbuch-Position versetzt. Wiederum: Es sind die allgemeinsten Hauptworte.

Zum Inhalt: Auch die reduzierteste sprachliche Äußerung wird von LeserInnen zuerst versuchsweise ergänzt, ob sie den erwartbaren Sinn bildet. Unwillkürlich ergänzt man: [Es ist zu sehen:] Breite Straßen und Blumen. Blumen und Frauen. Breite Straßen und Frauen.

Am Ende: Alles drei zusammen, gesehen von einem männlichen Beobachter, der bewundert. Die Verfremdung wird also nach Irritation und Enträtseln aufgehoben: „Ah, ein Gedicht mit bürgerlichem Lyrik-Szenario, nur eben anders.“

Welche Welt entwirft und konstruiert der Text? Durch Filterung und/oder als fiktionale Setzung? Es ist eine Welt der Archetypen: Breite Straßen, Blumen, Frauen. Alles in der Mehrzahl, ohne Artikel. Nicht: „die Blumen“, sondern: „Blumen“.

Diese archetypische Sicht auf die Welt wird am Ende ausdrücklich einem männlichen Beobachter zugeordnet. Der ist doppelt präsent: Als „Bewundernder“ im Bild, als Schrift-stellender durch den Autornamen unter dem Text: „Eugen Gomringer“.

(Schreiben wir versuchsweise den Namen seiner Tochter unter den Text, die 2017 selbst als Dichterin bekannt ist: „Nora Gomringer“. Sofort verändert sich der Text. Jetzt wäre es plötzlich ein gutes Gedicht. So aber ist es Kitsch. Avantgarde, die altbürgerlichen Kitsch reflektiert und daraus modernistischen Kitsch macht.)

(Die Analyse der Perspektiven im Gedicht zwischen der Figur „Bewunderer“, dem Fluchtpunkt des Blickes, der Textinstanz und der Autorinstanz ist hier verkürzt und vereinfacht, aber am Ende ist es recht platt.)

Das Gedicht ist (aus der Sicht von 1953) „Avantgarde“: klein geschrieben, die Sprache bewusst vorgezeigt als gestellte Schrift, das Schriftbild selbst ist bedeutungstragend. „Avantgarde“ heißt: bürgerlich-antibürgerlich, das gewohnt Bürgerliche transzedierend.

Der Text sagt: „Hier ist das bürgerliche Klischee-Gedicht, reduziert auf die nacktesten Topoi. Wenn man alles andere weglässt, ist es immer noch ein Gedicht. Und es reinigt den ästhetischen Kern. Hier ist die Essenz.“

Der Text zieht KEINE Distanz ein zu dieser „lyrischen Essenz“. Er ist einverstanden mit dieser männlich-deutsch-bürgerlich-archetypisierenden Lyrik. Er wiederholt sie, nur „reiner“.

(Man kann noch ein bisschen weiter analysieren, wenn man das Sprachmaterial und die Wiederholungsstruktur mikroskopiert, aber am Ende bringt es nicht viel, scheint mir.)

Nun steht dieser Gedicht-Text aber 2017 auf einer Hausmauer (nicht in einer Literaturzeitschrift oder einem gedichtband). Der 1953-Kontext ist verschwunden. Was bleibt dann übrig? Und was kommt jetzt hinzu?

Dreierlei: Der „Avantgarde“-Effekt von 1953 ist stark verdünnt. Werbetexte aller Art haben das weggeschliffen und trivialisiert. Die Süden/Lyrik/Kunst-Kitsch-Ebene ist erstaunlich intakt. Und die Thematisierung von Geschlechterverhältnissen kommt in den Fokus.

1953 hat niemand gefragt: „Was ist das für ein männlicher Künstler-Blick?“ Das war völlig normal, auch unter „avantgardistischen“ deutschen Schriftstellern. Für Studierende 2017 ist es das erste, was auffällt. Damit haben sie recht.

Nicht recht haben sie mit dem stumpfen Löschreflex: „Hier ist ein Gedicht-Denkmal, das überlebensgroß den männlichen Künstler-Blick feiert. Also sofort aus dem Straßenbild tilgen, so wie man in den USA jetzt Standbilder des rassistischen Südstaaten-General Lee umstürzt.“

Das ist dumpfes, magisches Denken. „Sich verletzt fühlen“ ist an sich kein Kriterium, wenn es um Kultur und Kunst geht. [In Extremfällen mag das anders sein.] Auch wenn das Gedicht am Ende doch bürgerideologischer Kitsch ist.

Das Gedicht-Denkmal auf der Hauswand gehört zur Salomon-Hochschule. Am Ende ist es Sache der Hochschule und der Studierenden, was sie mit ihrem Wanddekor tun.

Ich an ihrer Stelle würde es übermalen: Es ist schlecht, weil es ein Klischeebild von „Gedicht“ vermittelt. Und wenn es einige Studierende aufregt (letztlich eine Geschmacksfrage): Warum nicht ein anderes Design wählen? Was mit Blumen vielleicht?

Übermalen an dieser Stelle ist nicht dasselbe wie: „zensieren“ oder „auslöschen“. Man soll diesen Text gerne überall abdrucken. Er ist nicht gut, aber jetzt, in der 2017 aufgeladenen Version, ist er Teil der lebendigen Kulturzeitgeschichte.

Diejenigen FeministInnen, die es als Teil ihres „Feminismus“ begreifen, aufgeregt die Entfernung zu verlangen, statt Kritik zu üben, die alle klüger macht, kann ich nicht erst nehmen.

Durch die öffentliche Diskussion ist etwas Neues daraus geworden, weniger ästhetisch als politisch. Was ist daraus geworden, wenn es dümmliche Rechte zum Symbol der „linksversifften Gender-Diktatur“ erheben? Was bringt die Übermalung? Welches Signal ist das?

Das Gedicht als Projektion auf dem Springer-Hochhaus, im Twitter-Feed von Jens Spahn und Nicola Beer, unzählige ideologisierende „Gedichte“ im Netz, die diese Form zitieren und variieren: Das ist natürlich eine hochinteressante und lehrreiche Kultur-Performance.

Die Literaturwissenschaft wurde von der SZ zu recht ins Spiel gebracht: Link. Leider hat der Kollege versagt. (Offenlegung: Ich bin habilitierter Doktor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und war bis 1999 Dozent und Forscher.)

Martin Lindner hat sich freundlicherweise damit einverstanden erklärt, dass ich seinen Thread hier zusammenhängend dokumentiere. Lindner ist Autor des Buchs „Die Bildung und das Netz“, zu dem Sie hier mehr Informationen finden. Hier können Sie ihm auch auf twitter folgen.

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