Liebes Politik-Tagebuch I: Das merkwürdige Verhalten regierungswilliger Politiker nach der Sondierungszeit

Ich werde jetzt in den nächsten Wochen – bis wir eine Regierung haben – ein Politik-Tagebuch schreiben. Das ist der erste Teil.

Liebes Tagebuch,

die Jamaika Sondierungen sind gescheitert. Und auch wenn Bundespräsident Steinmeier Neuwahlen verhindern will und die Parteien aufgefordert hat, noch einmal miteinander zu sprechen, wird es auf Neuwahlen hinauslaufen, da Merkel eine Minderheitsregierung ablehnt.

Aber wie stehen die Parteien jetzt da? Wie positionieren sie sich? Mit welchem tendenziellen Ergebnis ist nach dem Stand der Dinge zu rechnen?

Die CDU – haben wir schon immer so gemacht

Die CDU/CSU Fraktion hat die Ankündigung der Parteivorsitzenden, dass sie im Falle einer Neuwahl erneut als Kanzlerkandidatin antreten wird, mit tosendem Beifall begrüßt!
(Volker Kauder)

Einmal abgesehen davon, dass sich dieser Satz fast schon anhört wie aus dem Pilotbüro der DDR zeigt er das gesamte Dilemma der CDU/CSU

  • eine Alternative zu Angela Merkel hat die Union nicht
  • eine kritische Aufarbeitung der Wahlniederlage – und das war es mit einem 8,6%-Punkten Minus – wird es in der Union nicht geben
  • dass Merkel mit ihrem Mangel an Gestaltungskraft und Standpunkten das Scheitern der Jamaika Sondierung zu großen Teilen zu verantworten hat, wird ausgeblendet.

Es mag sogar sein, dass die geschäftsführende Kanzlerin und mit ihr die Unionsparteien kämpferischer und geschlossener in den wohl kommenden Wahlkampf ziehen werden, als bei der Wahl im September. Fraglich bleibt, ob und inwieweit sie damit aber die Wähler überzeugen kann, insbesondere, da sie einen Schwarz/Grünen Kurs fahren wird. Im Westen Deutschlands könnte dies gelingen, im Osten wird es für die Union nicht einfacher.

Prognose: Die CDU hält das Ergebnis mit kleinen Gewinnen oder Verlusten.

Dennoch halte ich das „Weiter So – ich habe nichts falsch gemacht“ der Kanzlerin für einen weiteren Fehler. Und dass die Union sie darin vorbehaltlos unterstützt gehört zu den großen Merkwürdigkeiten in diesen Tagen und lässt mich an der CDU zweifeln und ans Stockholm Syndrom denken.

Dass die Union derzeit keine Alternative zu Merkel hat, ist klar. Doch würde Sie Fehler eingestehen und sich als Merkel 3.0 (oder sind wir schon bei 4.0…?) neu erfinden wäre dies glaubwürdiger und wahltaktisch wohl auch besser.

Aber vielleicht überrascht sie uns noch.

CSU – erst mal Ruhe bewahren

Seehofer kann froh sein – die Rolle des Totengräbers von Jamaika fällt nicht ihm zu. Dass er einer der entscheidenden Gründe für das Scheitern der Sondierung ist, ist in der Breite der Bevölkerung nicht angekommen. Und so strickt besonders die CSU an der Dolchstoßlegende, Lindner habe ohne Not alles beendet. Weiteres Plus für Seehofer: Ein Königsmörder wird sich derzeit kaum aus der Deckung trauen. So bleibt hier alles beim Alten.

Ob der CSU Wähler dies goutieren wird? Wohl kaum. Es bleibt nach dem Stand der Dinge beim schlechten Ergebnis.

SPD – wer soll es machen?

Die SPD ist nicht zu beneiden. Für sie kommen Neuwahlen absolut ungelegen, hätte sie doch vier Jahre Opposition zur personellen und programmatischen Erneuerung gebraucht. Mindestens.

Jetzt hat sie auch noch den Malus, dass sie sich dem Vorwurf aussetzen muss, sich nach der Wahl der Verantwortung entzogen hat, zumindest mit der Union zu sprechen.

Hier wird ganz entscheidend sein, wer Kanzlerkandidat wird. Mit dem falschen sind deutlich weniger als 20% drin. Gelingt der Scholz-Effekt kann ein dickes Plus drin sein. Alles eine Frage des Timings, wie wir beim Schulz-Effekt gesehen haben.

FDP – die Deutungshoheit gewinnen

Die FDP ist nicht zu beneiden. Sie hat das einzig richtige getan und den Mut aufgebracht zu sagen, dass der Kaiser nackt ist, dass man ein totes Pferd nicht reiten kann, dass Jamaika ein Zombie ist… (gut, ich lass die Vergleiche jetzt).

Rückblickend gesehen hat Lindner aber den falschen Zeitraum gewählt und es vielleicht zu sehr inszeniert. Damit hat er es den anderen leicht gemacht, Legenden zu bilden, die FDP sei allein am Scheitern schuld.

Für die FDP ist es jetzt zunächst wichtig, die Deutungshoheit über das Ende der Sondierung zu gewinnen. Dies kann gelingen. Der Auftritt von Nicola Beer bei „Hart aber fair“ am 20. November war ein guter Anfang.

Gelingt dies der FDP hat sie gute Chancen, als einzige noch in der bürgerlich/liberalen Mitte stehende Partei ihr Ergebnis bei einer Neuwahl zu steigern.

Grüne – wofür stehen sie?

Die Grünen Spitze wollte mitregieren – bis zur Selbstaufgabe von Kernpositionen. Ob dies bei der Basis so gut ankam, werden die nächsten Tage zeigen. Jedenfalls wird es für die Parteiführung schwierig, sich von den Jamaika Kompromissen zurückzuziehen.

Hier wage ich zum jetzigen Zeitpunkt auch keine Prognose über das Abschneiden bei Neuwahlen.

AfD – nur nicht negativ auffallen

Die AfD hat aus ihrer Sicht eigentlich alles richtig gemacht: Sie ist nicht negativ aufgefallen und die großen Streitigkeiten oder Eklats im Bundestag sind bislang ausgeblieben. Und durch ihre kompromisslose Position in der Migrationsfrage und ihrem starken Ergebnis saß sie als Schatten am Verhandlungstisch der Jamaikaner.

Ihr Problem ist freilich ein anderes: mit der FDP gibt es jetzt einen Konkurrenten in der Flüchtlingsfrage, der zwar moderatere Standpunkte vertritt, aber eben auch nicht durch völkische Aussagen ala Höcke negativ auffällt. Als Protestpartei wird also bei einer Neuwahl weniger gebraucht.

Gleichwohl glaube ich, dass sie ihr Ergebnis bei leichten Verlusten halten kann. Im Westen wird sie verlieren, sich aber mehr und mehr im Osten als CDU Alternative etablieren können.

Die Linke – ach ja, die gibt es auch noch

Die Linke ist nach der Wahl nicht entscheidend in Erscheinung getreten. Und so wird es wegen der internen Streitigkeiten auch bleiben. Zudem sehe ich nicht, wo sie Akzente setzen könnte. Als ostdeutsche Regionalpartei positioniert sich die AfD.

Und so wird sie bei einer Neuwahl wohl leicht verlieren.

Und was bringen also Neuwahlen?

Bei der Neuwahl kommt es im wesentlichen darauf an, wie sich die SPD verkaufen kann. Schafft sie es mit einem überzeugenden Kandidaten das Ergebnis wieder in die Nähe von 25% oder darüber zu bringen, werden wir eine große Koalition bekommen. Schneidet sie schlechter ab, als im September muss sie wieder in die Opposition und wir haben wieder den Salat und führen wieder Diskussionen über Minderheitsregierungen und eigentümliche Regierungsbündnisse.

Ein zweiter Faktor ist die FDP. Geht Merkel mit einem Schwarz/Grünen Kurs in den Wahlkampf und verliert gegenüber September 17 und die FDP kann ihr Ergebnis mindestens halten, dürfte es das für die Kanzlerin endgültig gewesen sein.

Verliert die FDP hingegen und Merkel legt zu, ist sie gerettet.

tbc.

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