Rezension: Traumschrott

Was der Autor nicht wusste: Die, von der er dachte, sie wäre ich und würde brav am Gremientisch sitzen, das war gar nicht ich.

Ich hatte Sie 10 Minuten zuvor draußen vor dem Gebäude kennengelernt. Sie wollte ein Neurologie-Kolloquium in einem der Nebengebäude besuchen und während Sie sich ein paar Notizen in Ihrem Smartphone machte, sprach ich Sie einfach an. Wir kamen ins Plaudern, und Sie war offen von Ihrem Fachgebiet zu berichten. Neben der Neuroanatomie schwärmte Sie von der Neuropathologie, die die strukturellen Veränderungen des Nervensystems bei krankhaften Prozessen untersucht. Sie erzählte mir, dass Neuropathologie ein sehr spezielles, klinisch-theoretisches Fachgebiet sei und Verbindungen zu allen Bereichen die im wissenschaftlichen Diskurs der Neurologie auftauchen, besitzt. Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie könnten nicht ohne die Neuropathologie existieren. Sie lächelte, während Sie mir dies erzählte.

Ich spürte, dass Sie viel geheimes und wertvolles Wissen in sich verborgen hatte und es erschien mir, als würde Sie es nur allzu gern mit mir teilen wollen.

Bei Fortdauer unseres Gespräches fiel mir auf, dass Sie mir rein äußerlich sehr ähnlich sah. Sie hatte weiche Gesichtszüge, und ihre Haarfarbe und die Art, wie Sie die Haare trug, entsprachen nahezu völlig meinem persönlichen Stil. Sie machte mich neugierig, und ich lag auf der Lauer nach weiteren Gemeinsamkeiten.

Ich erfuhr von Ihr, dass es in Deutschland nur 98 zugelassene und praktizierende Neuropathologen gab und dass der Anteil der Frauen verschwindend gering sei.
„In letzter Zeit habe ich sehr oft darüber nachgedacht, wie groß der Einfluss von Emotionen und Motivation auf die Handlungen und die Kontrolle der Handlungen ist“, versuchte ich einen Anknüpfungspunkt an Ihre Erzählungen zu finden, um so auch etwas beitragen zu können. Sie lächelte geheimnisvoll. „Wollen wir von dir sprechen?“
„Nein, bloß nicht.“ Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Ich bin ein völlig langweiliges Forschungsobjekt.“

Sie nickte wissend, und ich wusste nicht, ob Ihre Reaktion mir schmeicheln sollte oder kritisch gemeint war.

„Du machst dir also Gedanken darüber, warum Menschen handeln, wie Sie handeln?“, führte Sie die einen Moment zum Stillstand gekommene, Plauderei weiter.

Nun nickte ich zustimmend und ergriff wiederum das Wort. „Und ich frage mich, warum du dieses spezielle Forschungsgebiet für dich gewählt hast. Was gibt es dir?“

Ihre folgenden Ausführungen waren für mich im Nachhinein schwierig zu erinnern, und ich habe lediglich die wichtigsten Äußerungen in Gedanken für mich zusammengefasst.
Im Anschluss an Ihren kleinen Vortrag entstand wiederum ein lebendiges Gespräch zwischen uns. Dies kreiste um die Themen Idealismus, Manipulation des Gehirns, Persönlichkeit und äußerer Einfluss, Kunst und Talent, das Leben und der Wunsch nach dem Tod, Sucht und Paranoia sowie die Vorstellungskraft des Menschen. Und natürlich die Liebe. In jedem einzelnen Satz war Ihre Leidenschaft für jedes einzelne Thema zu spüren. Niemals würde ich dieses Gespräch mit solcher Anmut wiedergeben können, wie Sie diese in jenen Momenten ausstrahlte.

Ich spürte, dass meine Gedanken, die mich nun zu einem Bündnis mit ihr drängten, einfach zunehmend mehr Sinn machten. Ich musste Sie einfach fragen.

In einer Pause zwischen Ihren Ausführungen über die Gefahr seinen Träumen zu schnell nachzugeben, bat ich sie um den Gefallen. Ich beugte mich zu ihr herunter – sie war ein wenig kleiner als ich – und flüsterte ihr ins Ohr, was mir keine Ruhe mehr ließ. Wie ein Pakt, ein Geheimnis, was niemand je lüften würde, so erschienen mir Ihre Nähe und meine Worte in diesem Moment.

Der Autor würde natürlich diese, unsere kleine Abmachung, nicht durchschauen, denn er hatte uns nicht beobachtet und würde nicht im Geringsten Verdacht schöpfen. Ich schaute mich zur Sicherheit nochmal mal um, während ich wieder ein Stück Abstand von ihr nahm und gebannt auf ihre Antwort wartete.

Ein Nicken.

Ich drückte Ihr meinen Schreibblock und meinen Kugelschreiber in die Hand. Auf einen kleinen separaten Zettel schrieb ich ihr meine Adresse. Diesen verstaute sie in ihrer Manteltasche und versprach mir ihre Aufzeichnungen heute Abend noch vorbeizubringen, da meine Wohnung auf ihrem Nachhauseweg liegen würde. Noch bevor ich nach Ihrer Handynummer fragen konnte, nahm Sie meine rechte Hand und schrieb auf die Innenfläche „NA 300-1“.

Das NA-Gebäude lag wirklich nicht weit entfernt. Auf dem Weg dorthin kamen mir mehrere junge Männer in weißen Kitteln entgegen, die mich alle sehr freundlich grüßten. Ein wenig irritiert erwiderte ich ihren Gruß.

Ich fühlte mich akzeptiert und hatte somit auch kein Problem im Raum 300-1 (die 1 stand für das erste Obergeschoss) zwischen all den Neurologen Platz zu nehmen.

Die folgenden vier Stunden waren in Bezug auf Spannung, kuriosem Wissen, ganz neuen Weltauffassungen und enorm lebendigen Vorträgen kaum zu überbieten.
Angefüllt mit den faszinierendsten Bildern und Erkenntnissen über die menschliche Psyche ging ich nach Hause. Ich schloss die Haustür auf, und mein erster Weg führte mich zum Briefkasten. Hastig öffnete ich diesen, griff aber ins Leere.

Kein Schreibblock, keine Aufzeichnungen.

In der folgenden Nacht hatte ich die kuriosesten Träume. Ein paar Mal wachte ich schweißgebadet auf und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und die Bilder in eine Struktur zu bringen und mit Sinn zu versehen – doch es gelang mir nicht.
Meine Träume drehten sich um böswillige Firmenchefs und raffgierige Arbeiter. Väter, ihre Schwiegersöhne und deren Frauen. Idealismus und das wahre Leben. Dann wiederum um die vermeintliche Liebe, die ein Mann zu seiner Hure entwickeln kann. Und die Hure, die in ihrer Rolle gefangen ist. Menschen, die in ihrer Sucht eine Chance sehen vor der Paranoia zu flüchten. Künstler die Ihr Selbst nicht ertragen können.

Eremiten und Sandbänke, Gleichnisse voller Schönheit und Wahrheit.

Als ich nach dem Klingeln meines Weckers auf dem Weg ins Bad war, ging ich durch die Küche und sah auf dem Küchentisch meinen Schreibblock und daneben meinen Kugelschreiber liegen. Der Block war aufgeklappt und auf der Mitte der Seite war in geschwungenen Majuskeln ein Teil eines französischen Gedichts notiert. Fasziniert las ich die Worte, die Sie für mich niedergeschrieben hatte:

„Traumschrott“

Nous userons notre âme en de subtils complots,
Et nous démolirons mainte lourde armature,
Avant de contempler la grande Créature
Dont l’infernal désir nous remplit de sanglots.

Rezension zu
Traumschrott: Kurzgeschichten von Christian Krumm.

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