Dokumentiert: Ansprache von Horst Köhler vor der Bundesversammlung nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten

Diese Worte richtete Horst Köhler nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 23. Mai 2004 an die Bundesversammlung.

Allen Mitgliedern der Bundesversammlung, die mich gewählt haben, danke ich für ihr Vertrauen. Und diejenigen, die mir ihre Stimme nicht gegeben haben, will ich durch meine Arbeit überzeugen. Ich möchte Bundespräsident aller Deutschen sein und ein Präsident für alle Menschen, die hier leben.
Aus gutem Grund ist das höchste Amt in einem demokratischen Staat niemandem in die Wiege gelegt. Für mich persönlich ist die Entscheidung der Bundesversammlung ein wirklich sehr bewegender Augenblick. Nach sechs Jahren im Ausland kehre ich mit einem Gefühl von Freude und Dankbarkeit in meine Heimat zurück. Deutschland hat mir viel gegeben. Davon möchte ich etwas zurückgeben. Ich liebe unser Land.
Wahrscheinlich erwarten jetzt alle von mir, dass ich von Reformen spreche. Tatsächlich halte ich eine grundlegende Erneuerung unseres Landes für notwendig und überfällig. Als gelernter Ökonom – das werde ich auch weiterhin nicht verstecken – kann ich Ihnen die Feststellung nicht ersparen, dass ich mir Sorgen um den Zustand der deutschen Wirtschaft, die Arbeitsplätze und die soziale Sicherheit in unserem Lande mache. Ich sehe neue, inakzeptable Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft.
Viele von Ihnen erwarten vermutlich auch, dass ich etwas zur Globalisierungsage. Globalisierung bestimmt mehr und mehr unser Leben. Sie bedarf – das ist meine feste Überzeugung, hierin stimme ich mit Johannes Rau überein – der politischen Gestaltung. Wenn wir es richtig anpacken, kann Deutschland aus der Globalisierung weiterhin großen Nutzen ziehen. Aber wir müssen auch besonders dafür arbeiten, dass die Globalisierung den Armen dieser Welt zugute kommt.
Dies wird nur gelingen, wenn sich die Industrieländer, also auch Deutschland, in ihrem Verhalten ändern und vor allem ihre Märkte für die Entwicklungsländer öffnen. Doch das heißt dann eben auch, dass wir Wettbewerb und Strukturwandel annehmen müssen. Herr Präsident, meine Damen und Herren, tatsächlich befindet sich die Welt in einem tiefen Umbruch. Wir müssen uns der Wirklichkeit stellen. Deutschland muss um seinen Platz in der Welt des 21. Jahrhunderts kämpfen.
Ich denke, wir alle werden deshalb auch mit meiner Mitbewerberin, Frau Professor Gesine Schwan, darin übereinstimmen, dass es gerade in Umbruchphasen auf Vertrauen als Sozialkapital ankommt. Und der Begriff Sozialkapital wird sowohl in der Politikwissenschaft als auch in der Wirtschaftswissenschaft benützt. Sehr zu Recht hat Bundespräsident Johannes Rau das Thema Vertrauen und Verantwortung in den Mittelpunkt seiner letzten Berliner Rede gestellt. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen, sehr verehrte Frau Schwan, für Ihr Engagement um das höchste Amt im Staate danken. Der Wettbewerb von uns beiden Seiteneinsteigern hat dem Land insgesamt sicher nicht geschadet.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ja, ich werde in meinem Amt zu mehr Entschlossenheit, Tatkraft und auch Stetigkeit bei wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen drängen. Doch ich hoffe, ich enttäusche heute niemanden, wenn ich eine ganz andere Frage voranstelle, nämlich: Was will Deutschland im 21. Jahrhundert sein, was kann es sein und wo will dieses Land hin?
Mit Recht betonen viele in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, vor allem Bildung und Innovation zu stärken. Deutschland ist mir zu langsam auf seinem Weg in die Wissensgesellschaft. Mein Traum geht aber noch weiter. Deutschland soll ein Land der Ideen werden. Im 21. Jahrhundert bedeutet das mehr als das Land der Dichter und Denker, mehr als Made in Germany, mehr als typisch deutsche Tugenden. Das ist ganz sicher etwas anderes als Großmannssucht und Selbstüberschätzung.
Deutschland – ein Land der Ideen: Das ist nach meiner Vorstellung Neugier und Experimentieren. Das ist in allen Lebensbereichen Mut, Kreativität und Lust auf Neues, ohne Altes und Alte auszugrenzen. Das sind neue Gründerjahre. Das ist die Kraft, auch mit Rückschlägen umzugehen und wieder neu anzufangen. Das sind Ideen auch für Europa. Deutschland – ein Land der Ideen: Das ist für mich zuerst und vor allem ein Land für Kinder.
Wie kommt es, dass wir in Deutschland immer weniger Kinder haben? Glauben wir nicht mehr an unsere Zukunft? Kinder bedeuten Neugier, Kreativität und Zuversicht. Kinder sind Brücken in die Welt von morgen. Wir müssen uns alle anstrengen, eine familien- und kinderfreundliche Gesellschaft zu werden.
Dazu brauchen wir konkrete Antworten auf bestimmte Fragen, zum Beispiel: Wie schaffen wir es, Elternarbeit anzuerkennen? Wie kann es gelingen, Familie und Beruf besser zu vereinbaren? Was sind uns Kinder wert? Wir müssen auf diese Fragen konkrete Antworten finden.
Aber genauso müssen wir auch eine konkrete Antwort auf die Frage finden, was uns ältere Menschen wert sind. Um die Zukunft zu gewinnen, brauchen wir auch deren Erfahrung und Weisheit. Wir müssen an der Freundschaft zwischen den Generationen schon jetzt arbeiten.
Deutschland muss sich verändern, das ist wahr. Aber wir sollten uns dabei auch unserer kulturellen und religiösen Wurzeln bewusst sein. Wie schaffen wir es, das abstrakte Wort „Werte“ aus Politikerreden in Alltagsgespräche und Alltagsverhalten zu bringen und so lebendig zu machen? Wie schaffen wir es, uns im größer werdenden Europa unserer nationalen Identität zu vergewissern – und zugleich eine europäische Identität zu gewinnen? Ich habe, meine Damen und Herren, übrigens die Erfahrung gemacht: Patriotismus und Weltoffenheit sind keine Gegensätze.
Sie bedingen einander. Nur wer sich selbst achtet, achtet auch andere. Herr Präsident, meine Damen und Herren, der heutige 55. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes ist ein guter Tag, uns wieder auf unsere Stärken zu besinnen. Deutschland hat die Kraft, sich zu verändern. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Diese Kraft liegt in den Menschen. Ihre Ideen sind der Reichtum unseres Landes. Damit sich diese Kraft entfalten kann, müssen wir Angst überwinden und Selbstvertrauen zurückgewinnen.
Wir können in Deutschland vieles möglich machen. Aber dazu müssen erst einmal wir uns selbst mehr zutrauen. Und: Wir müssen wieder mehr auf die Kraft der Freiheit vertrauen. Es war diese Kraft, mit der vor 15 Jahren die Menschen im Osten unseres Vaterlandes die scheinbar unüberwindliche Mauer zum Einsturz gebracht haben – einer der großartigsten Momente unserer Geschichte und auch eine stetige Verpflichtung für uns, die innere Einheit zu verwirklichen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Kraft der Freiheit stärken, darauf achten, dass es gerecht zugeht in Deutschland, und dazu beitragen, dass wir ein Land der Ideen werden – dafür will ich eintreten und dazu bitte ich um das Mitmachen aller.
Ich grüße alle Landsleute nah und fern, unsere Nachbarn in Europa und unsere Freunde in der Welt. Gott segne unser Land!
Vielen Dank.

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