Die Anfänge Roms

Dies ist Kapitel IV aus „Römische Geschichte“ von Theodor Mommsen.

Etwa drei deutsche Meilen von der Mündung des Tiberflusses stromaufwärts erheben sich an beiden Ufern desselben mäßige Hügel, höhere auf dem rechten, niedrigere auf dem linken; an den letzteren haftet seit mindestens dritthalbtausend Jahren der Name der Römer. Es läßt sich natürlich nicht angeben, wie und wann er aufgekommen ist; sicher ist nur, daß in der ältesten uns bekannten Namensform die Gaugenossen Ramner (Ramnes) heißen, nicht Romaner; und diese der älteren Sprachperiode geläufige, dem Lateinischen aber in früher Zeit abhanden gekommene Lautverschiebung ist ein redendes Zeugnis für das unvordenkliche Alter des Namens. Eine sichere Ableitung läßt sich nicht geben; möglich ist es, daß die Ramner die Stromleute sind. – Aber sie blieben nicht allein auf den Hügeln am Tiberufer. In der Gliederung der ältesten römischen Bürgerschaft hat sich eine Spur erhalten, daß dieselbe hervorgegangen ist aus der Verschmelzung dreier wahrscheinlich ehemals unabhängiger Gaue, der Ramner, Titier und Lucerer, zu einem einheitlichen Gemeinwesen, also aus einem Synökismus wie derjenige war, woraus in Attika Athen hervorging. Wie uralt diese Drittelung der Gemeinde ist, zeigt wohl [42] am deutlichsten, daß die Römer namentlich in staatsrechtlicher Beziehung für ›teilen‹ und ›Teil‹ regelmäßig sagen ›dritteln‹ (tribuere) und ›Drittel‹ (tribus) und dieser Ausdruck schon früh, wie unser Quartier, die ursprüngliche Zahlbedeutung einbüßt. Noch nach der Vereinigung besaß jede dieser drei ehemaligen Gemeinden und jetzigen Abteilungen ein Drittel der gemeinschaftlichen Feldmark und war in der Bürgerwehr wie im Rate der Alten gleichmäßig vertreten; wie denn auch im Sakralwesen die durch drei teilbare Mitgliederzahl fast aller ältesten Kollegien, der heiligen Jungfrauen, der Tänzer, der Ackerbrüder, der Wolfsgilde, der Vogelschauer wahrscheinlich auf diese Dreiteilung zurückgeht. Man hat mit diesen drei Elementen, in die die älteste römische Bürgerschaft zerfiel, den heillosesten Unfug getrieben; die unverständige Meinung, daß die römische Nation ein Mischvolk sei, knüpft hier an und bemüht sich in verschiedenartiger Weise die drei großen italischen Rassen als komponierende Elemente des ältesten Rom darzustellen und das Volk, das wie wenig andere seine Sprache, seinen Staat und seine Religion rein und volkstümlich entwickelt hat, in ein wüstes Gerölle etruskischer und sabinischer, hellenischer und leider sogar pelasgischer Trümmer zu verwandeln. Nach Beseitigung der teils widersinnigen, teils grundlosen Hypothesen läßt sich in wenige Worte zusammenfassen, was über die Nationalität der komponierenden Elemente des ältesten römischen Gemeinwesens gesagt werden kann. Daß die Ramner ein latinischer Stamm waren, kann nicht bezweifelt werden, da sie dem neuen römischen Gemeinwesen den Namen gaben, also auch die Nationalität der vereinigten Gemeinde wesentlich bestimmt haben werden. Über die Herkunft der Lucerer läßt sich nichts sagen, als daß nichts im Wege steht sie gleich den Ramnern dem latinischen Stamm zuzuweisen. Dagegen die zweite dieser Gemeinden wird einstimmig aus der Sabina abgeleitet und dies kann wenigstens zurückgehen auf eine in der titischen Brüderschaft bewahrte Überlieferung, wonach dieses Priesterkollegium bei dem Eintritt der Titier in die Gesamtgemeinde zur Bewahrung des sabinischen Sonderrituals gestiftet worden wäre. Es mag also in einer sehr fernen Zeit, als der latinische und der sabellische Stamm sich noch in Sprache und Sitte bei weitem weniger scharf gegenüber standen als später der Römer und der Samnite, eine sabellische Gemeinde in einen latinischen Gauverband eingetreten sein – wahrscheinlich, da die Titier in der älteren und glaubwürdigen Überlieferung ohne Ausnahme den Platz vor den Ramnern behaupten, in der Art, daß die eindringenden Titier den älteren Ramnern den Synökismus aufnötigten. Eine Mischung verschiedener Nationalitäten hat hier also allerdings stattgefunden; aber schwerlich hat sie viel tiefer eingegriffen als zum Beispiel die einige Jahrhunderte später erfolgte Übersiedlung des sabinischen Attus Clauzus oder Appius Claudius und seiner Genossen und Klienten nach Rom. So wenig wie diese Aufnahme der Claudier unter die Römer berechtigt die ältere der Titier unter die Ramner, die Gemeinde darum den Mischvölkern beizuzählen. Mit Ausnahme vielleicht einzelner im Ritual fortgepflanzter nationaler Institutionen lassen auch sabellische Elemente in Rom sich nirgends nachweisen und namentlich gibt die latinische Sprache für eine solche Annahme schlechterdings keinen Anhalt. Es wäre in der Tat mehr als auffallend, wenn die Einfügung einer einzelnen Gemeinde von einem dem latinischen nächstverwandten Stamm die latinische Nationalität auch nur in fühlbarer Weise getrübt hätte; wobei vor allem nicht vergessen werden darf, daß in der Zeit, wo die Titier neben den Ramnern sich ansässig machten, die latinische Nationalität auf Latium ruhte und nicht auf Rom. Das neue dreiteilige römische Gemeinwesen war, trotz etwaiger ursprünglich sabellischer Bestandteile, nichts als was die Gemeinde der Ramner gewesen war, ein Teil der latinischen Nation.  Lange bevor eine städtische Ansiedlung an der Tiber entstand, mögen jene Ramner, Titier, Lucerer erst vereinzelt, später vereinigt auf den römischen Hügeln ihre Burg gehabt und von den umliegenden Dörfern aus ihre Äcker bestellt haben. Eine Überlieferung aus diesen urältesten Zeiten mag das ›Wolfsfest‹ sein, das das Geschlecht der Quinctier am palatinischen Hügel beging: ein Bauern- und Hirtenfest, das wie kein anderes die schlichten Späße patriarchalischer Einfalt bewahrt und merkwürdig genug noch im christlichen Rom sich unter allen heidnischen Festen am längsten behauptet hat. – Aus diesen Ansiedlungen ging dann das spätere Rom hervor. Von einer eigentlichen Stadtgründung, wie die Sage sie annimmt, kann natürlich in keinem Fall die Rede sein: Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden. Wohl aber verdient es eine ernstliche Erwägung, auf welchem Wege Rom so früh zu einer hervorragenden politischen Stellung innerhalb Latiums gelangt sein kann, während man nach den Bodenverhältnissen eher das Gegenteil erwarten sollte. Die Stätte, auf der Rom liegt, ist minder gesund und minder fruchtbar als die der meisten alten Latinerstädte. Der Weinstock und der Feigenbaum gedeihen in Roms nächster Umgebung nicht wohl und es mangelt an ausgiebigen Quellen – denn weder der sonst treffliche Born der Camenen vor dem capenischen Tor noch der später im Tullianum gefaßte capitolinische Brunnen sind wasserreich. Dazu kommt das häufige Austreten des Flusses, der bei sehr geringem Gefäll die in der Regenzeit reichlich zuströmenden Bergwasser nicht schnell genug dem Meere zuzuführen vermag und daher die zwischen den Hügeln sich öffnenden Täler und Niederungen überstaut und versumpft. Für den Ansiedler ist die Örtlichkeit nichts weniger als lockend, und schon in alter Zeit ist es ausgesprochen worden, daß auf diesen ungesunden und unfruchtbaren Fleck innerhalb eines gesegneten Landstrichs sich nicht die erste naturgemäße Ansiedlung der einwandernden Bauern gelenkt haben könne, sondern daß die Not oder vielmehr irgend ein besonderer Grund die Anlage dieser Stadt veranlaßt haben müsse. Schon die Legende hat diese Seltsamkeit empfunden; das Geschichtchen von der Anlage Roms durch Ausgetretene von Alba unter Führung der albanischen Fürstensöhne Romulus und Remus ist nichts als ein naiver Versuch der ältesten Quasihistorie die seltsame Entstehung des Orts an so ungünstiger Stätte zu erklären und zugleich den Ursprung Roms an die allgemeine Metropole Latiums anzuknüpfen. Von solchen Märchen, die Geschichte sein wollen und nichts sind als nicht gerade geistreiche Autoschediasmen,[45] wird die Geschichte vor allen Dingen sich frei zu machen haben; vielleicht ist es ihr aber auch vergönnt noch einen Schritt weiter zu tun und nach Erwägung der besonderen Lokalverhältnisse nicht über die Entstehung des Ortes, aber über die Veranlassung seines raschen und auffallenden Gedeihens und seiner Sonderstellung in Latium eine positive Vermutung aufzustellen. – Betrachten wir vor allem die ältesten Grenzen des römischen Gebietes. Gegen Osten liegen die Städte Antemnae, Fidenae, Caenina, Gabii in nächster Nähe, zum Teil keine deutsche Meile von dem servianischen Mauerring entfernt und muß die Gaugrenze hart vor den Stadttoren gewesen sein. Gegen Süden trifft man in einem Abstand von drei deutschen Meilen auf die mächtigen Gemeinden Tusculum und Alba und es scheint das römische Stadtgebiet hier nicht weiter gereicht zu haben als bis zum cluilischen Graben, eine deutsche Meile von Rom. Ebenso war in südwestlicher Richtung die Grenze zwischen Rom und Lavinium bereits am sechsten Milienstein. Während so landeinwärts der römische Gau überall in die möglichst engen Schranken zurückgewiesen ist, erstreckt er sich dagegen seit ältester Zeit ungehindert an beiden Ufern der Tiber gegen das Meer hin, ohne daß zwischen Rom und der Küste irgend eine als alter Gaumittelpunkt hervortretende Ortschaft, irgend eine Spur alter Gaugrenze begegnete. Die Sage, die für alles einen Ursprung weiß, weiß freilich auch zu berichten, daß die römischen Besitzungen am rechten Tiberufer, die ›sieben Weiler‹ (septem pagi) und die wichtigen Salinen an der Mündung durch König Romulus den Veientern entrissen worden sind und daß König Ancus am rechten Tiberufer den Brückenkopf, den Janusberg (Ianiculum) befestigt, am linken den römischen Peiräeus, die Hafenstadt an der ›Mündung‹ (Ostia) angelegt habe. Aber dafür, daß die Besitzungen am etruskischen Ufer vielmehr schon zu der ältesten römischen Mark gehört haben müssen, legt besseres Zeugnis ab der eben hier, am vierten Milienstein der späteren Hafenstraße belegene Hain der schaffenden Göttin (dea dia), der uralte Hochsitz des römischen Ackerbaufestes und der Ackerbrüderschaft; und in der Tat ist seit unvordenklicher Zeit das Geschlecht der Romilier, wohl einst das vornehmste unter allen römischen, eben hier angesessen, das Ianiculum ein Teil der Stadt selbst, Ostia Bürgerkolonie, das heißt Vorstadt gewesen. Es kann das nicht Zufall sein. Die Tiber ist Latiums natürliche Handelsstraße, ihre Mündung an dem hafenarmen Strande der notwendige Ankerplatz der Seefahrer. Die Tiber ist ferner seit uralter Zeit die Grenzwehr des latinischen [46] Stammes gegen die nördlichen Nachbarn. Zum Entrepôt für den latinischen Fluß- und Seehandel und zur maritimen Grenzfestung Latiums eignete kein Platz sich besser als Rom, das die Vorteile einer festen Lage und der unmittelbaren Nachbarschaft des Flusses vereinigte, das über beide Ufer des Flusses bis zur Mündung gebot, das dem die Tiber oder den Anio herabkommenden Flußschiffer ebenso bequem gelegen war wie bei der damaligen mäßigen Größe der Fahrzeuge dem Seefahrer, und das gegen Seeräuber größeren Schutz gewährte als die unmittelbar an der Küste gelegenen Orte. Daß Rom wenn nicht seine Entstehung, doch seine Bedeutung diesen kommerziellen und strategischen Verhältnissen verdankt, davon begegnen denn auch weiter zahlreiche Spuren, die von ganz anderem Gewicht sind als die Angaben historisierter Novelletten. Daher rühren die uralten Beziehungen zu Caere, das für Etrurien war was für Latium Rom und denn auch dessen nächster Nachbar und Handelsfreund wurde; daher die ungemeine Bedeutung der Tiberbrücke und des Brückenbaues überhaupt in dem römischen Gemeinwesen; daher die Galeere als städtisches Wappen. Daher der uralte römische Hafenzoll, dem von Haus aus nur unterlag, was zum Feilbieten (promercale), nicht was zu eigenem Bedarf des Verladers (usuarium) in dem Hafen von Ostia einging und der also recht eigentlich eine Auflage auf den Handel war. Daher, um vorzugreifen, das verhältnismäßig frühe Vorkommen des gemünzten Geldes, der Handelsverträge mit überseeischen Staaten in Rom. In diesem Sinn mag denn Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt, mehr eine geschaffene als eine gewordene Stadt und unter den latinischen eher die jüngste als die älteste sein. Ohne Zweifel war die Landschaft schon einigermaßen bebaut und das albanische Gebirge sowie manche andere Höhe der Campagna mit Burgen besetzt, als das latinische Grenzemporium an der Tiber entstand. Ob ein Beschluß der latinischen Eidgenossenschaft, ob der geniale Blick eines verschollenen Stadtgründers oder die natürliche Entwicklung der Verkehrsverhätnisse die Stadt Rom ins Leben gerufen hat, darüber ist uns nicht einmal eine Mutmaßung gestattet. Wohl aber knüpft sich an diese Wahrnehmung über Roms Emporienstellung in Latium eine andere Beobachtung an. Wo uns die Geschichte zu dämmern beginnt, steht Rom dem latinischen Gemeindebund als einheitlich geschlossene Stadt gegenüber. Die latinische Sitte in offenen Dörfern zu wohnen und die gemeinschaftliche Burg nur zu Festen und Versammlungen oder im Notfall zu benutzen, ist höchst wahrscheinlich im römischen Gau weit früher beschränkt [47] worden als irgendwo sonst in Latium. Nicht als ob der Römer seinen Bauerhof selbst zu bestellen oder ihn als sein rechtes Heim zu betrachten aufgehört hätte; aber schon die böse Luft der Campagna mußte es mit sich bringen, daß er soweit es anging auf den luftigeren und gesunderen Stadthügeln seine Wohnung nahm; und neben dem Bauer muß eine zahlreiche nicht ackerbauende Bevölkerung von Fremden und Einheimischen dort seit uralter Zeit ansässig gewesen sein. Die dichte Bevölkerung des altrömischen Gebietes, das höchstens zu 51/2 Quadratmeilen zum Teil sumpfigen und sandigen Bodens angeschlagen werden kann und schon nach der ältesten Stadtverfassung eine Bürgerwehr von 3300 freien Männern stellte, also mindestens 10000 freie Einwohner zählte, erklärt sich auf diese Art einigermaßen. Aber noch mehr. Wer die Römer und ihre Geschichte kennt, der weiß es, daß das Eigentümliche ihrer öffentlichen und Privattätigkeit auf ihrem städtischen und kaufmännischen Wesen ruht und daß ihr Gegensatz gegen die übrigen Latiner und überhaupt die Italiker vor allem der Gegensatz ist des Bürgers gegen den Bauer. Zwar ist Rom keine Kaufstadt wie Korinth oder Karthago; denn Latium ist eine wesentlich ackerbauende Landschaft und Rom zunächst und vor allem eine latinische Stadt gewesen und geblieben. Aber was Rom auszeichnet vor der Menge der übrigen latinischen Städte, muß allerdings zurückgeführt werden auf seine Handelsstellung und auf den dadurch bedingten Geist seiner Bürgerschaft. Wenn Rom das Emporium der latinischen Landschaften war, so ist es begreiflich, daß hier neben und über der latinischen Feldwirtschaft sich ein städtisches Leben kräftig und rasch entwickelte und damit der Grund zu seiner Sonderstellung gelegt ward. Die Verfolgung dieser merkantilen und strategischen Entwickelung der Stadt Rom ist bei weitem wichtiger und ausführbarer als das unfruchtbare Geschäft unbedeutende und wenig verschiedene Gemeinden der Urzeit chemisch zu analysieren. Jene städtische Entwickelung können wir noch einigermaßen erkennen in den Überlieferungen über die allmählich entstandenen Umwallungen und Verschanzungen Roms, deren Anlage mit der Entwickelung des römischen Gemeinwesens zu städtischer Bedeutung notwendig Hand in Hand gegangen sein muß.

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