Meinung: Zur Verfassungsmäßigkeit der Masernimpfpflicht

Über einen Thread auf twitter ergab sich eine Diskussion zur kommenden Impfpflicht bei Masern, in deren Rahmen auch die Verfassungsmäßigkeit diskutiert und teilweise verneint wurde. Hier daher ein paar Worte zur Rechtslage bei Impfpflichten im allgemeinen und der Masernimpfpflicht im Besonderen.

Ist eine Impfpflicht grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar?

Zunächst stellt sich die Frage, ob ein Impfzwang grundsätzlich überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Zwar stellt jede Impfung einen Eingriff in grundgesetzlich garantierte körperliche Unversehrtheit dar, doch steht sie unter den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG. Das Bundesverwaltungsgericht stellt in dem Zusammenhang bei einer Entscheidung rund um die Pockenimpfung treffend fest, dass der Wesensgehalt des Grundrechts nicht durch einen Eingriff angetastet werden kann, „dessen Zielsetzung gerade die Erhaltung der Unversehrtheit ist.“ (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14.07.1959, Az.: BVerwG I C 170.56).

Dies sah übrigens schon der Parlamentarische Rat so, der den damals bestehenden reichsgesetzlichen Impfzwang gegen die Pocken als Beispiel für einen zulässigen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit hervorhob. Die Abgeordneten Eberhard, Süsterhenn und Nadig machten zudem in der 32. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 11.01.1949 klar, dass sich dies nicht nur auf die Pocken, sondern auch auf alle anderen Krankheiten beziehen müsse. Der bisweilen und im angesprochenen Thread geäußerte Vorwurf, ein Impfzwang sei schon mit dem Geise des Grundgesetzes nicht vereinbar, ist also falsch, um nicht zu sagen absurd.

Das Bundesverfassungsgericht bleibt dieser Linie auch in der jüngeren Rechtsprechung treu und macht deutlich, dass es bei der Frage nach der Impfpflicht auch nicht nur um Individualrechte geht:

„Der Staat verlangt dem Impfpflichtigen ein Sonderopfer ab, nämlich die Duldung eines nicht ganz risikofreien Eingriffs, der die Gesundheit gefährden kann. Die Maßnahme soll nicht allein den Geimpften persönlich schützen, sondern darüber hinaus die Krankheit, die durch Ansteckung verbreitet wird, im Interesse der Allgemeinheit eindämmen. Die gesamte Bevölkerung ist mithin Nutznießer der individuellen Impfung.“ (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2010- 1 BvR 1541/09).

In diesem Zusammenhang sollte man sich bei der Diskussion um die Impfpflicht vergegenwärtigen, dass Art. 2. Abs. 2 ja nicht nur die eigene, sondern die körperliche Unversehrtheit jedes Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes schützt, woraus eine nicht unerhebliche Meinung sogar die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers zur Einführung eines Impfzwangs sieht. Dass sich diese möglicherweise auch noch aus Art 20 Abs. 1 GG und aus dem Gedanken des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG ergibt, soll hier nur am Rande erwähnt werden.

Es ist praktisch einhellige Meinung in Rechtsprechung, Forschung und Lehre, dass eine Impflicht verfassungsrechtlich zulässig, wenn nicht ggf. sogar geboten ist.

Konkret – die Masernimpfpflicht

Doch wie sieht es konkret mit der Impfpflicht gegen die Masern aus?

Diese, genauer das zugrundeliegende Gesetz, muss verhältnismäßig sein, was der Fall ist, wenn ein legitimer Zweck mit einem legitimen Mittel verfolgt wird und das gewählte Mittel geeignet, erforderlich und angemessen zur Zweckerreichung ist.

Der Zweck ist der Gesundheitsschutz der Bevölkerung, insbesondere der von Personengruppen, die selbst nicht geimpft werden können und auf den Herdenschutz angewiesen sind, also Säuglinge oder Personen mit Erkrankungen. die eine Impfung ausschließen. Der Gesundheitsschutz ist ein hohes Gut, das Verfassungsrang genießt. Ein legitimer Zweck ist also zu bejahen.

Dass eine Impfpflicht grundsätzlich auch ein legitimes Mittel ist, haben wir ja schon mit der einhelligen Meinung festgestellt.

Auch kein Zweifel besteht, dass das gewählte Mittel dazu geeignet ist, den Zweck zu erreichen, denn der Gesetzgeber hat „vor allem im Gesundheitswesen bei der Festlegung und Ausgestaltung sozialpolitischer Ziele einen weiten Gestaltungsspielraum“ (ständige Rechtsprechung des BVerfG, siehe z.B. Beschluss des Zweiten Senats vom 13. September 2005– 2 BvF 2/03). Insbesondere muss das gewählte Mittel nicht optimal sein, sondern nur der Zweckerreichung im weitesten Sinne dienlich sein.

Diskutieren könnte man allenfalls bei der Erforderlichkeit. Denn kommt es in Deutschland derzeit nicht nur zu wenigen Masern-Erkrankungen? Und gibt es nicht schon bei der Erstimpfung gegen Masern eine hohe Quote von rund 95%? Dann könnte man sagen, dass die Beibehaltung der geltenden Rechtslage ein milderes und gleich effektives Mittel sei. Der Deutsche Ethikrat führt zur aktuellen Diskussion aus, die Masern seien „geradezu ein Musterbeispiel einer Infektionskrankheit…, deren Eradikation im globalen Maßstab möglich wäre. Trotzdem „gelingt schon ihre Elimination in verschiedenen Weltregionen … bislang nicht dauerhaft. Auch in Deutschland ist das Ziel, die Masern zu eliminieren, bisher verfehlt worden. Ursachen dafür, dass die Elimination der Masern bisher in Deutschland nicht gelungen ist, sind zum einen die nicht ausreichende Quote bei den Zweitimpfungen sowie die insgesamt zu spät erfolgenden Erst- und Zweitimpfungen im Kindesalter.“ Da diese Quote durch eine Impfplicht erhöht werden kann, ist die Pflichtimpfung auch erforderlich.

Auch ist eine Schutzimpfung grundsätzlich ein angemessenes Mittel – sie ist nicht mit Kosten für den einzelnen verbunden und es gibt hinreichend Ausnahmeregelungen für Fälle, bei denen die Impfung aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist. Das Risiko von Komplikationen ist überschaubar, für den unwahrscheinlichen Fall von dauerhaften Schäden sieht § 60 IfSG kompensatorische Ansprüche vor.

Fazit

Eine Masernimpfpflicht ist mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn es nicht sogar die Einführung dieser bedingt.

Dagegen spricht auch nicht, dass die Masern aktuell – gerade auch dank der aktuell schon hohen Impfquote – in Deutschland derzeit nur eine vergleichsbare geringe Gefahr darstellen. Die Impfpflicht stellt sicher, dass es bei dieser hohen Quote bleibt und sich die Quote insbesondere bei der wichtigen Zweitimpfung verbessert. Ziel ist und muss es sein, die Masern in Gänze auszurotten, wie es bei den Pocken schon gelungen ist,

Zudem wird die Bildung von ungeimpften Gruppen – wie sie in manchen Milieus inzwischen beobachtet werden kann – wirksam verhindert.

Karikatur: Impfzwang

Das Thema Impfzwang bzw. Impfpflicht beherrscht nicht nur 2019 (Masern) sowie 2021 (Corona) die Menschen und Medien, sondern auch schon 1874, wie diese Karikatur aus dem Kladderadatsch vom 22. März 1874 zeigt. Hintergrund ist das Impfgesetz von 1874, bei dem es um die Pockenimpfung ging.

Hier können Sie übrigens nachlesen, ob und inwieweit eine Impfplicht in Sachen Masern und Corona verfassungsgemäß ist.

Meinung: Statt Impfpflicht – selber zahlen im Krankheitsfall

Angesichts der gehäuft auftretenden Fälle von Erkrankungen an Masern in Berlin wird nun wieder einmal über eine Impfpflicht diskutiert. Meiner Meinung nach gibt es für diese sehr gute Gründe. Fraglich bleibt, ob sie angesichts der derzeitig vorherrschenden Hysterie in gewissen Kreisen zunächst politisch und letztlich praktisch umsetzbar wäre.

Andere wie die Bonner Bundestagsabgeordnete Katja Dörner schlagen stattdessen Beratungsgespräche vor. Hier ist aber fraglich, ob der harte Kern der Impfgegner damit überhaupt erreicht werden kann.

Wirksamer könnte sein, den Besuch von Schule und Kindergarten von einem umfassenden bestehenden Impfschutz abhängig zu machen und Ausnahmen nur in begründeten Ausnahmefällen zuzulassen. Grundsätzlich eine wirksame Methode, doch erfasst man damit nicht geimpfte Erwachsene nicht.

Bliebe folgendes: ein Beratungsgespräch über die Impfung ist verpflichtend, auch für nicht geimpfte Erwachsene. Wer sich nach diesem Beratungsgespräch gegen eine Impfung entscheidet, muss im Falle einer spezifischen Erkrankung seiner Krankenhasse dann die Behandlungskosten ersetzen.

Noch weitergehend denkbar: Es wird gehaftet, sobald durch einen nicht geimpften Menschen ein Virus übertragen wird, wobei eine Beweislastumkehr gilt, um die Verfahren zu vereinfachen.

Die Impfraten würden aber schon in der abgeschwächten Variante deutlich ansteigen.