Der alljährliche Wahnsinn – Gastbeitrag von Dutchhamptoner

schulformempfehlung

So, ich schreibe mit einem riesigen Stressulcus im Magen, der mir schon den Spaß am Essen klaut. Seit Freitag ist es amtlich: das Familienunwort des Jahres lautet „eingeschränkte Gymnasialempfehlung“!

Plopp, da steht es nun! Die Vorverurteilung einer Neunjährigen. Das war’s… Ende aus Micky Maus, gefolgt von Hätte, Hätte, Fahrradkette. Das wäre alles nicht so dramatisch und fatal, würde man nicht, mit dem Ergebnis, in unserem Stadtteil damit die Daseinsberechtigung verlieren. „Ach Gott, ihr Armen“ oder „Mist, das ist aber auch gemein.“ Die besten Kommentare sind aber: „Zum Glück haben wir ja nie Schwierigkeiten mit unseren Kleinen.“ Danke, hast mir sehr geholfen.

Letztendlich stelle ich mir heute an Tag drei die Frage, ob ich nicht edukativ genug war. Mist, habe keinen Privatlehrer arrangiert wie manche andere in meinem Veedel. Mandarin, Ballett, Aquarellmalerei etc, alles nicht angeboten. Also habe ich auf ganzer Länge verkackt. Somit hat nicht mein Töchterchen die Reife nicht bekommen sondern ich. Liegt da der Fehler? Sicherlich!!!! Wir projizieren unsere eigenen Unzulänglichkeiten auf die lieben Kleinen. Davon bin ich überzeugt und nicht nur ich. Das Dilemma fing im Frühjahr 2012 an weil unsere Kleine, im Gegensatz zu den anderen Kindern, gar nicht in die Schule wollte. Beim Schularzt half kein bitten und betteln, eingezogen heißt eingezogen an die Schulfront. Ergebnis, sie war grad erst sechs Jahre alt und fand sich wieder in der Leistungsgesellschaft.

Bei ihrer Mutter erkannte man damals schon früh:“Näää, loss dat Kink nu jät spille unn bring se mit sivve Joar inne Scholl!“ Problem erkannt, Problem gebannt! 33 Jahre später andere Situation. Das Mädel hatte noch ein anderes Problem, stand bei der Einschulung auf dem Schulhof und kannte keine Sau weil sie in einem entlegenen Kindergarten war. So brauchte sie auch viel länger um Vertrauen zu fassen und Freunde zu finden.

Ich fand dazu einen sehr interessanten Spiegel Artikel aus dem hervorgeht, dass zu früh eingeschulte Kinder weniger Chancen auf eine Gymnasialempfehlung haben. Warum? Ganz klar, manche Klassenkameraden sind ein Dreiviertel Jahr älter…..das ist in dem Alter eine ganze Latte! Quasi so: ein Vierzigjähriger sucht sich Freunde im Altenheim. Das funktioniert nicht. Wissen Wissenschaftler, Psychologen oder pfiffige Leute mit gesundem Menschenverstand. Warum holt man unsere Kinder nicht dort ab wo sie stehen? Einerseits essen wir alle Health Food, Quinoa, Soulfood und bloß wenig Kohlenhydrate, andererseits schmeißen wir unsere Kleinen dem System zum Fraß vor. Weil wir keine andere Wahl haben!!!

Früher gingen wir zur Schule und unsere Eltern hatten damit nur vier Berührungspunkte:
2x Elternsprechtag plus 2x Zeugnisse

Heute: Nacharbeiten, Nachhilfe, Elternsprechtag, Elternstammtisch, Familienwandertag mit der Klasse etc etc etc und somit stelle ich mir noch oft die Frage, was überhaupt noch ohne uns Eltern stattfindet?! Ach ja, die Klassenfahrt. Da blättern wir spontan mal 500,-€ hin und es handelt sich nicht einmal um die Abschlussfahrt. Muss das sein? Die Antwort lautet leider ja, denn ich gehöre noch zu den Dödeln, die sich nicht entgegenstellen und ganz laut:“Nö, mit mir nicht!“ brüllen.

Zurück, wir warten jetzt, Bauchschmerzen, auf das Gespräch am Gymnasium! Zeigen ein Zeugnis mit vier Dreien, einer Eins und Rest Zweier und fragen uns warum das passieren konnte;-)

Gastbeitrag von Dutchhamptoner.

Und wenn ihr euch fragt wo die Dutchhamptons sind…..viel Spaß beim Knobeln.

Auflösung folgt irgendwann.

 

Meinung: Zu G8 (und wider den Gymnasialwahn)

Dieser Beitrag stammt aus dem Jahr 2013 – ist aber auch 2020 noch in vielen Punkten aktuell, auch wenn G8 in vielen Bundesländern inzwischen wieder abgeschafft wurde.

Jedes Jahr, wenn die Sextaner und deren Eltern die ersten zwei bis drei Monate Erfahrungen mit dem Gymnasium gemacht haben, verbreitet sich neuerdings auf twitter und facebook ein Brief von Henning Sußebach an seine Tochter, der bereits 2011 in der Zeit veröffentlicht wurde. Er versucht ihr darin zu erklären, warum sie kaum noch Freizeit hat, sondern intensivst für die Schule lernen muss.

Unbestritten sind durch die Änderungen, die die Verkürzung der Gymnasialzeit auf 8 Jahre mit sich brachte, die Anforderungen an die Schüler gerade in den unteren Jahrgängen deutlich gestiegen, was bei vielen zu Lasten der Freizeit geht. Ja, das ist schade.

Das grundlegende Problem ist jedoch, dass in vielen Regionen das Gymnasium schon fast zur „Gesamtschule“ verkommen ist. Das mag man nun auf den ersten Blick für begrüßenswert halten, da so doch mehr Kindern der Zugang zum Studium eröffnet wird. Ja, das ist schön – doch mit fatalen Folgen. Ich habe mich in letzter Zeit mit einigen Hochschullehrern aus NRW unterhalten, die durch die Bank der Einschätzung waren, dass ein größerer Prozentsatz der G9 Erstsemester den Anforderungen eines Hochschulstudiums erst gar nicht gewachsen ist. Konnte früher durch anspruchsvolle Klausuren „ausgesiebt“ werden, so sei inzwischen politisch gewollt „jeden durchzubringen“, so der Direktor eines Instituts. „Dabei sollten viele besser eine ordentliche Lehre machen.“

Hier kommt ein weiteres grundlegendes Problem dazu: in bestimmten Milieus gehört es inzwischen „zum guten Ton“, dass der eigene Nachwuchs Abitur machen muss, koste es was es wolle – nicht nur Geld, sondern eben auch Freizeit. „Realschule? Gott bewahre!“. Dabei hätte die Realschule ein ganz andere Wahrnehmung verdient – sie ist immer noch eine Schule, die für spätere Berufe wie Krankenschwester, Bankkaufmann, Handwerksmeister oder Steuerberaterin qualifizieren soll. Dass sie das in der Praxis teilweise nicht mehr leisten kann, liegt wiederum im Gymnasialwahn der Eltern begründet.

G8 kann mithin ein Mittel sein, diese Fehler im System zu korrigieren und für Gymnasien zu sorgen, die diesen Namen auch wirklich verdienen, wodurch auch gleichzeitig andere Schulformen wie Realschule und Gesamtschule gestärkt werden. In Bayern sind zu G9 Zeiten rund 20 Prozent der Gymnasiasten nicht zum Abitur gelangt, jetzt sind es laut Sußebach 32%. Für viele von ihnen wäre es besser gewesen, gleich auf die passende Schule zu kommen.

Nicht bestreiten möchte ich, dass die derzeitige Art und Weise der G8 Umsetzung nicht immer optimal ist und die Komprimierung auch nachteilige Folgen haben kann. Oft verkommt Lernen zu reinem „Büffeln“ ohne echten Erkenntnisgewinn, wodurch sich Senecas oft verdrehtes Schulzitat bestätigt. Dass es aber trotz G8 auch anders geht, beweisen jeden Tag viele engagierte Lehrer und Schulen – und gerade diesen und ihren Schülern würde ich gerne mehr Zeit am Gymnasium gönnen.

Letztlich ist daher ein Umbau des Schulsystems auf lange Sicht unumgänglich. Mit starken Gymnasien, die auf eine anspruchsvolle und erfolgreiche Hochschulausbildung vorbereiten. Dazu Realschulen, die diesen Namen verdienen und anerkannt sind. Vielleicht auch Gesamtschulen, an denen ein „kleines Abitur“ für ein Studium an einer Fachhochschule qualifiziert- ich möchte hier keinen Systemstreit führen. Wenn dann dieser Umbau abgeschlossen ist und ein Umdenken stattgefunden hat, ist auch wieder mehr Zeit am Gymnasium. Bis es soweit ist, bleibt vorerst (leider) nur G8.

Es gäbe noch viel zu schreiben, doch ich muss jetzt meiner Tochter den Ablativ erklären. Sie verstehen.