Offener Brief: Liebe Netzgemeinde, Ihr seid betriebsblind. Ein Beitrag zur Neuland Debatte.

Liebe Netzgemeinde,

die Neuland-Diskussion hat wieder einmal schön gezeigt, dass Ihr betriebsblind und selbstgefällig seid und von der Welt da draußen wenig Ahnung habt. Ihr Digital Natives geriert Euch als die einzigen Netz-Versteher und macht Euch über „die Anderen“ lustig.

Doch das Internet und die Digitalisierung sind schon lange in Deutschlands Alltag angekommen – nur anders als Ihr denkt und wollt.

Sicher, einige sind nach wie vor nicht online. Doch die sind entweder zu jung, zu alt, haben vielleicht Angst vor Barcodes oder nehmen auch so kein Buch in die Hand und schauen stattdessen lieber den ganzen Tag RTL2.

Doch die anderen nutzen online Banking, buchen Ihre Reisen auf Preisvergleichsportalen, lesen Nachrichten im Web, bestellen bei Zalando und Amazon, schließen Ihre Stromverträge papierlos ab, schauen sich Videos auf Youtube an und sind bei facebook und halten dort Kontakt zu ihren Freunden in aller Welt.

Sitze ich im morgens im Zug sehe ich nicht wie noch vor wenigen Jahren Zeitungs- und Bücherleser. Nein, fast alle Mitfahrer sind in ihre Smartphones, Tablets, Notebooks oder Kindles vertieft. Diese Menschen benutzen das Netz und die neuen Medien ganz einfach, so wie Sie es für sie sinnvoll ist und wie sie wollen. twitter, google+, app.net brauchen und möchten sie einfach nicht, Whatsapp, Angry Birds und facebook reichen ihnen aus. Von facebook sind viele inzwischen schon genervt und wandern ab – aber nicht zu Google + wie Ihr, sondern ganz weg von den „sozialen Medien“. Viele Jugendliche fangen damit inzwischen erst gar nicht mehr an.

Oder gerade das Thema twitter – für mich ist es als Informationsmedium nicht mehr wegzudenken und hin und wieder bin ich dort auch aktiv. Aber wisst Ihr, wie viele Menschen ihre ersten Gehversuche auf twitter entnervt abgebrochen haben, da sie von Euch nicht „aufgenommen“ wurden? Ein des deutschen mächtiger Brite meinte zu mir, er hätte noch kein Land erlebt, in dem die die twitter Gemeinde so abweisend zu Neulingen wäre, wie in Deutschland. Kein Wunder, dass hierzulande nur 6% der Internetnutzer auf twitter sind. Ihr macht Euch lustig über neue User, die die Regeln dort noch nicht direkt verstanden haben? Aber ist Euch eigentlich klar, wie lächerlich Ihr auf manche aus der Distanz mit Euren Flauschs, Hachs und Selbstgesprächen mit Euren Zweitaccounts wirkt?

Wenn Ihr vom digitalen Graben sprecht, ist es der großen Mehrheit ganz egal, weil sie gar nicht auf die andere Seite des Grabens will. Das Netz ist für sie nämlich anders als für Euch nicht Selbstzweck, sondern ganz einfach Mittel zum Zweck. So manches Forum über die Zucht von Kleinkanichen und belgischen Riesenrammlern hat mehr Traffic als 24 von Euren gehypten Social-Media-Internet-Apple-SEO-Medien-Experten-Blogs zusammen.

Mit der gleichen Berechtigung, mit der Ihr vom digitalen Graben sprecht, können Menschen, die sich mit gesunder Ernährung gut auskennen vom Ernährungs-Graben sprechen, Autobastler über den Tuning-Graben in der Gesellschaft klagen und Experten für Medizinethik bedauern, wie wenig Gedanken sich die Menschen über das Klonen machen.

Versteht mich nicht falsch, Netzpolitik ist wichtig. Aber muss deswegen jeder ein Experte für Acta, Prism, Netzneutralität, Urheberrecht und das Bundesdatenschutzgesetz sein? Ist doch super, wenn Ihr das macht. Denn das ist fast so gut und wichtig, wie wenn sich andere Menschen gegen die Patentierung von Saatgut engagieren, für den Erhalt von Streuobstwiesen einsetzen oder in der freiwilligen Feuerwehr aktiv sind.

Und in einer Sache könnt Ihr Euch auch sicher sein – sobald die Netzpolitik den eigenen Geldbeutel betrifft, interessieren sich die Deutschen dafür. Ansatzweise hat man das bei der „Drosselkom“-Debatte gesehen. Wie sagte schon mein alter Geschichtslehrer: „In Deutschland gibt es nur Revolution, wenn man unzulässigerweise die Bierpreise erhöht.“ Inzwischen würde er wohl die Breitbandkosten ergänzen.

Ihr habt Euch eine Parallelwelt mit Euren MacBooks, iPhones, google+, Instagram, tumblrs und Amen geschaffen und so oftmals den Blick auf das verloren, was wirklich zählt.

Die Digitalisierung der Gesellschaft wird immer weitergehen. Doch wie die Gesellschaft das aufnimmt, entscheidet immer noch sie. Und nicht Ihr allein.

Geht lieber einfach offen auf die Menschen in Neuland zu, macht Euch nicht über sie lustig und akzeptiert, dass sie andere Erwartungen an das Netz stellen als Ihr.

Nichts für ungut,

severin

Diesen Text habe ich 2013 als Beitrag zur Debatte rund um Angela Merkels Satz „Das Internet ist für uns alle Neuland“  geschrieben – und er hat in den Jahren gar nicht so viel Aktualität verloren. Und daher hat er auch eine neue, mit Midjourney generierte Illustration bekommen.

5 Antworten auf „Offener Brief: Liebe Netzgemeinde, Ihr seid betriebsblind. Ein Beitrag zur Neuland Debatte.“

  1. Absolut! Mit den sozialen Kompetenzen im Netz ist es nicht überall gut bestellt. Nur zu oft vergessen die Digital Natives auch, dass sie das Netz bilden und nicht die Technik darunter. Also ein Layer-8-Phänomen, um es im Netzjargon auszudrücken.

  2. Tja… ich habe mich aus der Neuland Debatte rausgehalten, weil ich a) sofort verstanden habe was sie meinte und b) weil ich dachte, dass es eben nur ein Scherz der User ist, wenn sie über #Neuland spotten.

    Das Thema ist tatsächlich immer noch Neuland (weil nicht in Grenzen gefaßt). Wir haben immer noch keine durchgreifenden Datenschutz bei google, Facebook, Apple und Co, weil sich alles so schnell entwickelt hat, dass die Politik gar nicht mehr mitkommt. Das gleiche gilt für das Thema NSA. Wir alle profitieren von facebook (oder glauben es zumindest) wenn die User in den arabischen Ländern die unzensierte Freiheit nutzen um alte Systeme zu stürzen. Also müssen wir es SO FREI laufen lassen. Wir alle profitieren von den Daten die die NSA sammelt… also müssen wir es SO laufen lassen. Du bist als Entscheider permanent gefangen zwischen der Frage: Wieviel profitieren wir davon – wenn wir das „Unrecht“ zulassen. Und könnten wir es überhaupt verhindern? Würde facebook sich anpassen oder Europa verlassen? Würde die NSA aufhören wenn wir das wollen? Oder macht die NSA weiter und versorgt uns nicht mehr mit Infos? Es ist ein schwieriges und in dieser schnellen, sich permanent veränderten Form, nie dagewesenes Thema. Und ich finde dafür kommt die Politik sogar noch einigermaßen gut damit klar. Denn rechtlich gesehen müssten Sie das ganze „Internet-Ding“ eigentlich sofort abschalten.

    Wenn Profi-User nun „ernsthaft“ über das Wort #Neuland diskutieren wollen, dann müssten sie erst mal gaaanz viele Schritte zurück gehen und sich einen Überblick verschaffen worum es geht. Dazu fehlt ihnen aber die Kompetenz und/oder die Lust. Das hats du richtig erfasst.

    Den Vergleich mit dem Kaninchenzüchterverein finde ich Klasse. Er stimmt zu 100%. Wenn sich jeder der gerne Hasen streichelt, Kanninchen ißt oder Kleintiere mag – als Kaninchen-Profi bezeichnen würde und einen Blog startet… dann hätten diese 10.000den neuen Kaninchen Blogs das gleiche Niveau wie die Blogs vieler Internet-Profis und Netzaktivisten.

  3. Das sich Leute von Facebook abwenden und Junge gar nicht erst damit anfangen ist ein Gerücht. Bzw. da hat mal ein Journi die FB Daten falsch interpretiert und weil das einfach gut tönt, wird es immer wieder kolportiert.

    Parallelwelt? Du kannst es nennen wie Du willst, es ist eine Realität und sie wird nicht neuländischer sondern immer realer.

    Twitter ist in den Ländern weit verbreitet wo auch Blackberry gut verbreitet ist. Beide haben ähnliche Konzepte der Kommunikation.

  4. Ein Plädoyer für mehr Toleranz. Im Grunde hervorragend, doch wenn Neulandäußerungen von einer Frau kommen, die ein riesen Stab an Fachleuten hinter sich weiß, dann denke ich zuerst an einen schlechten Scherz am falschen Ort und zur falschen Zeit. Von Frau Merkel erwarte ich in Bezug auf die Spionage der USA, dass sie klare, deutliche Worte in Richtung Obama sendet, anstatt das Dummerchen zu spielen.

  5. Danke. Musste mal einer sagen. Ich hab dieses Neuland-Geschrei auch nicht verstanden. Ich bin seit 15 Jahren im Netz zu Hause. Trotzdem ist es für mich Neuland. Jeden Tag. Im Gegensatz zum Autor glaube ich an eine noch weiter wachsende Bedeutung von Google + und facebook. In einem immer mehr nervenden teil der Netzgemeinde wäre es jetzt normal ihn deshalb als ahnungslos zu beschimpfen- man hat ja, trotz Hartz 4 ein MacBook fürs WLAN-Café und deshalb die Welt voll verstanden. Ja ich habe eine eigene Meinung. Aber wirklich wissen wo die Reise im Netz hingeht – wer das behauptet ist nicht ernst zu nehmen.

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